In dieser Folge des Weltzeit-Podcasts berichtet Sarhan Dhouib, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hildesheim über seine Forschungen zur Geschichte der Philosophie in der islamischen Welt. Sie speist sich wie die europäische aus der griechischen Philosophie und entwickelte sich vor allem im 8. bis 12. Jahrhundert.
Einer der bekanntesten Vertreter ist Avicenna, der auch im historischen Roman "Der Medicus" auftaucht. Dhouib hatte 2019 mehrere arabischsprachige Philosophinnen zu einer Ringvorlesung nach Hildesheim eingeladen - darunter auch Soumaya Mestiri und Elizabeth Suzanne Kassab.
Arabische Philosophinnen
Das historische Beirut: Bisher hätten Männer den philosophischen Kurs im Libanon bestimmt, sagt Philosophin Elizabeth Suzanne Kassab . Das ändere sich aber langsam. © ullstein bild via Getty Images / ullstein bild Dtl.
Über Feminismus und Schmerz
26:33 Minuten
Frauen sind in der arabischsprachigen Philosophie unterrepräsentiert. Aber sie stoßen neue Debatten an, wie die Dekolonisierung des Feminismus westlichen Vorbilds. Andere ertüchtigen Studierende in Katar zum freien Denken. Aber es gibt Grenzen.
„Dekolonialisiert den Feminismus“ - das ist die Forderung der tunesischen Philosophin Soumaya Mestiri, die sie auch als Buch veröffentlicht hat. Die 46-Jährige ist Professorin für Politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Université de Tunis.
“Es gibt keine Lebensweise, die man als universell bezeichnen könnte. Das entspricht, um ein typisch dekoloniales Vokabular zu verwenden, einer gewissen imperialen Vision. Es ist daher westlich zentriert.”
Soumaya meint: Feminismus müsse regional gedacht werden, ohne den Blick der ehemaligen Kolonialstaaten, ohne Anpassung an den sogenannten Westen. Von diesen Denkmustern müssten sich die Menschen zum Beispiel in Tunesien erst einmal befreien und sich fragen: Was bedeutet für Tunesierinnen feministisch, gleichberechtigt zu sein?
"Dekolonisieren heißt, endlich anerkennen, dass es einen feministischen Ansatz gibt, den wir Mainstream nennen könnten. Was zeichnet diesen Ansatz aus? Die Feministinnen, die diese Mainstream-Strömung verteidigen, haben den Ehrgeiz, bestimmte Werte, eine bestimmte Art zu sein, eine bestimmte Vorstellung vom guten Leben zu importieren, sogar anderen Frauen aufzuzwingen, die ihrer Meinung nach nicht wissen, was gut für sie ist.”
Kopftuch bei Putzkraft OK, aber nicht bei Beamtin?
Soumaya Mestirir mischt sich mit ihren Thesen regelmäßig auch in europäische Debatten ein. Zum Beispiel zum Verbot von Burkinis an französischen Stränden. Sie fragt: Wieso ärgern über Burkini-tragende Frauen an Stränden oder Beamtinnen mit Kopftuch - aber nicht über die Reinigungskraft, die auch ein Kopftuch trägt? Soumaya kritisiert, bei der Feminismus-Debatte mit Blick auf ihre Heimatregion würden die Frauen ihrer Region bevormundet oder nicht ernst genommen.
Dass diese weiblichen Denkanstöße gerade aus Tunesien kommen, ist vermutlich kein Zufall. In dem Land haben Frauen traditionell mehr Rechte als ihre Geschlechtsgenossinnen in der Region. In Tunesien sind Frauen seit den 50er-Jahren per Verfassung gleichberechtigt. Sie dürfen legal abtreiben. Die Polygamie ist abgeschafft. Auch die neue Verfassung gilt als Aushängeschild im Ausland - als modernste in der Arabischen Welt: geschlechterparitätische Besetzung von Wahllisten - 30 Prozent Frauenanteil im Parlament. Zusätzlich gibt es Gesetze, die Frauen vor jeglicher Art von Gewalt schützen sollen. Das diskriminierende Erbrecht wird heiß diskutiert.
Viele Frauenrechtlerinnen schütteln trotzdem heute nur genervt den Kopf. Die Verfassung werde nicht umgesetzt, in den Köpfen habe sich zu wenig verändert - meint zum Beispiel die tunesische Historikerin Kmar Bendana:
„Wir kommen nicht weiter – unsere Erfolge haben wir doch schon lange. Ich habe den Eindruck, die Fortschritte, die ich erlangt habe, haben meine Töchter nicht, weil sich die Gesellschaft nicht bewegt, sie weigert sich, weil sie noch sehr patriarchal ist. Ich glaube, die Herausforderung der Revolution ist, die patriarchalische Ordnung infrage zu stellen – auch im Kopf der Frauen!“
Philosophin und ihr Blick auf das "traurige Beirut"
Philosophin Elizabeth Suzanne Kassab wohnt etwas außerhalb von Beirut. Im Taxi geht es bergauf. Weil es im Libanon kaum Straßennamen und keine Hausnummern gibt, rufe ich die Philosophin auf dem letzten Stück an. Sie erklärt dem Fahrer den Weg – sie wohne in der Nähe einer Kirche und einer Apotheke.
Es sind Kleinigkeiten, die im Libanon den Alltag erschweren. Besonders seit 2019, mit einer starken Wirtschaftskrise, Staatspleite und stetigem Währungsverfall – mit einer Inflation von über 200 Prozent.
„Und hier haben wir einen Blick auf die traurige Stadt. Also dort ist der Hafen. Hier hat die Explosion stattgefunden. Also das ist das traurige Beirut.“
Wir schauen vom Parkplatz vor ihrem Haus nach unten. Es ist früher Abend: „Ich staune, dass es so viel Licht gibt. Weil man weiß ja, dass wir ohne Strom leben. Als Sie angerufen haben, war gerade der Strom weg und ich dachte: Na, was machen wir jetzt? Aber da kam der Strom zurück. Und hier wohne ich."
Es sieht aus wie eine Bibliothek: "Ich habe ein Bett und einen Kühlschrank. Ansonsten viele Bücher. Und das ist nur ein Teil. Meine Arbeitsbibliothek liegt hinten. Ich arbeite ja über arabische, gegenwärtige Kultur und Philosophie.“
Bücher als "Wände meines Kopfes"
Gelesen habe sie die Bücher aber nicht alle: "Natürlich nicht. Aber das ist interessant. Warum man Bücher haben möchte, über die man weiß, man wird sie nicht alle lesen. Ich sag immer: Das sind die Wände meines Kopfes. Ich muss sie haben. Auch wenn ich das nicht jedes Buch lese. Das Buch muss da sein, weil es zum Forschungsfeld gehört.“
Gehört es für eine gute Philosophin dazu viele Bücher zu haben?
„Eigentlich nicht. Sokrates hat kein einziges Buch gehabt, glaube ich, und auch kein einziges geschrieben. Nein, ich glaube, so einfache Menschen brauchen die als Unterstützung. Man denkt: Okay, dieses Thema und diesen Autor, die stehen da. Und vielleicht eines Tages soll ich auch das lesen.“
Fein geordnet nach verschiedenen Regionen und Ländern: "Tunesien, Algerien, also Nordafrika, Marokko. Und dann Syrien, Irak, der Golf. Der Libanon ist ganz in der Ecke, weil ich über den Libanon nicht viel arbeite, weil es zu nah und zu schmerzhaft ist. Und dann Kategorien wie Nationalismus, Feminismus, Revolution. Ich habe ganze Regale mit Revolution und Philosophie und so was.“
Sorgen aus der Ferne über den Libanon
Wir setzen uns bei Keksen und frisch gepressten Orangensaft zum Gespräch in das Wohnzimmer – beziehungsweise die Bibliothek. Kassab hat viele Jahre in Deutschland gearbeitet und spricht daher Deutsch. Sie lehrt auf Arabisch und als Arbeitssprache für das Gespräch haben wir uns auf Englisch geeinigt.
„Ich wurde an diesem unglücklichen Ort geboren, der Beirut heißt. Ich bin während des Bürgerkriegs aufgewachsen. Acht Jahre war ich hier, dann bin ich zum Studieren in die Schweiz gegangen. Dort habe ich meinen Doktor gemacht und dann meinen Postdoc in Bielefeld. Die folgenden acht Jahre war ich also weg, und ich frage mich immer, welche Hälfte die schlimmste war. Ich denke, sich aus der Ferne Sorgen zu machen, zu einer Zeit, als es noch kein Internet oder Handys gab. Das war sehr schwer, weil meine Familie, meine Eltern und meine Brüder hiergeblieben sind."
1975 bis 1990 bekämpften sich im Libanon Bürgerkriegsmilizen in unterschiedlichen Konstellationen und mithilfe internationaler Geldgeber gegenseitig. In der unsicheren Zeit des Krieges wollten wohl die meisten Eltern, dass ihre Kinder etwas „Handfestes“ machen, Ärztin oder Ingenieur werden.
„Deshalb habe ich erst mal Betriebswirtschaftslehre studiert. Denn der Krieg hatte gerade angefangen und ich dachte: Na ja, ich brauche etwas, um meinen Lebensunterhalt zu zahlen. Aber als ich den Abschluss in der Tasche hatte, war ich frei, mein eigenes Interesse zu folgen: nämlich Philosophie.“
Sie liebe einfach Ideen: „Ich liebe Ideen. Ich interessiere mich für das, was Menschen denken, vor allem dafür, was Menschen über die Dinge denken, die sie durchmachen. Ich habe dann Philosophie studiert, und lange Zeit habe ich mich quasi als ‚gutes Mädchen aus der Dritten Welt‘ natürlich nur für Europa interessiert. Und dann kam mir in den Sinn, dass es auch eine Verknüpfung zur Geschichte gibt. Man denkt ja, dass Philosophie mit abstrakten Ideen zu tun hat.
Aber die intellektuellen Debatten in Deutschland sind eng mit der Zeit ihrer Entstehung verknüpft. Habermas, zum Beispiel, ist ohne die Geschichte, den Zweiten Weltkrieg, nicht denkbar. Da habe ich angefangen, mich zu fragen: Was ist mit uns? Wer denkt über unsere Dramen nach? Und das war eine Wendung in meinem intellektuellen Interesse, als ich anfing, neugierig zu sein und fragte: Was ist mit unserer intellektuellen Geschichte?"
"Über den Libanon zu arbeiten, wäre zu schmerzhaft"
Kassab beschäftigt sich mit der zeitgenössischen arabischen Philosophie. Wie passen die intellektuellen Debatten über Ideen und Theorien in ihre Welt voller alltäglicher Probleme?
„Obwohl ich Libanesin bin, arbeite ich nicht über den Libanon. Ich fühle ihn nur und erlebe den Schmerz, die Traurigkeit und die Traumata. Aber sehen Sie sich Syrien, Ägypten und den Irak an. Ich denke, dass alle unsere Nachbarländer solch Grausamkeiten erleben, wie sie es in der modernen Zeit noch nie gegeben hat. Wir reden nicht über Nationalismus.
Wir reden nicht über Islamismus. Wir befinden uns heute in einer völlig anderen Situation. Die wirklich wichtigsten Themen sind: Gräueltaten, Trauma, moralischer und politischer Wiederaufbau. Der Sinn des Denkens, der Schmerz. Die Abwesenheit von Zukunft. Die Kriminalität unserer Machthaber und der Welt".
Die Philosophin hat an verschiedenen Universitäten im Libanon, in Deutschland und in den USA geforscht und gelehrt. Weil durch koloniale Strukturen Europa lange als Zentrum der Philosophie galt, ist es ihr wichtig, Philosophie auf Arabisch zu lehren. Seit sechs Jahren ist sie Professorin für Philosophie in Doha, Katar. Ein Land, in dem die Meinungsfreiheit beschränkt ist:
„Das Institut hat einen Spielraum, der groß genug ist, damit wir ernsthaft unsere Arbeit machen können. Aber es gibt ein paar Grenzen. Man darf den Emir nicht beleidigen und man darf die Religion nicht beleidigen. Aber davon abgesehen, erfahren wir eigentlich keine Grenzen.“
Wenn sie redet, ist ihr die Begeisterung für Ideen und kritisches Denken anzumerken. Kassab ist eine mitreißende Rednerin, die schlaue Gedanken gut verständlich formuliert. Und sie beobachtet, wie das alte Männer-System in der Philosophie langsam erodiere:
„Früher haben Männer mit Männern geredet. Ein Mann schreibt ein Buch und andere reagieren darauf. Aber seit Kurzem sind es mehr junge Menschen und Frauen, die fantastische Arbeit leisten und die vor allem Intellektuelle mit den politischen Systemen, in denen sie sich befinden, verbinden. Das ist etwas Neues.“