Arbeitgeber müssen Familien "zeitlich entlasten"
Drei Viertel aller Eltern in Deutschland mit Kindern unter 18 Jahren klagen über zu wenig Zeit für die Familie. Schuld sind vor allem unflexible Arbeitgeber und öffentliche Einrichtungen, die auf ihre Bedürfnisse nicht eingehen, sagt Johanna Possinger vom Deutschen Jugendinstitut. Sie fordert eine "dezidierte Zeitpolitik für Familien".
Matthias Hanselmann: Viele Familien stehen unter Druck. Viele Eltern hätten gern mehr Zeit für ihre Kinder und ihre Beziehung, aber ihre Arbeitszeiten lassen ihnen zu wenig Raum dafür. Schuldgefühle kommen auf, die Angst, dass eine Vernachlässigung der Kinder schlimme Folgen haben könnte. Dies ausschließlich mit einer neuen Familienpolitik lösen zu können, hält unsere Gesprächspartnerin für zu kurz gedacht. Es kommen zu viele Faktoren zusammen, die berücksichtigt werden müssen. Das Stichwort ist Zeitpolitik . Was man darunter versteht, das erklärt uns jetzt Frau Johanna Pössinger. Sie entwickelt nämlich zeitpolitische Lösungsansätze am Deutschen Jugendinstitut in München und hat unter anderem eine Doktorarbeit zur Vereinbarkeit von Vaterschaft und Beruf geschrieben, Titel: "Neuen Vätern auf der Spur". Frau Pössinger ist jetzt für uns in einem Studio des Bayerischen Rundfunks in München. Willkommen!
Johanna Possinger: Hallo, Herr Hanselmann! Aber es ist "Possinger", wenn ich Sie kurz korrigieren darf.
Hanselmann: Possinger. Entschuldigung! "Das mach ich zwischendurch" – das scheint der meistverwendete Satz von Eltern zu sein, die alles irgendwie auf die Reihe bekommen möchten, vom Wäschewaschen über Einkäufe bis zu Arztbesuchen, und das, ohne dafür eigentlich Zeit zu haben. Ist dieses Zwischendurch ein Gegenstand Ihrer Forschung?
Possinger: Ja, ist es. Diese Bedeutung von Zeitnot von Familien, die hat in der Tat in den letzten Jahres auch in der Familienforschung einen ziemlichen Stellenwert bekommen, einfach weil wir wissen, dass rund drei Viertel aller Familien in Deutschland mit Kindern unter 18 das Gefühl haben, ständig zu wenig Zeit für Familie zu haben. Und das ist natürlich eine sehr hohe Zahl, die deutlich macht, dass hier familienpolitisch etwas geschehen muss. Sie haben ja schon gesagt, ich habe mich auch persönlich mit Zeitstress im Rahmen meiner Doktorarbeit beschäftigt, bei der ich die Vereinbarkeit von Vaterschaft und Beruf untersucht habe, und forsche außerdem seit ein paar Jahren auch zum Bereich der kommunalen Zeitpolitik für Familien.
Hanselmann: Was läuft denn falsch im Umgang der Familien mit der Zeit?
Possinger: Ja, die Schuldigen sind hier eigentlich nicht so sehr die Familien selbst, die mit der Zeit falsch umgehen, sondern bei Zeitknappheit von Familien handelt es sich eigentlich mehr um ein gesellschaftliches Versagen. Denn Familien sind ja umgeben von Strukturen, die ihnen auch Zeiten vorgeben, und die sind leider meist so gestaltet, dass sie Familien unter Zeitdruck setzen. Denken Sie zum Beispiel an Arbeitszeiten, die wenig auf Familie Rücksicht nehmen, denken Sie auch an Betreuungszeiten, die es Familien immer noch sehr erschweren, Beruf und Familie überhaupt miteinander vereinbar zu machen. Also nicht die Familien haben Schuld, wenn die Zeit nicht reicht, sondern die Rahmenbedingungen von Familie.
Hanselmann: Und was läuft mit diesen Rahmenbedingungen falsch?
Possinger: Also ich denke, das grundsätzliche Problem besteht darin, dass sich die Gesellschaft, insbesondere die Arbeitswelt, aber auch die kommunalen Infrastrukturen, noch nicht ausreichend darauf eingestellt haben, dass sich Familien in den letzten Jahrzehnten einfach drastisch verändert haben. In den meisten Familien sind heute beide Eltern erwerbstätig. Das bedeutet, dass beide Eltern auch darauf angewiesen sind, Arbeitszeiten zu haben, die auch Rücksicht auf ihre Zeitbedürfnisse als Eltern nehmen. Das ist aber nur bei knapp der Hälfte der Eltern überhaupt ansatzweise der Fall, der Rest hat sehr starre Arbeitszeiten. Gleichzeitig haben wir im Bereich der Infrastruktur Kitas und Schulen, aber auch Öffnungszeiten von Geschäften, Ärzten, Handwerkern, die zeitlich so gestaltet sind, dass es selbst schwer wird für eine Teilzeitbeschäftigung, das irgendwie auf die Reihe zu kriegen. Und diese Strukturen im öffentlichen Raum, die gehen auch alle davon aus, dass ein Elternteil tagsüber noch frei verfügbar ist, was aber eben nicht mehr der Fall ist. Also wir haben hier Strukturen, die einfach nicht mehr zu den veränderten Lebenswirklichkeiten und Bedarfen von Eltern passen und Familien unter großen Zeitdruck setzen.
Hanselmann: Deswegen verwenden Sie auch diesen Begriff Zeitpolitik. Was müsste denn passieren, damit es anders läuft, welche Reformen schlagen Sie vor, welche zeitpolitischen?
Leichterer Wechsel zwischen Erwerbszeiten und Zeiten für Familie gefordert
Possinger: Also ich denke, wir brauchen in Deutschland wirklich eine dezidierte Zeitpolitik für Familien. Das haben auch die beiden letzten Familienberichte der Bundesregierung gefordert. Dieser Begriff ist immer so ein bisschen sperrig. Grundsätzlich meint Zeitpolitik aber, dass man diese äußeren Strukturen von Familie, die ich gerade genannt habe, dass man die ganz bewusst verändert, um eben Zeitkonflikte zwischen den Bedarfen von Familien, der Arbeitswelt und der Infrastruktur zu verringern. Ja, wo müsste man ansetzen? Also, damit könnte ich mehrere Stunden füllen. Ich beschränke mich mal auf ein paar Aspekte. Ich denke, zum einen müssten wir es hinbekommen, dass Männer und Frauen in ihrem Lebensverlauf insgesamt leichter zwischen Erwerbszeiten und Zeiten für Familie hin- und hergleiten können, und zwar, ohne, dass sie berufliche Nachteile daraus ziehen und als schlechte Arbeitnehmer abgestempelt werden, wenn sie in Elternzeit gehen oder für ein paar Monate auf Teilzeit reduzieren. Hier ist der Gesetzgeber natürlich ganz zentral auf die Mitwirkung von Arbeitgebern und den Gewerkschaften angewiesen, die ihrerseits noch viel größere Anstrengungen unternehmen müssten, um Familien zeitlich zu entlasten, durch die ganze Palette an familienfreundlichen Personalmaßnahmen, zum Beispiel flexible Arbeitszeiten oder Telearbeitsregelungen. Ich denke, ein wichtiger Reformbedarf besteht aber auch im Bereich dieser lokalen Infrastruktur. Also bei Betreuungseinrichtungen, Behörden, Schulen, Handwerkern, dem öffentlichen Nahverkehr, die ihre Zeiten besser auf die Bedarfe von Familien abstimmen müssten.
Possinger: Ja. Ich bleibe mal auf der Ebene der Infrastruktur. Ein schönes Beispiel ist das hessische Hanau, eine Kommune, die schon seit ganz vielen Jahren zeitpolitisch aktiv ist. Denen ist es zum Beispiel gelungen, Öffnungszeiten von Kitas auszuweiten, um den Bedarfen von Eltern besser zu entsprechen. Aber auch Ehrenamtliche dafür zu gewinnen, dass sie Familien Zeit schenken, indem sie zum Beispiel die Kinder von der Schule abholen oder sich an der Betreuung von Pflegebedürftigen beteiligen. Und, was glaube ich auch sehr innovativ ist, es gelang da auch, Ärzte und Handwerker davon zu überzeugen, ihre Dienste an bestimmten Tagen auch mal abends und am Wochenende anzubieten, damit berufstätige Eltern hierdurch einfach unter der meist sehr eng getakteten Woche zeitlich entlastet werden.
Hanselmann: Klingt gut. Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, wir sprechen mit Johanna Possinger vom Deutschen Jugendinstitut in München. Unser Thema: Zeitpolitik statt Familienpolitik. Frau Possinger, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ja immer wieder auch beliebtes Thema der unterschiedlichen Parteien im Wahlkampf. Haben Sie das Gefühl, dass da wirklich ernsthaft nachgedacht und geforscht wird, dass die wirklich wichtigen Fragen gestellt werden?
Possinger: Also in der Tat, Familienpolitik wird von den Parteien vor Bundestagswahlen immer wieder gerne entdeckt und aufgegriffen. Nach den Wahlen hat man dann aber oft das Gefühl, dass das Thema Familie nicht mehr so wichtig ist. Die Wahlprogramme, die sind ja noch nicht endgültig abgestimmt, aber was man bislang so erfährt von den großen Parteien, gibt es da überraschend viele positive Ansätze. Ich halte zum Beispiel für sehr sinnvoll, dass fast alle Parteien bis auf die Union das Betreuungsgeld abschaffen wollen und die Gelder dafür lieber in den Ausbau der Kindertagesbetreuung und der Kindertagespflege stecken wollen. Das ist natürlich für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehr sinnvoll. Positiv ist auch, dass wirklich diese Dimension von Zeitpolitik von allen Parteien mitgedacht wird. Also fast alle setzen sich zum Beispiel für eine leichtere Rückkehr von Teilzeit in Vollzeitbeschäftigung ein. Das ist sehr sinnvoll, weil sich Teilzeit gerade für Mütter oft als Sackgasse erweist, aus der sie nicht mehr herauskommen, auch wenn sie eigentlich gerne wieder mehr arbeiten würden.
Hanselmann: Nach dem, was wir bisher von Ihnen gehört haben, klingt das nach einem, ich sage mal, gigantischen Aufwand. Nicht nur die gesamte Arbeitswelt, sondern auch der gesamte öffentliche Raum und unser Verständnis vom richtigen Umgang mit Zeit müssten demnach ja umgestellt werden. Ist denn das wirklich realistisch, ist das durchführbar oder wird es letztlich eine Utopie bleiben?
Possinger: Ja, die Frage bekomme ich ganz oft gestellt. Ich kann auch sehr gut verstehen, dass das erst mal sehr utopisch klingt. Allerdings muss man auch bedenken, dass es natürlich in der Vergangenheit auch immer wieder Anregungen aus der Wissenschaft gegeben hat, die zunächst von der Politik als völlig utopisch abgetan wurden, dann aber doch umgesetzt wurden. Denken Sie zum Beispiel an das Elterngeld und seine Partnermonate. Da hätten wir uns, glaube ich, 2002, als viele auch gesagt haben, das sei Utopie, nicht träumen lassen, dass es fünf Jahre später tatsächlich dann auch da ist. Aber ganz abgesehen davon ist Familienpolitik, denke ich, sehr stark aufgefordert, sich auch wirklich am konkreten Bedarf von Familien zu orientieren. Und wir haben hier eben Handlungsbedarf, Familien zeitlich besser zu entlasten. Ich glaube auch gar nicht, dass der Aufwand so gigantisch wäre. Weil sowohl bei den Arbeitgebern als auch bei den Kommunen, um jetzt mal bei diesen zwei Akteuren zu bleiben, hat sich die Bereitschaft, sich über Familienfreundlichkeit Gedanken zu machen, in den letzten Jahren doch sehr gesteigert. Das liegt auch daran natürlich, weil Arbeitgeber zunehmend erkennen, dass es auch die Loyalität und die Motivation von Mitarbeitern steigert, wenn sie deren zeitlichen Familienbedürfnissen auch entsprechen. Und auch die Kommunen haben ein Eigeninteresse daran, denn es steigert ja auch ihre Attraktivität, wenn Familien durch eine zeitsensible und bedarfsgerechte Infrastruktur gute Lebensbedingungen geboten bekommen. Also ich denke, es ist weniger eine Utopie, sondern eher das stetige Bohren von sehr dicken Brettern.
Hanselmann: Zeitpolitik keine Utopie, sondern zum Teil schon Realität, sagt Johanna Possinger, Leiterin der Fachgruppe Familienpolitik und Familienförderung am Deutschen Jugendinstitut in München. Zum Thema Zeitpolitik: Ihr neues Buch, "Neuen Vätern auf der Spur", erscheint im Juni im Springer VS-Verlag. Danke, Frau Possinger, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben. Schönen Tag noch, tschüs!
Hanselmann: Gleichfalls, tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Possinger: Ja, ist es. Diese Bedeutung von Zeitnot von Familien, die hat in der Tat in den letzten Jahres auch in der Familienforschung einen ziemlichen Stellenwert bekommen, einfach weil wir wissen, dass rund drei Viertel aller Familien in Deutschland mit Kindern unter 18 das Gefühl haben, ständig zu wenig Zeit für Familie zu haben. Und das ist natürlich eine sehr hohe Zahl, die deutlich macht, dass hier familienpolitisch etwas geschehen muss. Sie haben ja schon gesagt, ich habe mich auch persönlich mit Zeitstress im Rahmen meiner Doktorarbeit beschäftigt, bei der ich die Vereinbarkeit von Vaterschaft und Beruf untersucht habe, und forsche außerdem seit ein paar Jahren auch zum Bereich der kommunalen Zeitpolitik für Familien.
Hanselmann: Was läuft denn falsch im Umgang der Familien mit der Zeit?
Possinger: Ja, die Schuldigen sind hier eigentlich nicht so sehr die Familien selbst, die mit der Zeit falsch umgehen, sondern bei Zeitknappheit von Familien handelt es sich eigentlich mehr um ein gesellschaftliches Versagen. Denn Familien sind ja umgeben von Strukturen, die ihnen auch Zeiten vorgeben, und die sind leider meist so gestaltet, dass sie Familien unter Zeitdruck setzen. Denken Sie zum Beispiel an Arbeitszeiten, die wenig auf Familie Rücksicht nehmen, denken Sie auch an Betreuungszeiten, die es Familien immer noch sehr erschweren, Beruf und Familie überhaupt miteinander vereinbar zu machen. Also nicht die Familien haben Schuld, wenn die Zeit nicht reicht, sondern die Rahmenbedingungen von Familie.
Hanselmann: Und was läuft mit diesen Rahmenbedingungen falsch?
Possinger: Also ich denke, das grundsätzliche Problem besteht darin, dass sich die Gesellschaft, insbesondere die Arbeitswelt, aber auch die kommunalen Infrastrukturen, noch nicht ausreichend darauf eingestellt haben, dass sich Familien in den letzten Jahrzehnten einfach drastisch verändert haben. In den meisten Familien sind heute beide Eltern erwerbstätig. Das bedeutet, dass beide Eltern auch darauf angewiesen sind, Arbeitszeiten zu haben, die auch Rücksicht auf ihre Zeitbedürfnisse als Eltern nehmen. Das ist aber nur bei knapp der Hälfte der Eltern überhaupt ansatzweise der Fall, der Rest hat sehr starre Arbeitszeiten. Gleichzeitig haben wir im Bereich der Infrastruktur Kitas und Schulen, aber auch Öffnungszeiten von Geschäften, Ärzten, Handwerkern, die zeitlich so gestaltet sind, dass es selbst schwer wird für eine Teilzeitbeschäftigung, das irgendwie auf die Reihe zu kriegen. Und diese Strukturen im öffentlichen Raum, die gehen auch alle davon aus, dass ein Elternteil tagsüber noch frei verfügbar ist, was aber eben nicht mehr der Fall ist. Also wir haben hier Strukturen, die einfach nicht mehr zu den veränderten Lebenswirklichkeiten und Bedarfen von Eltern passen und Familien unter großen Zeitdruck setzen.
Hanselmann: Deswegen verwenden Sie auch diesen Begriff Zeitpolitik. Was müsste denn passieren, damit es anders läuft, welche Reformen schlagen Sie vor, welche zeitpolitischen?
Leichterer Wechsel zwischen Erwerbszeiten und Zeiten für Familie gefordert
Possinger: Also ich denke, wir brauchen in Deutschland wirklich eine dezidierte Zeitpolitik für Familien. Das haben auch die beiden letzten Familienberichte der Bundesregierung gefordert. Dieser Begriff ist immer so ein bisschen sperrig. Grundsätzlich meint Zeitpolitik aber, dass man diese äußeren Strukturen von Familie, die ich gerade genannt habe, dass man die ganz bewusst verändert, um eben Zeitkonflikte zwischen den Bedarfen von Familien, der Arbeitswelt und der Infrastruktur zu verringern. Ja, wo müsste man ansetzen? Also, damit könnte ich mehrere Stunden füllen. Ich beschränke mich mal auf ein paar Aspekte. Ich denke, zum einen müssten wir es hinbekommen, dass Männer und Frauen in ihrem Lebensverlauf insgesamt leichter zwischen Erwerbszeiten und Zeiten für Familie hin- und hergleiten können, und zwar, ohne, dass sie berufliche Nachteile daraus ziehen und als schlechte Arbeitnehmer abgestempelt werden, wenn sie in Elternzeit gehen oder für ein paar Monate auf Teilzeit reduzieren. Hier ist der Gesetzgeber natürlich ganz zentral auf die Mitwirkung von Arbeitgebern und den Gewerkschaften angewiesen, die ihrerseits noch viel größere Anstrengungen unternehmen müssten, um Familien zeitlich zu entlasten, durch die ganze Palette an familienfreundlichen Personalmaßnahmen, zum Beispiel flexible Arbeitszeiten oder Telearbeitsregelungen. Ich denke, ein wichtiger Reformbedarf besteht aber auch im Bereich dieser lokalen Infrastruktur. Also bei Betreuungseinrichtungen, Behörden, Schulen, Handwerkern, dem öffentlichen Nahverkehr, die ihre Zeiten besser auf die Bedarfe von Familien abstimmen müssten.
Possinger: Ja. Ich bleibe mal auf der Ebene der Infrastruktur. Ein schönes Beispiel ist das hessische Hanau, eine Kommune, die schon seit ganz vielen Jahren zeitpolitisch aktiv ist. Denen ist es zum Beispiel gelungen, Öffnungszeiten von Kitas auszuweiten, um den Bedarfen von Eltern besser zu entsprechen. Aber auch Ehrenamtliche dafür zu gewinnen, dass sie Familien Zeit schenken, indem sie zum Beispiel die Kinder von der Schule abholen oder sich an der Betreuung von Pflegebedürftigen beteiligen. Und, was glaube ich auch sehr innovativ ist, es gelang da auch, Ärzte und Handwerker davon zu überzeugen, ihre Dienste an bestimmten Tagen auch mal abends und am Wochenende anzubieten, damit berufstätige Eltern hierdurch einfach unter der meist sehr eng getakteten Woche zeitlich entlastet werden.
Hanselmann: Klingt gut. Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, wir sprechen mit Johanna Possinger vom Deutschen Jugendinstitut in München. Unser Thema: Zeitpolitik statt Familienpolitik. Frau Possinger, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ja immer wieder auch beliebtes Thema der unterschiedlichen Parteien im Wahlkampf. Haben Sie das Gefühl, dass da wirklich ernsthaft nachgedacht und geforscht wird, dass die wirklich wichtigen Fragen gestellt werden?
Possinger: Also in der Tat, Familienpolitik wird von den Parteien vor Bundestagswahlen immer wieder gerne entdeckt und aufgegriffen. Nach den Wahlen hat man dann aber oft das Gefühl, dass das Thema Familie nicht mehr so wichtig ist. Die Wahlprogramme, die sind ja noch nicht endgültig abgestimmt, aber was man bislang so erfährt von den großen Parteien, gibt es da überraschend viele positive Ansätze. Ich halte zum Beispiel für sehr sinnvoll, dass fast alle Parteien bis auf die Union das Betreuungsgeld abschaffen wollen und die Gelder dafür lieber in den Ausbau der Kindertagesbetreuung und der Kindertagespflege stecken wollen. Das ist natürlich für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehr sinnvoll. Positiv ist auch, dass wirklich diese Dimension von Zeitpolitik von allen Parteien mitgedacht wird. Also fast alle setzen sich zum Beispiel für eine leichtere Rückkehr von Teilzeit in Vollzeitbeschäftigung ein. Das ist sehr sinnvoll, weil sich Teilzeit gerade für Mütter oft als Sackgasse erweist, aus der sie nicht mehr herauskommen, auch wenn sie eigentlich gerne wieder mehr arbeiten würden.
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Possinger: Ja, die Frage bekomme ich ganz oft gestellt. Ich kann auch sehr gut verstehen, dass das erst mal sehr utopisch klingt. Allerdings muss man auch bedenken, dass es natürlich in der Vergangenheit auch immer wieder Anregungen aus der Wissenschaft gegeben hat, die zunächst von der Politik als völlig utopisch abgetan wurden, dann aber doch umgesetzt wurden. Denken Sie zum Beispiel an das Elterngeld und seine Partnermonate. Da hätten wir uns, glaube ich, 2002, als viele auch gesagt haben, das sei Utopie, nicht träumen lassen, dass es fünf Jahre später tatsächlich dann auch da ist. Aber ganz abgesehen davon ist Familienpolitik, denke ich, sehr stark aufgefordert, sich auch wirklich am konkreten Bedarf von Familien zu orientieren. Und wir haben hier eben Handlungsbedarf, Familien zeitlich besser zu entlasten. Ich glaube auch gar nicht, dass der Aufwand so gigantisch wäre. Weil sowohl bei den Arbeitgebern als auch bei den Kommunen, um jetzt mal bei diesen zwei Akteuren zu bleiben, hat sich die Bereitschaft, sich über Familienfreundlichkeit Gedanken zu machen, in den letzten Jahren doch sehr gesteigert. Das liegt auch daran natürlich, weil Arbeitgeber zunehmend erkennen, dass es auch die Loyalität und die Motivation von Mitarbeitern steigert, wenn sie deren zeitlichen Familienbedürfnissen auch entsprechen. Und auch die Kommunen haben ein Eigeninteresse daran, denn es steigert ja auch ihre Attraktivität, wenn Familien durch eine zeitsensible und bedarfsgerechte Infrastruktur gute Lebensbedingungen geboten bekommen. Also ich denke, es ist weniger eine Utopie, sondern eher das stetige Bohren von sehr dicken Brettern.
Hanselmann: Zeitpolitik keine Utopie, sondern zum Teil schon Realität, sagt Johanna Possinger, Leiterin der Fachgruppe Familienpolitik und Familienförderung am Deutschen Jugendinstitut in München. Zum Thema Zeitpolitik: Ihr neues Buch, "Neuen Vätern auf der Spur", erscheint im Juni im Springer VS-Verlag. Danke, Frau Possinger, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben. Schönen Tag noch, tschüs!
Hanselmann: Gleichfalls, tschüs!
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