Arbeitskampf

Wie weit darf Streik gehen?

Ein DB-Mitarbeiter steht an einem leeren Bahngleis im Hauptbahnhof in Stuttgart - als Folge des GDL-Streiks.
Ein DB-Mitarbeiter steht an einem leeren Bahngleis im Hauptbahnhof in Stuttgart - als Folge des GDL-Streiks. © dpa / picture alliance / Wolfram Kastl
Gäste: Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell und die Unternehmerin Barbara Pommer |
Piloten, Lokführer, Erzieher - es wird gestreikt an allen Ecken, und 2015 hat das Potenzial, zum Streikjahr zu werden. Wie viel Streik ist eigentlich noch angemessen? Darüber diskutieren die Juristin Barbara Pommer und der Arbeitsmarktforscher Stefan Sell.
2015 hat das Zeug, zum Streikjahr zu werden: Erst blieben die Piloten am Boden, die Lokführer legten gleich neunmal die Republik lahm. Derzeit sind die Kita-Erzieherinnen im Ausstand – nicht zu vergessen die Briefträger und die Mitarbeiter von Amazon. Bis Mitte Mai gab es bereits über 350.000 Streiktage – mehr als doppelt so viel wie im gesamten Vorjahr. Und ein Ende der Arbeitskämpfe ist nicht in Sicht.
Wie weit darf Streik gehen?
"Nicht so weit wie im Moment, sagt Barbara Pommer. Die Juristin und Unternehmerin ist Vorsitzende der Kommission Arbeitsmarktpolitik beim Wirtschaftsverband "Die Familienunternehmer".
"Es kann nicht sein, dass eine kleine Gruppe ein ganzes Land lahm legt – das ist nicht verhältnismäßig. Der volkswirtschaftliche Schaden ist immens; wir reden allein bei der Bahn von Millionen Euro pro Tag – und irgendwo landet das ja auch alles wieder bei uns! Es gibt keinen Grund, solch einen Druck auszuüben, weder bei der Bahn, noch in den Kitas oder bei den Piloten. Das kann nicht stimmen, dass die so viele Leute in Geiselhaft nehmen können!"
Die Folgen für die Firmen seien fatal: "Das ist für die Arbeitgeber ein Riesenproblem. Ich bin flexibel mit meiner Firma, aber wenn in anderen Firmen die Bänder nicht besetzt werden können, dann steht die ganze Produktion still."
Das Streikrecht müsse unbedingt angepasst werden: "Dass man Warnstreiks eindämmt, zumindest im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge. Das Ding heißt Warnstreik und sollte nicht länger als ein oder zwei Stunden dauern." Wenn es um das generelle Streikrecht gehe, müsse auch da die Verhältnismäßigkeit gelten. "Ein endgültiger Streik sollte erst dann erfolgen, wenn man zumindest einmal in der Schlichtung war."
"Flapsig formuliert könnte man sagen, dass der Streik auch nicht mehr das ist, was er mal war," sagt Stefan Sell,Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik der Hochschule Koblenz. "Er war mal ein wichtiger, allerdings überaus dosiert eingesetzter Baustein in der `normalen´ Tarifauseinandersetzung. Diese Zeiten sind immer mehr vorbei."
Heute fänden neun von zehn Streiks im Dienstleistungsbereich statt; die Tariflandschaft sei zersplittert, die Arbeitsbedingungen würden immer härter. Damit steige der Druck auf die Gewerkschaften, aber auch die Konkurrenz untereinander:
"Zum Beispiel im Einzelhandel: Da gab es bis zum Jahr 2000 gute Verhältnisse, weil der Tarifvertrag für den Einzelhandel allgemein verbindlich war. Alle Unternehmen mussten sich daran halten. Dann hat das die rot-grüne Bundesregierung abgeschafft – auf Druck der Arbeitgeber –, und seit dem Jahr 2000 haben wir jedes Jahr zig Berichte über Lohndumpingversuche im Einzelhandel. Und jetzt lohnt es sich, sich gegenseitig über die Konkurrenz Lohnvorteile zu verschaffen.
Die Politik untergrabe zudem mehr und mehr das Streikrecht, zum Beispiel mit dem gerade verabschiedeten Tarifeinheitsgesetz.
"Das ist ein historischer Zeitpunkt, den wir erleben: Eine sozialdemokratische Arbeitsministerin beschädigt das Streikrecht, und diese Beschädigung wird sich nicht nur gegen die renitente Lokführergewerkschaft GDL richten, sondern die Gewerkschaften insgesamt treffen."
Alle Räder stehen still … Wie weit darf Streik gehen?
Darüber diskutiert Matthias Hanselmann heute von 9:05 bis 11 Uhr mit Barbara Pommer und Stefan Sell. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 2254 2254, per E-Mail unter gespraech@deutschlandradiokultur.de sowie auf Facebook und Twitter.
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