Arabischer Frühling und sexuelle Freiheit
Man müsse versuchen, die Offenheit in der Sexualität wiederzufinden, sagt die Immunologin Shereen El Feki. Erst wenn die Frauen die Gewalt haben, über ihren eigenen Körper zu entscheiden, könne man erwarten, dass sie politisch partizipieren und an der Gesellschaft teilnehmen.
Liane von Billerbeck: Die arabische Welt ist in der Krise und seit gut zwei Jahren auch in Bewegung. Wohin der arabische Frühling führen wird, das ist zwar noch immer unklar, aber der politische Aufbruch und der Wunsch nach mehr Demokratie sind trotz Rückschlägen überall spürbar. Hat das alles irgendetwas mit Sex zu tun?
Die ägyptisch-britische Immunologin und Journalistin Shereen El Feki hat diese Frage gestellt und bejaht. Fünf Jahre lang ist sie durch die arabische Welt gereist und hat nach Einstellungen zur Sexualität gesucht, bei Experten und auch bei ganz normalen Leuten, die sie nach ihrem Sexualleben gefragt hat.
Jetzt gibt es darüber ein Buch, das zugleich auf Deutsch und Englisch erscheint, "Sex und die Zitadelle" heißt es, und Shereen El Feki war vor unserer Sendung bei uns zu Gast. Herzlich Willkommen!
Im arabischen Frühling ist stets politische Freiheit gefordert - Sie haben jetzt ein Buch über den Mangel an sexueller Freiheit geschrieben und sagen, dass das Sexualverhalten Auswirkungen hat, die weit über das Schlafzimmer hinaus gehen. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen? Sie sind halb Ägypterin, allerdings in England geboren und in Kanada aufgewachsen - wie vertraut und wie fremd war Ihnen das alles?
Shereen El Feki: Meine Gründe, mich damit zu befassen, waren sowohl persönlich als beruflich. Ich bin selber halb ägyptisch, mein Vater ist Ägypter. Meine ägyptische Familie geht über viele Generationen zurück. Ich habe die ägyptische Staatsbürgerschaft, mein Name ist ägyptisch, ich bin Muslima, aber ich habe im Grunde nie wirklich darüber nachgedacht, was dieses Erbe für mich bedeutet, was das heißt, an sich. Und der elfte September hat das dann alles geändert.
Da habe ich angefangen, darüber nachzudenken, wie viele andere auch habe ich mich jetzt zwischen Ost und West wiedergefunden. Und das gab mir auch die Idee, mich in meiner Karriere sozusagen neu zu orientieren. Das habe ich versucht. Und ich habe auch den Sex gewählt als Herangehensweise, also Produkt meines beruflichen Interesses. Wie Sie schon sagten, ich bin Immunologin, und ich habe zu der Zeit, als ich für den "Economist" gearbeitet habe, mich viel mit HIV, mit Aids beschäftigt und dahingehend geforscht.
Und dann habe ich aber festgestellt, dass Aids und Sex ein zu kleiner Kontext sind in dem Rahmen, in dem ich mich bewegen wollte. Ich wollte das Ganze etwas breiter anlegen und die Sexualität als ganze erforschen. Und um auch meine eigene Kultur besser zu verstehen. Und das durchzieht ja auch die ganze Kultur. Es durchzieht die Politik, die Wirtschaft, die Traditionen, die Gesellschaft, das Geschlechterverhältnis. All das wollte ich mir anschauen, um mein eigenes Erbe besser zu verstehen.
von Billerbeck: Bei den Protestbewegungen der 60er-Jahre in Deutschland, da gab es einen Satz: "Das Private ist politisch". Sie haben nun in ihrem Buch eine These, die lautet, wer sexuell nicht frei ist, kann es auch politisch nicht sein.
El Feki: Ich sage das nicht direkt in meinem Buch, ich sage nicht direkt, wer nicht sexuell frei ist, ist auch nicht politisch frei. Das ist eine These, die stammt aus dem industrialisierten Westen, aus einer bestimmten historischen und kulturellen, gesellschaftlichen Umgebung, aus bestimmten Umständen, die hier aber nicht gegeben sind. Das sind ganz verschiedene Situationen. Ich rede im Buch nicht über die sexuellen Zustände im Westen.
Wir haben hier ganz andere Grundlagen, aber ich sage, dass es nach den Aufständen von 2011 dieses starke Streben nach Demokratie, nach Freiheit, nach Gerechtigkeit, nach einem stärkeren Selbstbewusstsein, nach Selbstbestimmung, nach Transparenz, nach all diesen Werten gegeben hat.
Und die Sache ist halt, wenn wir das öffentlich durchsetzen wollen, all diese Dinge schaffen wollen, dann müssen wir auch privat schaffen, so zu leben. Wir können nicht von jungen Leuten erwarten, dass sie aktiv werden, dass sie es schaffen, in der Gesellschaft aktiv einzugreifen, wenn sie nicht einmal die Freiheit haben, ihren eigenen Körper zu erforschen oder zu kontrollieren. Wie können wir von Frauen erwarten, dass sie politisch partizipieren, dass sie an der Gesellschaft teilnehmen, wenn sie nicht mal die Gewalt haben, über ihren eigenen Körper zu entscheiden.
Oder, wenn wir erwarten, dass Männer und Frauen gleichwertig in der Politik, in der Gesellschaft arbeiten und dann einen Blick in ihr Schlafzimmer werfen, wo ein so starkes Ungleichgewicht herrscht, dann kann es in der Öffentlichkeit auch nicht funktionieren. Diese beiden Sphären sind zwar verschieden, aber sie müssen zusammengehen, sie funktionieren zusammen, sie sind verbunden und funktionieren synergetisch. Sie ergänzen sich.
von Billerbeck: Ihr Buch konzentriert sich ja auf Ägypten, Sie haben dort die meisten Leute befragt. Was ist Ihnen denn erzählt worden, welche sexuellen Einstellungen sind Ihnen da begegnet? Wie zufrieden sind die Ägypter mit ihrem Sexualleben?
El Feki: Das Buch konzentriert sich zwar auf Ägypten, aber nicht ausschließlich. Ich habe mich hauptsächlich mit Ägypten befasst, weil ich von dort komme und weil Ägypten auch ein Zentrum der arabischen Welt darstellt.
Es ist aber natürlich schwer, diese Dinge, die ich in Ägypten gesehen habe, zu verallgemeinern. Und die Forschungen, die es bisher zum Thema Sexualität gegeben hat in der arabischen Welt, gingen immer um negative Themen, um Probleme. Sie haben überhaupt nur stattgefunden, wenn es Probleme gab. Es ging um Impotenz, es ging um Genitalverstümmelung oder um sexuelle Gewalt. Und ich wollte jetzt einmal die anderen, positiven, normalen alltäglichen Fragen in den Mittelpunkt stellen. Was bedeutet sexuelles Glück? Wie empfinden die Menschen das? Wie drückt sich das Glück aus? Und diese Forschungen wollte ich in dem neuen Klima der Freiheit, wie es sich jetzt darstellt, der freien Meinungsäußerung aufnehmen.
Ich habe verheiratete und unverheiratete Frauen gefragt, da haben sich etwas unterschiedliche Bilder präsentiert. Man kann auch das natürlich nicht verallgemeinern, aber ich habe insgesamt festgestellt, dass die verheirateten Frauen sehr frustriert sind. Sie haben alle ein sexuelles Verlangen, sie haben Bedürfnisse, sind aber in diesen sehr eingeschränkt. Sie fühlen sich eingeschränkt auch in ihrem Zugang auf Information. Und darin, ihr Verlangen auszudrücken. Es fällt ihnen sehr schwer.
Was die unverheirateten Frauen betrifft, fühlen sie sich auch sehr eingeschränkt. Da gibt es vor allem diesen Druck der Jungfräulichkeit, die Pflicht, jungfräulich zu bleiben, das Ansehen, der Eindruck, den man bei den Nachbarn erweckt, der zählt mehr als das individuelle Glück. Und der ist auch oft ein Gegensatz zur Realität. Es gibt diese sexuellen Bedürfnisse, es gibt auch sexuelle Rechte, aber es gibt auch vor allem das Phänomen immer noch, dass, wenn jemand sexuellen Verkehr hatte, sich hinterher sein Jungfernhäutchen wieder operativ herstellen lässt, damit man nach außen hin als Jungfrau erscheint und diese Keuschheit sozusagen vorspielen kann.
Das ist sehr schwer für die Leute, da sie in dieser Hinsicht in ihrem Leben keine individuelle Wahl haben, wie sie leben möchten. Es wird kollektiv entschieden, auch in anderen Sphären, nicht nur sexuell. Das Leben erfolgt sozusagen nicht individuell, sondern kollektiv. Die Familie ist wichtig, sie steht im Zentrum, sie entscheidet. Man ist natürlich auch abhängig von der Familie, finanziell, und das hat natürlich auch zu den Aufständen mitgeführt, und die Strukturen im Staat sind auch so angelegt, dass das Individuum nicht viel zählt.
Das Individuum wird als solches nicht staatlich respektiert. Wenn ich Probleme habe, ist es auch nicht der Staat, der mich schützt, sondern meine Familie, an die ich mich wenden muss. Man muss also lernen, als Individuum zu handeln. Und das zu lernen, das beeinflusst dann auch das Sexualleben und die sexuelle Erfüllung.
von Billerbeck: Kann das auch damit zu tun haben, dass der Islam eine starke erotische Tradition hat? Es sind ja vom Propheten Mohammed offensichtlich ganz erstaunlich viele Tipps auch zum Sexualleben überliefert, die nicht bloß das Sexualleben des Mannes und die sexuelle Zufriedenheit des Mannes, sondern auch der Frau betreffen.
El Feki: Wie Sie sagen, gibt es eine lange Tradition im Islam, die Sexualität zu feiern und als etwas Positives zu erachten. Und der Prophet Mohammed wurde tatsächlich im Mittelalter von islamischen Kommentatoren dafür kritisiert.
Sie sagten über ihn, wie kann er ein Prophet sein und dann über Sex reden, das geht doch nicht zusammen. Der Grund, dass er über Sex sprach, und der Grund, dass der Koran und andere Quellen Sex so behandeln, als etwas sehr wichtiges, als eine Quelle der Energie, als eine mächtige Kraftquelle, der liegt aber auch darin, dass sie der Meinung waren, dass diese Quelle so wichtig war, dass sie kanalisiert werden musste. Und der Islam hat Kanäle geschaffen, in die alle sexuelle Energie fließen soll.
Jetzt sind diese Strukturen dieser Kanäle so entwickelt worden, dass sie allein die männlichen Interessen und der männlichen Befriedigung dienen und nicht der der Frauen. Das ist natürlich auf das Patriarchat zurückzuführen. Wenn man sich diese Schriften also ansieht, wenn man sie betrachtet, dann sieht man Sex als Vergnügen, als eine Quelle der Kreativität. Und das sind wirklich sehr erquickliche Bücher, ganz fröhliche Bücher. Und was ich heute eben so traurig finde, ist, dass der Aspekt des Vergnügens komplett verloren gegangen ist. Im Buch versuche ich, zu diesem Geist zurückzukehren von vorher.
Dass Sie mich nicht falsch verstehen - ich möchte nicht ins Zeitalter der Abbasiden zurück, das war eine ganz andere Zeit mit einem ganz anderen Verständnis der Menschenrechte. Dahin möchte ich nicht zurück, aber ich hoffe auf diesen Geist der Öffnung und auch der Hinterfragung. Dass der in Zukunft auch wieder so gelebt werden kann. Und es ist kein Zufall, dass die ökonomische und kulturelle Hochzeit der arabischen Welt zusammenging mit der sexuellen Freiheit.
Wenn man sich diese Entwicklung ansieht, muss man versuchen, die Offenheit in der Sexualität wiederzufinden. Denn diese sind Teil der Entwicklung, sie müssen Teil der Entwicklung sein und sind ein entscheidender Faktor.
von Billerbeck: Das sagt Shereen El Feki, Immunologin, Journalistin und Autorin des Buches "Sex und die Zitadelle", das jetzt auf Englisch und Deutsch erschienen ist. Danke Ihnen für das Gespräch, das Marai Amia übersetzt hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Links auf dradio.de:
Düsteres Bild der arabischen Gesellschaft- Shereen El Feki, "Sex und die Zitadelle"
Die arabische Welt und Sexualität - Shereen El Feki: "Sex und die Zitadelle"
One Billion Rising: "Kollektive Stärke demonstrieren" - Weltweiter Aktionstag gegen Gewalt an Frauen (Meldung vom 14.02.2013)
Die ägyptisch-britische Immunologin und Journalistin Shereen El Feki hat diese Frage gestellt und bejaht. Fünf Jahre lang ist sie durch die arabische Welt gereist und hat nach Einstellungen zur Sexualität gesucht, bei Experten und auch bei ganz normalen Leuten, die sie nach ihrem Sexualleben gefragt hat.
Jetzt gibt es darüber ein Buch, das zugleich auf Deutsch und Englisch erscheint, "Sex und die Zitadelle" heißt es, und Shereen El Feki war vor unserer Sendung bei uns zu Gast. Herzlich Willkommen!
Im arabischen Frühling ist stets politische Freiheit gefordert - Sie haben jetzt ein Buch über den Mangel an sexueller Freiheit geschrieben und sagen, dass das Sexualverhalten Auswirkungen hat, die weit über das Schlafzimmer hinaus gehen. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen? Sie sind halb Ägypterin, allerdings in England geboren und in Kanada aufgewachsen - wie vertraut und wie fremd war Ihnen das alles?
Shereen El Feki: Meine Gründe, mich damit zu befassen, waren sowohl persönlich als beruflich. Ich bin selber halb ägyptisch, mein Vater ist Ägypter. Meine ägyptische Familie geht über viele Generationen zurück. Ich habe die ägyptische Staatsbürgerschaft, mein Name ist ägyptisch, ich bin Muslima, aber ich habe im Grunde nie wirklich darüber nachgedacht, was dieses Erbe für mich bedeutet, was das heißt, an sich. Und der elfte September hat das dann alles geändert.
Da habe ich angefangen, darüber nachzudenken, wie viele andere auch habe ich mich jetzt zwischen Ost und West wiedergefunden. Und das gab mir auch die Idee, mich in meiner Karriere sozusagen neu zu orientieren. Das habe ich versucht. Und ich habe auch den Sex gewählt als Herangehensweise, also Produkt meines beruflichen Interesses. Wie Sie schon sagten, ich bin Immunologin, und ich habe zu der Zeit, als ich für den "Economist" gearbeitet habe, mich viel mit HIV, mit Aids beschäftigt und dahingehend geforscht.
Und dann habe ich aber festgestellt, dass Aids und Sex ein zu kleiner Kontext sind in dem Rahmen, in dem ich mich bewegen wollte. Ich wollte das Ganze etwas breiter anlegen und die Sexualität als ganze erforschen. Und um auch meine eigene Kultur besser zu verstehen. Und das durchzieht ja auch die ganze Kultur. Es durchzieht die Politik, die Wirtschaft, die Traditionen, die Gesellschaft, das Geschlechterverhältnis. All das wollte ich mir anschauen, um mein eigenes Erbe besser zu verstehen.
von Billerbeck: Bei den Protestbewegungen der 60er-Jahre in Deutschland, da gab es einen Satz: "Das Private ist politisch". Sie haben nun in ihrem Buch eine These, die lautet, wer sexuell nicht frei ist, kann es auch politisch nicht sein.
El Feki: Ich sage das nicht direkt in meinem Buch, ich sage nicht direkt, wer nicht sexuell frei ist, ist auch nicht politisch frei. Das ist eine These, die stammt aus dem industrialisierten Westen, aus einer bestimmten historischen und kulturellen, gesellschaftlichen Umgebung, aus bestimmten Umständen, die hier aber nicht gegeben sind. Das sind ganz verschiedene Situationen. Ich rede im Buch nicht über die sexuellen Zustände im Westen.
Wir haben hier ganz andere Grundlagen, aber ich sage, dass es nach den Aufständen von 2011 dieses starke Streben nach Demokratie, nach Freiheit, nach Gerechtigkeit, nach einem stärkeren Selbstbewusstsein, nach Selbstbestimmung, nach Transparenz, nach all diesen Werten gegeben hat.
Und die Sache ist halt, wenn wir das öffentlich durchsetzen wollen, all diese Dinge schaffen wollen, dann müssen wir auch privat schaffen, so zu leben. Wir können nicht von jungen Leuten erwarten, dass sie aktiv werden, dass sie es schaffen, in der Gesellschaft aktiv einzugreifen, wenn sie nicht einmal die Freiheit haben, ihren eigenen Körper zu erforschen oder zu kontrollieren. Wie können wir von Frauen erwarten, dass sie politisch partizipieren, dass sie an der Gesellschaft teilnehmen, wenn sie nicht mal die Gewalt haben, über ihren eigenen Körper zu entscheiden.
Oder, wenn wir erwarten, dass Männer und Frauen gleichwertig in der Politik, in der Gesellschaft arbeiten und dann einen Blick in ihr Schlafzimmer werfen, wo ein so starkes Ungleichgewicht herrscht, dann kann es in der Öffentlichkeit auch nicht funktionieren. Diese beiden Sphären sind zwar verschieden, aber sie müssen zusammengehen, sie funktionieren zusammen, sie sind verbunden und funktionieren synergetisch. Sie ergänzen sich.
von Billerbeck: Ihr Buch konzentriert sich ja auf Ägypten, Sie haben dort die meisten Leute befragt. Was ist Ihnen denn erzählt worden, welche sexuellen Einstellungen sind Ihnen da begegnet? Wie zufrieden sind die Ägypter mit ihrem Sexualleben?
El Feki: Das Buch konzentriert sich zwar auf Ägypten, aber nicht ausschließlich. Ich habe mich hauptsächlich mit Ägypten befasst, weil ich von dort komme und weil Ägypten auch ein Zentrum der arabischen Welt darstellt.
Es ist aber natürlich schwer, diese Dinge, die ich in Ägypten gesehen habe, zu verallgemeinern. Und die Forschungen, die es bisher zum Thema Sexualität gegeben hat in der arabischen Welt, gingen immer um negative Themen, um Probleme. Sie haben überhaupt nur stattgefunden, wenn es Probleme gab. Es ging um Impotenz, es ging um Genitalverstümmelung oder um sexuelle Gewalt. Und ich wollte jetzt einmal die anderen, positiven, normalen alltäglichen Fragen in den Mittelpunkt stellen. Was bedeutet sexuelles Glück? Wie empfinden die Menschen das? Wie drückt sich das Glück aus? Und diese Forschungen wollte ich in dem neuen Klima der Freiheit, wie es sich jetzt darstellt, der freien Meinungsäußerung aufnehmen.
Ich habe verheiratete und unverheiratete Frauen gefragt, da haben sich etwas unterschiedliche Bilder präsentiert. Man kann auch das natürlich nicht verallgemeinern, aber ich habe insgesamt festgestellt, dass die verheirateten Frauen sehr frustriert sind. Sie haben alle ein sexuelles Verlangen, sie haben Bedürfnisse, sind aber in diesen sehr eingeschränkt. Sie fühlen sich eingeschränkt auch in ihrem Zugang auf Information. Und darin, ihr Verlangen auszudrücken. Es fällt ihnen sehr schwer.
Was die unverheirateten Frauen betrifft, fühlen sie sich auch sehr eingeschränkt. Da gibt es vor allem diesen Druck der Jungfräulichkeit, die Pflicht, jungfräulich zu bleiben, das Ansehen, der Eindruck, den man bei den Nachbarn erweckt, der zählt mehr als das individuelle Glück. Und der ist auch oft ein Gegensatz zur Realität. Es gibt diese sexuellen Bedürfnisse, es gibt auch sexuelle Rechte, aber es gibt auch vor allem das Phänomen immer noch, dass, wenn jemand sexuellen Verkehr hatte, sich hinterher sein Jungfernhäutchen wieder operativ herstellen lässt, damit man nach außen hin als Jungfrau erscheint und diese Keuschheit sozusagen vorspielen kann.
Das ist sehr schwer für die Leute, da sie in dieser Hinsicht in ihrem Leben keine individuelle Wahl haben, wie sie leben möchten. Es wird kollektiv entschieden, auch in anderen Sphären, nicht nur sexuell. Das Leben erfolgt sozusagen nicht individuell, sondern kollektiv. Die Familie ist wichtig, sie steht im Zentrum, sie entscheidet. Man ist natürlich auch abhängig von der Familie, finanziell, und das hat natürlich auch zu den Aufständen mitgeführt, und die Strukturen im Staat sind auch so angelegt, dass das Individuum nicht viel zählt.
Das Individuum wird als solches nicht staatlich respektiert. Wenn ich Probleme habe, ist es auch nicht der Staat, der mich schützt, sondern meine Familie, an die ich mich wenden muss. Man muss also lernen, als Individuum zu handeln. Und das zu lernen, das beeinflusst dann auch das Sexualleben und die sexuelle Erfüllung.
von Billerbeck: Kann das auch damit zu tun haben, dass der Islam eine starke erotische Tradition hat? Es sind ja vom Propheten Mohammed offensichtlich ganz erstaunlich viele Tipps auch zum Sexualleben überliefert, die nicht bloß das Sexualleben des Mannes und die sexuelle Zufriedenheit des Mannes, sondern auch der Frau betreffen.
El Feki: Wie Sie sagen, gibt es eine lange Tradition im Islam, die Sexualität zu feiern und als etwas Positives zu erachten. Und der Prophet Mohammed wurde tatsächlich im Mittelalter von islamischen Kommentatoren dafür kritisiert.
Sie sagten über ihn, wie kann er ein Prophet sein und dann über Sex reden, das geht doch nicht zusammen. Der Grund, dass er über Sex sprach, und der Grund, dass der Koran und andere Quellen Sex so behandeln, als etwas sehr wichtiges, als eine Quelle der Energie, als eine mächtige Kraftquelle, der liegt aber auch darin, dass sie der Meinung waren, dass diese Quelle so wichtig war, dass sie kanalisiert werden musste. Und der Islam hat Kanäle geschaffen, in die alle sexuelle Energie fließen soll.
Jetzt sind diese Strukturen dieser Kanäle so entwickelt worden, dass sie allein die männlichen Interessen und der männlichen Befriedigung dienen und nicht der der Frauen. Das ist natürlich auf das Patriarchat zurückzuführen. Wenn man sich diese Schriften also ansieht, wenn man sie betrachtet, dann sieht man Sex als Vergnügen, als eine Quelle der Kreativität. Und das sind wirklich sehr erquickliche Bücher, ganz fröhliche Bücher. Und was ich heute eben so traurig finde, ist, dass der Aspekt des Vergnügens komplett verloren gegangen ist. Im Buch versuche ich, zu diesem Geist zurückzukehren von vorher.
Dass Sie mich nicht falsch verstehen - ich möchte nicht ins Zeitalter der Abbasiden zurück, das war eine ganz andere Zeit mit einem ganz anderen Verständnis der Menschenrechte. Dahin möchte ich nicht zurück, aber ich hoffe auf diesen Geist der Öffnung und auch der Hinterfragung. Dass der in Zukunft auch wieder so gelebt werden kann. Und es ist kein Zufall, dass die ökonomische und kulturelle Hochzeit der arabischen Welt zusammenging mit der sexuellen Freiheit.
Wenn man sich diese Entwicklung ansieht, muss man versuchen, die Offenheit in der Sexualität wiederzufinden. Denn diese sind Teil der Entwicklung, sie müssen Teil der Entwicklung sein und sind ein entscheidender Faktor.
von Billerbeck: Das sagt Shereen El Feki, Immunologin, Journalistin und Autorin des Buches "Sex und die Zitadelle", das jetzt auf Englisch und Deutsch erschienen ist. Danke Ihnen für das Gespräch, das Marai Amia übersetzt hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Düsteres Bild der arabischen Gesellschaft- Shereen El Feki, "Sex und die Zitadelle"
Die arabische Welt und Sexualität - Shereen El Feki: "Sex und die Zitadelle"
One Billion Rising: "Kollektive Stärke demonstrieren" - Weltweiter Aktionstag gegen Gewalt an Frauen (Meldung vom 14.02.2013)