Wo blüht der tunesische Jasmin?
Vor drei Jahren wurde der tunesische Präsident Ben Ali gestürzt. Die Neuorientierung hält bis heute an – mit unbekanntem Ausgang. Nach den Morden an Oppositionellen ist das Misstrauen gegenüber den Islamisten groß.
"Arbeit, Freiheit, Würde!", danach rufen sie noch immer in Tunesien, und ganz besonders laut in Sidi Bouzid – heute so wie damals, vor drei Jahren, als hier die Revolution begonnen hat.
Die trostlose Stadt tief im Süden Tunesiens hat einen berühmten Sohn: Mohamed Bouazizi. Ende 2010 übergießt sich der junge Gemüsehändler vor dem Rathaus mit Benzin und zündet sich an. Wenige Tage später stirbt er, die Bilder von den Protesten im Landesinneren erreichen die Hauptstadt Tunis, der Druck der verzweifelten Massen wird immer größer, die Armee greift nicht ein, am 14. Januar 2011 flieht Präsident Ben Ali mit seiner Familie nach Saudi Arabien: Tunesien läutet eine neue Zeit ein. Ausgang: Ungewiss.
Sidi Bouzid, drei Jahre später: Die Menschen erinnern an Bouazizi und die vielen anderen Märtyrer der Revolution. Sie schwenken Fahnen, in langen Trauerzügen tragen sie Spruchbanner und Porträts der Opfer durch die Stadt, und sie sind wütend: Das tunesische Experiment, sagt einer der jungen Demonstranten, habe ihnen bis heute nichts gebracht.
"Die Menschen in Sidi Bouzid lehnen den Präsidenten der Republik ebenso ab wie die Verfassungsgebende Versammlung oder die Regierung. Diese Politiker sind keine Volksvertreter, uns jedenfalls vertreten sie nicht. Seit Beginn dieser Revolution vor drei Jahren hat niemand etwas für uns getan."
Erst recht nicht die Islamisten, ergänzt der junge Mann. Dabei hätten die Menschen gerade hier im besonders konservativen Zentrum des Landes so viel Hoffnung in sie gesetzt – in die mächtige Ennahdha, die bisherige Regierungspartei, die in Tunesien den politischen Islam verankern will. Entschlossen steckt der Demonstrant eine Fahne der Islamisten in Brand, und bekommt sogar Applaus.
Es rumort in Tunesien, seit damals. Das Land hat seine Zerreißprobe noch nicht durchgestanden. Drei Jahre nach dem Sturz des Diktators fürchten manche Beobachter, die Revolution habe ihre Kinder gefressen. Das Jahr 2014 beginnt, wie das Jahr 2013 endete: Es gibt Streiks, schwere Ausschreitungen werden aus dem verarmten Süden gemeldet. Polizeistationen brennen; Banken und Verwaltungsgebäude werden verwüstet, die Polizei drängt Demonstranten mit Tränengas und Gummigeschossen zurück. Wo ist die Dividende der Revolution, das fragt sich in Tunis auch Wided Bouchamaoui, Präsidentin des tunesischen Arbeitgeberverbandes:
"Es ist sehr bedauerlich, dass sich im Landesinneren so gut wie nichts getan hat, ausgerechnet dort, wo die Revolution ausbrach, wo es die meisten Märtyrer gab. Die Lebensbedingungen dort sind zum Teil katastrophal, und wir müssen etwas tun. Wir müssen den Menschen dort zeigen, dass wir sie nicht vergessen haben, so wie sie damals zu Ben Alis Zeiten vergessen wurden."
"2014 wird ein zentrales Jahr in der Geschichte unseres Landes sein"
In Sidi Bouzid fühlen sie sich noch immer vergessen. Tunesien stand bisweilen auf der Kippe, drohte an den Folgen einer schweren politischen Krise fast schon zu ersticken. Tunesien hat kaltblütige Morde an zwei linken Oppositionellen erlebt, Anschläge durch den gewaltbereiten Flügel der erzkonservativen Salafisten, die den Koran streng auslegen. Dann die Lähmung des Parlaments, Rücktritte von Übergangsregierungen, den Absturz der Wirtschaft, immer wieder verschobene Wahltermine: Kaum jemand glaubte mehr an Staatspräsident Moncef Marzouki und seine Durchhalteparolen, in Sidi Bouzid wollte ihn niemand bei den Feierlichkeiten zu Ehren von Mohamed Bouazizi dabei haben. Dabei versucht Marzouki, Optimismus zu verbreiten: Er nutzt seine Neujahrsansprache im Fernsehen, um zu verkünden: Endlich sei der gordische Knoten der letzten Krisenjahre durchschlagen. 2014 werde das Jahr der Entscheidungen:
"2014 wird ein zentrales Jahr in der Geschichte unseres Landes sein. 2014 wird das Jahr der Krönung der Revolution, der Krönung des Wegs zur Demokratie. 2014 wird das Jahr der Verfassung sein. Dieses großartige Dokument wird uns Tunesier mit dem Staat verbinden und den Rahmen bilden für unser Leben und für die zukünftigen Generationen!"
Tatsächlich: Nach jahrelanger Verzögerung ist es endlich so weit. Tunesien bekommt seine neue Verfassung. Im Parlamentsgebäude reden sie wieder miteinander. Die Constituante, die im Herbst 2011 gewählte Verfassungsgebende Versammlung, muss fast 150 Artikel verabschieden – und zwar einen nach dem anderen.
Fieberhaft und in schier endlosen Debatten geht es ums Eingemachte. Und da schenken sich die 217 Abgeordneten nichts. Die Nerven liegen blank. Aber es geht auch um viel – nicht nur um Streikrecht, die Chancengleichheit zwischen Mann und Frau oder den Schutz der Familie. Es geht um die Glaubwürdigkeit des Parlaments, es geht um nichts Geringeres als Tunesiens Identität, drei Jahre nach dem Ende einer Diktatur. Mehrezia Laâbidi, Vizepräsidentin des Übergangsparlaments:
"Wenn wir bis jetzt gewartet haben, dann deswegen, weil wir dem tunesischen Volk gerecht werden wollten. Das Ergebnis kann nie perfekt sein, es kann nicht alle Tunesierinnen und Tunesier zufriedenstellen - aber wir wollen diese Verfassung so gut machen, wie irgend möglich. Und wenn die Mehrheit der Bevölkerung sie auch unterstützt, dann ist das ein guter Anfang. Wissen Sie, eine Geburt ist immer schmerzhaft und mit großen Erwartungen verbunden – aber am Ende ist man doch immer froh und erleichtert, wenn das Baby da ist!"
In Artikel 1 der neuen Verfassung heißt es wörtlich: "Tunesien ist ein freier, unabhängiger und souveräner Staat. Der Islam ist seine Religion, das Arabische seine Sprache und die Republik seine Staatsform." Ein klares Bekenntnis zum Islam als Glaubensrichtung, aber ebenso eine Abkehr vom Islam als Rechtsquelle. Anders als von vielen Islamisten gefordert, soll die Scharia keine Grundlage für staatliches Handeln sein. Aufklärungsfeindliche Strömungen sollen politisch keine Chance haben, Tunesien will weiter auf seinem Kurs bleiben, Richtung: Demokratie.
Tunesien hat nun eine neue Übergangsregierung aus Experten, und jetzt, da es auch eine neue Wahlkommission gibt, hat die Ennahdha den Weg frei gemacht für Wahlen. Ihr ehemaliger Regierungschef, der glücklose Ali Larayedh, ist zurückgetreten. Die Islamisten wollten Druck aus dem Kessel nehmen, sich nach den Morden an linken Politgrößen wie Chokri Belaid und Mohamed Brahmi als besonnene Staatsmänner darstellen. Fast ganz Tunesien hat die Ennahdha am Ende für die Morde mitverantwortlich gemacht: Ennahdha, heißt es, habe die Gewaltbereiten unter den Salafisten nicht im Griff. Unter ihnen werden die Mörder der beiden Politiker vermutet.
Mit den neuen Institutionen sind in Tunesien nun die Weichen für das von Präsident Marzouki ausgerufene „Jahr der Entscheidungen“ gestellt. Doch die neue Regierung trifft nun auf eine politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Realität, die härter, angespannter und konfliktgeladener kaum sein könnte: Die Vertrauenskrise bleibt.
Die politische Klasse Tunesiens ist extrem gespalten – so wie auch die Gesellschaft. Jeder hat seine Definition von Demokratie. Man jongliert mit Begriffen wie Freiheit, Gleichheit und Religion, begleicht alte Rechnungen; manche werden wieder zu Spitzeln wie im alten Regime, andere leiden an schwersten Traumata aus Zeiten der Foltergefängnisse und schlagen aus der Opferrolle politisches Kapital.
"Es gibt keinen gemäßigten politischen Islam!"
Trotz Verfassung: Tunesiens Gretchenfrage bleibt unbeantwortet. Wie hältst Du es mit der Religion? Was bedeutet arabisch-islamische Identität? Und vor allem: Wie wird diese religiös geprägte Identität politisch benutzt – von den verschiedenen politischen Lagern? Bei der bisherigen Regierungspartei Ennahdha glaubt man weiter an den politischen Islam – und geht damit auf Stimmenfang vor den Wahlen, die noch in diesem Jahr stattfinden sollen. Fathi Ayadi vom Choura-Rat, dem Politbüro der Ennahdha:
"Wir präsentieren uns als politische Partei, und wir konkurrieren mit anderen Parteien auf Basis eines klaren politischen Programms. Wir präsentieren nicht nur Koransuren, wie manche sagen, sondern wir präsentieren Lösungen, ein Programm, und das verlangen wir auch von den anderen. Und die Bevölkerung kann entscheiden, welches Programm durchgeht, das ist die Demokratie."
Der Islam habe seinen Platz in der Demokratie, so Fathi Ayadi – und er sei eine wichtige Kategorie für die politischen Entscheidungsprozesse, das sei auch durch die neue Verfassung gedeckt. Der Philosoph Youssef Seddik widerspricht:
"Es gibt keinen gemäßigten politischen Islam! Sobald der Islam eine politische Dimension bekommt, fordert er per Definition das Ende des Pluralismus. Es gibt keinen politischen Islam, der regierungsfähig wäre. Kann er auch nicht, denn im Islam ist letzten Endes Gott der einzige, der regiert – nicht der Mensch. Der politische Islam wird immer versuchen, im Sinne Gottes zu regieren. Und das hat nichts mit Demokratie zu tun, sondern mit ihrem Gegenteil. Es geht dann nur noch um das Recht des Stärkeren."
Bei den Demonstrationen zu Ehren der Märtyrer der Revolution marschieren in Sidi Bouzid auch die Islamisten von Hizb Tahrir mit – die in Tunesien zugelassene salafistische Partei, die sich gewaltfrei gibt – aber mit Demokratie nichts am Hut hat. Abderraouf Amri, Präsident des Politbüros von Hizb Tahrir:
"Als die Leute sich damals hier gegen die Sicherheitskräfte auflehnten, protestierten sie gegen die Justizwillkür, gegen die Arbeitslosigkeit, dagegen, dass diese Machtclique in Tunis unser Land ausplünderte – gemeinsam mit internationalen Konzernen! Die wahren Führer Tunesiens sind diejenigen, die die Einheit der Gläubigen voranbringen – unsere Partei ist die Stimme dieser religiösen Gemeinschaft. Treue zu Allah, Treue zum Islam – das ist der einzige Ausweg, die einzige Rettung vor dem Joch des Kapitalismus!"
"Das Ziel dieser Leute ist, dass der Staat, so wie er existiert, kaputt geht"
Hizb Tahrir legt den Finger in die Wunde: Die Preise für Lebensmittel steigen immer weiter, Tunesiens Wirtschaft wächst nicht genug, die Revolution hat die Lage noch verschärft, die bislang unsichere politische Lage hat in den letzten Jahren viele Investoren abgeschreckt. Landesweit liegt die Arbeitslosigkeit bei fünfzehn Prozent, bei den jungen Schul- und Studienabsolventen findet gar jeder Dritte keinen Job. Hizb Tahrir will nun seine Kapitalismuskritik mit einem politischen Islam verknüpfen:
"Unsere Revolution war die erste Flamme eines großen Feuers. Das Feuer hat mittlerweile auch den Jemen erreicht, Libyen, Ägypten, Syrien - und ich bete zu Gott, dass es sich in Damaskus ausbreitet. Allah möge uns den Weg bereiten für einen Kalifatsstaat!"
Genau vor solchen Entwicklungen hat der Philosoph Youssef Seddik immer gewarnt. Hizb Tahrir geriere sich zwar weitgehend harmlos – aber es gebe auch andere, weit radikalere Kräfte, die den Frust der Verlierer der Revolution für ihre Zwecke nutzen könnten:
"Besonders gefährlich wird es, wenn die Wirtschaft weiter stagniert oder schrumpft, wenn die sozialen Forderungen nicht erfüllt werden. Dann könnte es zu großen Konflikten in der Gesellschaft kommen, wie wir sie noch nicht erlebt haben – vielleicht sogar zu einem Bürgerkrieg, angeheizt durch die Dimension der Religion. Die Salafisten waren immer ein Wähler-Reservoir, und das haben die Oppositionsparteien zu lange ausgeblendet. Jetzt hat man es mit Leuten zu tun, die von einem utopischen politischen Islam fabulieren."
Auch der Extremismusforscher Aya Allani von der Universität Manouba verweist auf den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Krise und radikalislamischer Gewalt, und er geht noch weiter: Die Salafisten hätten ihre eigene Agenda und ließen sich nicht länger instrumentalisieren. Das sei spätestens deutlich geworden, als die radikalislamische Terrorgruppe Ansar al-Sharia im Herbst 2012 die US-Botschaft in Tunis angriff. Am Chaambi-Berg, nahe der Grenze zu Algerien, kommt es seit Mai 2013 immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Nationalgarde und Dschihadisten, so genannten "Heiligen Kriegern". Im Badeort Sousse kam bei einem Bombenanschlag nur der Attentäter ums Leben, in Monastir konnte ein weiterer Anschlag in letzter Minute vereitelt werden. Tunesien habe ein massives Terrorproblem, sagt Rachid Ammar, der ehemalige Generalstabschef der Armee. Er warnt gar vor einer "Somalisierung":
"Das Ziel dieser Leute ist, dass der Staat, so wie er existiert, kaputt geht. Und an seine Stelle sollen neue Fundamente und ein neues System treten. Und leider handelt es sich hier nicht um eine kleine Gruppe."
"Wir stecken derzeit noch im Nebel fest"
Tunesien 2014 - drei Jahre nach dem Sturz von Ben Ali zeichnet sich ein Ende des gefühlt schier ewig währenden Übergangszustands ab. Das Land hat einen langen Weg hinter - und noch einen ebenso langen Weg vor sich. Darauf lauern Gefahren, aber auch Chancen.
Viele junge Leute in Tunesien wollen das Ende dieses Lernprozesses nicht abwarten – sie wollen nur raus, weg, mit dem Flugzeug oder mit Booten über das Mittelmeer, nach Europa. Doch wie viele andere hat Selim Kharrat den umgekehrten Weg genommen: 2011, nach dem Sturz von Ben Ali kam er aus dem europäischen Ausland nach Tunesien zurück, um sich zu engagieren. Heute ist er Geschäftsführer von Al Bawsala, einer jungen Nichtregierungsorganisation, die Tunesiens Abgeordneten auf die Finger schaut.
"Wo wir in drei Jahren sein werden? Tja, alles ist möglich … je nachdem, ob man das Ganze optimistisch oder pessimistisch sieht. Wir stecken derzeit noch im Nebel fest. Wir versuchen, aus einer schweren politischen Krise herauszukommen; in der arabischen Welt herrscht Unruhe, ob in Syrien, Libyen oder Ägypten; und auch wir haben Sicherheitsprobleme. Wir schwanken jeden Tag zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Aber trotz allem glaube ich daran: Tunesie hat das Potenzial, um ein besseres Land zu werden. Aber wie das in drei Jahren aussieht … keine Ahnung!"