Arbeit im Gefängnis

Für eine Handvoll Euro

25:19 Minuten
Hände in Schutzhandschuhen bedient eine Flex. Funken sprühen.
Fachkräfte sind gesucht. Wer im Gefängnis beispielsweise eine Ausbildung zum Schlosser macht, kann nach der Entlassung auf einen Job hoffen. © picture alliance / dpa / Felix Kästle
Vom Ludger Fittkau  · 11.12.2022
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In deutschen Gefängnissen herrscht Arbeitspflicht. Viele Häftlinge empfinden ihren Job als willkommene Abwechslung, kämpfen aber für höhere Löhne. Demnächst soll das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob der Mindestlohn auch hinter Gittern gilt.
Ein elektrischer Gabelstapler surrt über den Industriehof. Auf den Stahlarmen sind Pressspanplatten übereinandergeschichtet. Der Staplerfahrer lenkt das Fahrzeug in eine kleine Lagerhalle. Die Platten landen auf einem bereits rund zwei Meter hohen Stapel. Tagtäglich geschieht so etwas in fast jedem Gewerbegebiet hierzulande.
Doch diesmal spielt sich die Szene auf dem sogenannten „Werkhof“ eines Gefängnisses ab. Der Fahrer ist ein Häftling, der eine lange Strafe zu verbüßen hat. „Staplerfahrer – das ist eigentlich untypisch, dass ein Gefangener so etwas macht. Weil der ja mit dem Ding wohin auch immer fahren könnte“, sagt Matthias Zinn. Der sportliche Mann um die 40 ist leitender Justizvollzugsbeamter in Hessen. Er ist verantwortlich für den Industriebereich der Justizvollzugsanstalt Kassel I, in dem der Gabelstapler hin- und herfährt.
Wirklich ausbrechen könnte der Staplerfahrer mit seinem Gefährt wohl nicht, dafür sind die Mauern des im 19. Jahrhundert erbauten Gefängnisses zu dick. Außerdem hat der Fahrer bei guter Führung alle Chancen, nach Haftende auch draußen einen Gabelstapler zu lenken. „Hier ist es so, dass auch eine Staplerfortbildung oder Ausbildung angeboten wird, von Bediensteten, die geschult sind.“

Keine Arbeit, kein Taschengeld

Wer hinter Gittern einen Gabelstapler lenken darf, dem müssen die Justizvollzugs-beamtinnen und -beamten vertrauen können. Genau wie in der Schreinerei den Häftlingen, die Bohrmaschinen oder andere Werkzeuge in die Hände bekommen. „Bevor ein Gefangener einen Arbeitsplatz antritt, wird immer überprüft, ob er für den Arbeitsplatz geeignet ist“, sagt Lars Streiberger, der Leiter der Justizvollzugsanstalt Hünfeld, die 100 Kilometer südöstlich von Kassel liegt. „Das setzt auch voraus, dass er charakterlich geeignet ist."
Küchenutensilien hängen in der Küche der der Justizvollzugsanstalt Senne.
In den Gefängnisküchen wird auch mit gefährlichen Werkzeugen hantiert. Wer hier arbeitet, wird vorher genau überprüft.© picture alliance / Robert B. Fishman
Wer beispielsweise erhöhte Aggressivität gegenüber seinen Mitgefangenen auffallen, sei für die Arbeit in der Küche nicht unbedingt geeignet, weil dort gefährliche Werkzeuge wie Messer eingesetzt werden. "Das prüft der Staat und der Staat weist dann diese Gefangenen zu.“
Streiberger erzählt mir auch, dass in deutschen Gefängnissen grundsätzlich die Plicht zu arbeiten besteht. Wer das nicht tut, muss damit rechnen, später aus der Haft entlassen zu werden, oder er oder sie bekommt das Taschengeld gestrichen. „Nach dem hessischen Strafvollzugsgesetz gibt es eine Arbeitspflicht, aber es ist keine Zwangsarbeit. Das heißt, wenn jemand im Extremfall sagt, er habe keine Lust zu arbeiten, was die wenigsten tun, dann bleibt der im Haftraum sitzen. Natürlich hat der dann Nachteile. Jemand, der unverschuldet ohne Arbeit ist, bekommt Taschengeld und jemand, der verschuldet ohne Arbeit ist, bekommt kein Taschengeld."

Ausbildung im Gefängnis

In Hünfeld und Kassel bekomme ich gezeigt, wie männliche Häftlinge arbeiten. Die Justizvollzugsanstalt Kassel I ist ein Gefängnis der höchsten Sicherheitsstufe. Hier sitzen Gewalttäter, Wiederholungstäter, Mitglieder krimineller Banden:  Männer, die langjährige Strafen verbüßen müssen.
Diese Anstalt ist deutlich älter als das Gefängnis in Hünfeld, in der Täter sitzen, die maximal fünf Jahre Haft bekommen haben. In Kassel müssen die Türen mechanisch geöffnet werden, im Nachbargefängnis geht das bereits mit elektronischen Chips.
In Kassel beginnt es einige Türen weiter zu riechen. Besser gesagt: Es duftet nach frisch gebackenem Brot. Da hier strenge Hygiene-Bedingungen herrschen, muss ich in der Tür zu Gefängnisbackstube stehenbleiben, in der elf Menschen arbeiten: Bäckergesellen und die Auszubildenden.
Derzeit gebe es in der Bäckerei fünf Auszubildende, die in den kommenden Tagen ihren Abschluss machen, sagt Ina Wunderlich, eine drahtige Frau um die 50. Sie hat auf dem minutenlangen Gang durch das Gefängnis einige Türen auf- und zugeschlossen. Von Beruf ist Ina Wunderlich Lehrerin. In der JVA Kassel ist sie für den Bereich Schule, Weiterbildung und Sport zuständig. Sie bangt jetzt mit den Bäckerlehrlingen, die so kurz vor der Prüfung stehen.

Kooperationen mit Berufsschulen

Dass es in wenigen Tagen in Kassel fünf neue Bäckergesellen geben wird, weil das Gefängnis sie ausgebildet hat, ist auch für die Bäckereien außerhalb der Gefängnismauern interessant, betont Ina Wunderlich. Denn irgendwann kommen ja auch die neuen Bäckergesellen wieder auf freien Fuß. „Das ist hervorragend. Im nordhessischen Bereich ist die Anzahl der Bäckerauszubildenden gesunken, und wir sind da immer ganz stark vertreten, können da gut dagegenhalten. Das ist sehr schön." Auch die Berufsschulen seien sehr kooperativ. "Da kommen Lehrer aus den Kasseler Berufsschulen rein und unterrichten unsere Gefangenen.“
Der Bäckermeister Rüdiger Waldmann ruft den Azubis am Backofen letzte Anweisungen zu. Anschließend kommt er aus der Backstube heraus auf den Gefängnisflur. Der freundlich lächelnde Mann mittleren Alters erklärt, was seine Mitarbeiter gerade mit langen Schiebern aus dem Ofen holen. „Das ist die Versorgung der Gefangenen hier im Haus. Wenn der Ofen einmal voll ist, sind das 240 Kilo Brot da drin.“
Es ist Freitag, das frisch gebackene Weißbrot soll für das Gefängnis mit rund 500 Haftplätzen über das Wochenende reichen. Die Häftlinge, die das Brot aus dem Ofen holen, sind Fachkräfte, betont der Bäckermeister. „Die meisten sind hier ausgebildet und arbeiten hier dann auch als Gesellen weiter." Andere kämen ohne Schulabschluss und fingen hier eine Ausbildung an.

Kampf um den Mindestlohn

Einen Bäckergesellen kann ich hier, in der Backstube, leider nicht sprechen. Ohnehin sind Begegnungen unter vier Augen mit Gefangenen nicht möglich. Immer begleiten mich Mitarbeitende der Anstaltsleitung bei den Rundgängen, weichen nicht von meiner Seite. Die Häftlinge, mit denen ich reden kann – so der Deal – wurden vorher von den Gefängnisleitungen ausgewählt.
Man legt Kekse auf ein Backblech. Auszubildender in der Bäckerei der Justizvollzugsanstalt in Neumünster.
Bäcker sind außerhalb der Gefängnismauern gefragt.© picture alliance / dpa / Carsten Rehder
Dennoch kommt es zu Momenten großer Offenheit, mit dem Personal wie mit einzelnen Gefangenen: etwa, als ein 39 Jahre alter schlanker Häftling in roter Anstaltskleidung, der ungenannt bleiben will, im Nebenraum seiner Produktionshalle im Beisein des Hünfelder Gefängnisdirektors klipp und klar anspricht, dass er mit der Entlohnung im Gefängnisbetrieb nicht zufrieden ist. Zumal die Inflation auch im Gefängnis zu spüren sei. "Es war vorher schon nicht gut", sagt er. "Aber jetzt denkt man: ui, ui, ui! Es gibt ja gerade das Verfahren beim BGH, dass wir den Mindestlohn durchsetzen wollen.“
Das Verfahren wird inzwischen beim Bundesverfassungsgericht verhandelt – in diesem Jahr gab es dazu bereits Anhörungen. Ein Urteil wird bald erwartet. Das sei ein großes Thema, vor allem bei Mitgefangenen mit langen Strafen, erklärt mir der Häftling in der JVA Hünfeld. Denn es drohe Altersarmut, so der Häftling. „Dass wir keine Rentenlücken haben und solche Sachen. Wenn wir hier jetzt vier, fünf Jahre verbringen und kommen raus und haben nichts eingezahlt. Da wäre es schon sinnvoller, wenn wir einen Mindestlohn hätten und davon dann von mir aus 50 Prozent abgeben.“

10 bis 17 Euro Lohn am Tag

Aktuell bekommen die Gefangenen in Hessen nach einem fünfstufigen Lohnmodell einen Tageslohn zwischen 10,56 und 17,77 Euro. „Wir haben aber auch Pensumarbeit, Stücklohnarbeit, wo die Gefangenen mehr verdienen können", sagt Matthias Zinn, der Leiter des Kasseler Gefängniswerkhofes. "Da kommt es darauf an, wieviel er mehr schafft. Da kommt man im Monat auch schon mal auf 400 bis 500 Euro brutto.“
Die monatlichen Kosten für einen Haftplatz belaufen sich je nach Berechnung zwischen 3000 und circa 5000 Euro. Rund 45.000 Menschen sitzen in Deutschland hinter Gittern. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits angedeutet, dass eine Angleichung der Gefangenenentlohnung an das Tarifsystem draußen zu einer „deutlichen Subventionierung“ der Häftlinge durch die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen führen würde. Ein gesetzlicher Mindestlohn würde die Kosten längst nicht abdecken.
Aktuell geht es auch im Knast vor allem um die kriegsbedingte Inflation. „Ein Liter Öl 3,99. Eine Butter 2,49. Bei einem Monatsverdienst von um die 100 Euro, der uns zur Verfügung steht", sagt ein Häftling. "Der Rest geht aufs Ü-Geld.“

Ansparen für die Haftentlassung

Ü-Geld: Das ist die Abkürzung von Überbrückungsgeld. Der Lohn, den die Häftlinge für ihre Arbeit bekommen, wird rechnerisch in sieben Teile aufgespalten. Vier Siebtel werden auf ein Konto eingezahlt, auf dem das Überbrückungsgeld für die Wochen nach der Haftentlassung angespart wird.
Das Geld sollte auch während der Inflation nicht angetastet werden, so der Hünfelder Häftling. „Deswegen sollte vielleicht die Bundesregierung, sollte Scholz, wenn er die ganzen Hilfsprogramme für die Bürger draußen macht – in Bayern haben die das gerade bekommen, eine Inflationshilfe von 100 Euro. Das haben wir jetzt auch ans Ministerium geschrieben, dass das in Hessen auch was wäre.“
Konzentriert treibt ein weiterer Gefangene, der ebenfalls anonym bleiben will, mit einem Elektrobohrer breite Löcher in einen Türrahmen aus Eiche. „Wir haben da gerade Löcher für die Gewichtsreduzierung gemacht, damit die Eichentür nicht so schwer ist.“ Der Schreiner arbeitet mit zwei weiteren Häftlingen in der Industrieschreinerei der Justizvollzugsanstalt Kassel I. Seinen Gesellenbrief hat er hinter Gittern verliehen bekommen. „Die Zeit, in der ich hier in der Schreinerei bin, bin ich gar nicht im Gefängnis. Das ist so eine Auszeit vom Gefängnis, jeden Tag für mich, fünf Tage die Woche. Die tut mir gut. Die ist ein Ausgleich, und das schätze ich schon seit vielen Jahren.“

Plexiglasabtrennungen für Gerichtsgebäude

Auch die Arbeit, die seine Mitgefangenen und er hier leisten, wird an vielen Orten des Landes geschätzt. Diese Rückmeldung bekommen die Beschäftigten in der Industrieschreinerei des Kasseler Gefängnisses immer wieder. Während der Coronapandemie haben sie vor allem Plexiglasabtrennungen für Gerichtsgebäude in Hessen gefertigt – oder auch für den Besuchsraum in der benachbarten JVA Hünfeld.
Der dortige Gefängnisdirektor Lars Streiberger führt mich in den Raum. „Sie sehen jetzt hier den Besuchsbereich noch unter Coronabedingungen. In Kassel ist das gebaut worden und das ist sehr gut." In Corona-Zeiten hätten sie auf die Vorlage von Tests verzichtet. "Dafür müssen aber diese Corona-Schutzwände installiert werden, damit eben nichts passiert.“
Der Corona-Plexiglasschutz, der in der Schreinerei des Kasseler Gefängnisses gefertigt wurde, kam auch beim wichtigsten Strafprozess der letzten Jahre in Hessen zum Einsatz. Beim Prozess zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke wurde er im Sitzungssaal des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main eingebaut.
Dieser Coronaschutz ist für den Schreinergesellen in der JVA Kassel eher eine leichtere Übung. Er sei schon ein paar Jahre hier, erzählt einer der Häftlinge, "und jedes Jahr kriegt man ein bisschen mehr Erfahrung, ein bisschen mehr Feingefühl.“

Gute Chancen auf einen Job draußen

Das handwerkliche Geschick, das er im Gefängnis ausgebildet hat, will der Schreinergeselle auch bald außerhalb der Gefängnismauern erproben. „Ich habe die Ausbildung gemacht und jetzt einige Jahre hier weitergearbeitet", sagt er. Nach seiner baldigen Entlassung möchte er weiter als Schreiner arbeiten.
Der Häftling weiß, dass angesichts des Handwerker und Handwerkerinnenmangels draußen seine Chancen zurzeit nicht schlecht stehen, eine Stelle zu bekommen. Obwohl er seine Geschichte als „schwerer Junge“ mitbringt. „Im Moment sind die Betriebe sehr interessiert und es spielt auch gar keine große Rolle, welche Vita die Bewerber mitbringen", sagt er. Vor zehn Jahren sei das bestimmt noch anders gewesen. "Da haben die Betriebe mehr gesiebt. Heute sind die so interessiert, dass auch eine Gefängnis-Vita kein großes Problem darstellt.“

Gesellenprüfung hinter Gittern

In den Gewerbehallen rund um den Werkhof in der JVA Kassel spiegelt sich auch der Wandel, der gerade in den Berufsfeldern draußen stattfindet. Die Digitalisierung oder die Mobilitätswende sind Themen, die auch im Gefängnis dazu führen, das es Werkstätten gibt, die auf der Gewinnerseite des Wandels stehen – aber auch Werkbereiche, die zu den Verlierern gehören.
Die Fahrradwerkstatt im Kasseler Gefängnis gehört zu den Gewinnerbetrieben rund um den Werkhof. Sie ist die wichtigste Zweiradwerkstatt aller 17 Gefängnisse in Hessen mit insgesamt 5400 Haftplätzen. „Wir haben hier die Fahrradausbildung, hessenweit die einzige Fahrradausbildung in der JVA. Wie Sie jetzt sehen, sind hier die Auszubildenden noch alle am Arbeiten", sagt Marcel Kattlun. Er leitet in der Werkstatt die Ausbildung.
Rund sechs Gefangene schrauben an den Rädern in der geräumigen Werkstatt. Gleich hinter der Werkshalle liegt ein Schulungsraum, in dem die Theorie-Anteile für die anstehende Mechaniker-Prüfung vermittelt werden können, erklärt Marcel Kattlun. „Die Herrschaften haben jetzt übernächste Woche die Gesellenprüfung. Dann sind die schon fertig, und wir fangen wieder einen neuen Kurs an. Die haben eine zweijährige Ausbildung zum Fahrradmonteur hier in Kassel. Wie Sie schon sehen, können wir auch externe Fahrräder annehmen für Reparaturen, machen wir auch.“

Fahrradmonteure werden gesucht

An einer Werkstandwand sind in zwei Reihen dicht an dicht Räder aufgereiht, die zur Reparatur gebracht worden sind. Die Fahrradwerkstätten außerhalb des Gefängnisses kommen vor allem in den ersten Coronajahren kaum noch nach – so viel wird heute im Kasseler Raum Rad gefahren. Der Verschleiß ist entsprechend hoch.
Die Mechaniker aus dem Knast haben wie auch die Bäcker oder die Schreiner aktuell gute Chancen, eine Beschäftigung zu finden, glaubt Ausbildungsleiter Marcel Kattlun. Es werde händeringend qualifiziertes Fachpersonal gesucht. "Wenn ein Inhaftierter ausgelernt hat, hat er vielleicht Glück und rutscht in diese Branche rein und kann da vielleicht weiterarbeiten. Deshalb macht das auf jeden Fall Sinn, das durchzuziehen. Es wird auch sehr gern angenommen von den Gefangenen.“
Doch ob diesseits oder jenseits der Gefängnismauern – die Zweiradmechanikerinnen und Mechaniker kämpfen seit Corona mit einem Material-Nachschubproblem. „Das merken wir halt auch schon, da haben wir schon Probleme mit.“

Weniger Aufträge in der Buchbinderei

Ein paar Werkshallen weiter gibt es ganz andere Probleme. Die Buchbinderei des Kasseler Gefängnisses gehört zu den Verliererinnen des Wandels in der Arbeitswelt – vor allem der Digitalisierung. Immer mehr juristische Zeitschriften werden von Rechtsanwaltskanzleien oder auch Gerichten nicht mehr als Papierausgaben abonniert – sondern nur noch digital.
Für die Buchbinderei im Gefängnis bedeutet das: Die langjährigen Aufträge, die Zeitschriften-Jahrgänge zu Büchern zu binden, gehen deutlich zurück. Das bestätigt ein Gefangener, der dort arbeitet. Auch er möchte anonym bleiben. „Man merkt natürlich deutlich, dass es weniger wird", sagt er. "Es wäre schön, wenn da tatsächlich mehr reinkommen würde. Das wird aber letztendlich die Zukunft zeigen. Es ist ein Handwerk, das einen hohen Wert hat. Das können sie hier vor Ort sehen.“
Der Häftling – ein kräftiger Mann um die 50 – führt mich durch die Werkstatt und erklärt, worauf es hier ankommt, um am Ende gut gebundene Bücher an die Kundschaft ausliefern zu können. „Erstens schon mal Sauberkeit, Sorgfalt. Der Kollege da vorne, der sortiert die Bücher vor. Das heißt: Klammern ziehen, die Werbung entfernen, Umschläge entfernen. Die werden dann hinten geschnitten, wieder zusammengeleimt von meiner Person. Das erfüllt einen dann schon mit einer gewissen Zufriedenheit, das muss man schon sagen. Wenn man die Qualität dann am Ende des Tages sieht, die Chefin ist zufrieden, und sie können mit gutem Gewissen ausgeliefert werden, dann ist man zufrieden.“
Die Buchbinderei im Kasseler Gefängnis-Werkbereich wird von einer Frau geleitet – der einzigen Meisterin neben 21 Meistern, die in der JVA beschäftigt sind. Ihr Name ist Susanne Bischof-Wagner. Sie berichtet über eine andere Gruppe von Kundinnen, die verloren geht: die umliegenden Kommunen nämlich. Früher hätten viele Gemeinden die Gesetzestexte noch in gebundener Form. "Das ist alles eingestellt worden. Staatsanzeiger, Bundesgesetzblatt oder Verordnungsblatt – das wird gar nicht mehr gebunden, das haben sie alles Online. Als ich meine Lehre gemacht habe, hat mein Chef gesagt: Als er angefangen hat, gab es in dem Kreis 17 Buchbinder. Mittlerweile gibt es da gar keinen mehr in dem Kreis. Auch die Industrie-Buchbindereien hier in Kassel – da sind auch einige schon weg.“

Werkzeuge als potenzielle Waffe

So verschieden der Klang der Schließanlagen ist – eines ist überall in Deutschland gleich. Wenn Häftlinge die Werkstätten und Betriebe verlassen wollen, in denen sie gearbeitet haben, müssen sie Sicherheitsschleusen durchlaufen. Denn in den Schreinereien und Sortierhallen für Autoteile, in den Verpackungsräumen für Badezusätze oder den Zweiradwerkstätten bekommen Gefangene Werkzeuge in die Hand, die auch als Waffe dienen können. Deshalb sind die Arbeitsbereiche der Gefängnisse noch einmal eine besonders abgeschottete Welt im ohnehin für die Außenwelt in der Regel schwer zugänglichen Gefängniskosmos.
Im Gefängnis in Hünfeld prüfen Häftlinge in einem sogenannten Unternehmerbetrieb, ob Mehrfachstecker, die von hier aus direkt in Baumärkte gehen sollen, auch funktionieren. Hier geht es auch um hohe Stückzahlen – wie in den Unternehmerbetrieben im Kasseler Gefängniswerkhof, die für die Autoindustrie produzieren. In Hünfeld wird sogar in einem Zwei-Schicht-Betrieb gearbeitet.
Es sei oft monotone Arbeit, sagt der Gefangene, mit dem ich hier unter Beobachtung sprechen darf. Aber an Arbeit mangele es hier nicht. „In den anderen Gefängnissen waren weniger Arbeitsplätze vorhanden, da gab es auch Leute, die monatelang auf einen Arbeitsplatz warten mussten.“

"Arbeit hat eine ganz essentielle Funktion"

„Arbeit hat eine ganz essentielle Funktion“, sagt Jörg-Uwe Meister, der Leiter der Justizvollzugsanstalt Kassel I. „So wie Arbeit zu haben, eine Beschäftigung zu haben, Geld zu verdienen lebenswichtig ist für uns alle in der normalen freien Welt, so ist es natürlich auch für den Gefangenen genauso wichtig.“
Holzlatten liegen auf einem Stapel in einer Gefängniswerkstatt.
In der Schreinerei der Justizvollzugsanstalt Heilbronn werden Büromöbel gefertigt. Der Lohn ist sehr viel geringer als außerhalb der Gefängnismauern.© picture alliance / dpa / Franziska Kraufmann
Auch im offenen Vollzug könnten Gefangene manchmal tagsüber außerhalb der Gefängnismauern arbeiten, sagt Peter Niesig – der Arbeitsleiter für den Bereich der Außenbetriebe in der JVA Kassel. „Dann wird das auch so praktiziert. Die haben draußen eine ganz normale Arbeitsstelle, wo sie ihre Tätigkeit verrichten und dann wieder abends in die Anstalt in den offenen Vollzug zurückkehren und die Nacht hier verbringen.“

6000 Gefangene im offenen Vollzug

Im vergangenen Jahr waren etwa 6000 Gefangene in Deutschland im offenen Vollzug – das sind etwa 14 Prozent aller Inhaftierten. Wie es mit der Arbeit nach der Haftentlassung weitergeht, dürfen die Gefängnisse nicht erfassen. Doch immer wieder, erklärt mir Ina Wunderlich vom Pädagogischen Dienst im Kasseler Gefängnis, melden Ex-Häftlinge freiwillig zurück, wie es ihnen anderswo ergeht.
„Wir haben jetzt gerade einen, der hat seine Tischlereiausbildung prima abgeschlossen, hat noch eine paar Jahre Haft zu verbüßen in einer anderen Haftanstalt. Er ist heimatnah verlegt worden, aber hat gleich gesagt: Ich melde mich selbstverständlich wieder, sowohl bei meinem Ausbilder, bei meinem Werkmeister, als auch beim Pädagogischen Dienst, damit sie wissen, wie das weitergeht", erzählt Wunderlich. "Der möchte auf jeden Fall später als Tischler arbeiten. Von jemanden, der Fahrrad-Monteur geworden ist, weiß ich, dass der in Kassel eine Anstellung gefunden hat. Das hat ein Kumpel von ihm uns erzählt, und einer der Bäcker, die gerade fertig werden, da sieht es gerade sehr gut aus, dass der direkt, wenn er fertig wird, in eine Bäckerei übernommen werden kann.“
Ein Justizbeamte beaufsichtigt die Arbeit von Häftlingen.
Häftlinge können zur Arbeit verpflichtet werden. Arbeitnehmerrechte genießen sie nicht.© picture alliance / Armin Weigel / dpa / Armin Weigel
Doch einer der Gefangenen, mit denen ich gesprochen habe, wird nicht wieder in einer Fabrik oder Werkstatt arbeiten, wenn er freikommt. Es ist der Mann, der in der Buchbinderei arbeitet. Obwohl er dieses Handwerk schätzt, will er nach seiner Freilassung zurück in die Natur. Denn er ist gelernte Forstwirt. „Für jemanden wie meine Wenigkeit, der naturverbunden ist, der einen grünen Daumen hat, dem fehlt das natürlich, ganz klar.“

Kritik am deutschen Verwahrvollzug

Insgesamt haben alle Gefangenen unter den Coronabedingungen der letzten zwei Jahre noch einmal besonders gelitten. So waren viele Freizeitangebote eingeschränkt – vom gemeinsamen Kochkurs, über Sportveranstaltungen oder Musikarbeitsgruppen. Ein Gefangener, der schon andere europäische Haftanstalten von innen gesehen hat, glaubt auch, dass Deutschland von den Nachbarländern einiges lernen könnte. Denn Arbeit im Gefängnis sei zwar wichtig – aber gemeinsames Kochen in einem Gefängnistrakt auch. „Es ist in Deutschland eher ein Verwahrvollzug." In Spanien oder den Niederlanden gäbe es mehr Freizeitangebote.
Die Gefängnisleitung in Hünfeld, wo der Mann sitzt, verspricht Besserung, wenn die Coronapandemie vorbei ist. „Coronabedingt sind die Angebote im Freizeitbereich sehr, sehr eingeschränkt", sagt Angela von Treskow, die dortige Leiterin der Betriebe. "Wir hoffen alle, dass nach Corona oder wenn die Lockerungen nicht wieder eingeschränkt werden, das eine oder andere wieder in Bewegung bekommt.“
„Wir müssen manchmal aber auch die Gefangenen runterholen von der Palme und müssen ihnen sagen, was geht und was nicht geht“, sagt dagegen Jörg-Uwe Meister, der Leiter der Justizvollzugsanstalt Kassel I, "und ihnen auch klarmachen, welche Voraussetzungen sie haben und welche Voraussetzungen sie zunächst erfüllen müssen.“ Etwa die Arbeitspflicht, die in deutschen Gefängnissen herrsche. Niemand werde zwar zur Arbeit gezwungen. Aber wer nicht arbeitet, muss damit rechnen, länger zu sitzen oder das Taschengeld gestrichen zu bekommen. Deshalb glaubt auch Lars Streiberger, der Leiter der Justizvollzugsanstalt Hünfeld, dass 99 Prozent der Gefangenen gerne arbeiten.
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