Jugend wählt zwischen IS oder Europa
Der Attentäter von Sousse war ein Student mit ungewisser Zukunft. Die Arbeitslosenquote liegt in Tunesien bei 15 Prozent – unter den Jüngeren ist sie weit höher. Der IS dagegen soll jungen Männern 2000 Euro zahlen. So heißt die Wahl für einige: IS oder Europa?
Ausnahmezustand in Tunesien. Schon wieder. 2011 war er während der Revolution verhängt und erst letztes Jahr aufgehoben worden – als Tunesien sein Parlament wählte und sich eine Verfassung gab. Doch jetzt hat Präsident Beji Caid Essebsi den Ausnahmezustand wieder aktiviert. Gut eine Woche hat der Staatschef nach dem Mord an 38 Strandurlaubern verstreichen lassen, um den Tunesiern per Fernsehansprache zu sagen, was sie schon lange wissen: Das Land befindet sich im Krieg gegen den Terror.
"Tunesien, das uns allen am Herzen liegt, leidet unter schwierigen Umständen. Sie sind außergewöhnlich und verlangen nach außergewöhnlichen Maßnahmen, um ihnen zu entgegnen. Ich sage es mit aller Deutlichkeit: Wenn sich so etwas wie in Sousse wiederholt, dann geht das Land unter."
Tunesiens Premierminister Essid hat inzwischen das Versagen der Polizei eingestanden und unter anderen den Gouverneur von Sousse entlassen. Versprochen hat er außerdem mehr als 1300 zusätzliche Polizisten für Strände und Hotels. Aber dabei soll es nicht bleiben. Tunesien will kämpfen – um seine Feriengäste, um seinen Ruf, um seine Stabilität. Aber ein Ruck geht nicht durchs Land: Tunesien scheint wie gelähmt – nicht einmal Staatstrauer wurde angeordnet. Das Attentat, gab Präsident Essebsi gegenüber dem französischen Sender Europe 1 zu, habe Tunesien kalt erwischt.
"Ja, wir wurden von dieser Attacke überrascht. Wir waren darauf eingestellt, dass im Fastenmonat Ramadan etwas geschehen könnte – aber niemals hätten wir damit gerechnet, dass ein Täter sich Strände und Urlauber als Ziele aussucht."
Fehleinschätzung des Präsidenten
Dabei hätte schon im März das Blutbad im Nationalmuseum von Tunis Warnung genug sein müssen: Damals wurden 21 ausländische Touristen erschossen, damals hatte sich – wie nun auch wieder – der so genannte Islamische Staat zu der Tat bekannt. Und dennoch sprach Präsident Essebsi am Wochenende tatsächlich davon, er habe geglaubt, der Angriff auf das Bardo-Museum sei nicht nur der erste, sondern auch der letzte Terroranschlag gewesen.
Im Rückblick eine falsche Einschätzung der Bedrohungslage – denn wie die Attentäter vom Bardo soll auch Seifeddine Rezgui, der Täter vom Strandhotel, in einem IS-Camp im benachbarten Libyen ausgebildet worden sein. Das alles ist Wasser auf die Mühlen derer, die Tunesiens greisen Präsidenten und seine farblose Technokraten-Regierung als gescheitert ansehen.
Der Ausnahmezustand ist nun die Antwort auf diese Kritik: Der Staat handelt, und er macht die Ausnahme wieder zur Normalität für ganz Tunesien, für mindestens einen Monat. Die Armee bekommt weitreichende Vollmachten. Sie darf Verdächtige festnehmen und auf Menschen schießen, die sich widersetzen. Die Presse- und Versammlungsfreiheit wird eingeschränkt, 80 Moscheen mit radikalislamischem Hintergrund sollen geschlossen werden. Mit einem Verbot muss auch die Salafistenpartei Hizb Ettahrir rechnen – obwohl sie sich bislang zumindest gewaltfrei verhält. Parteifunktionäre wollen dagegen klagen, Sündenböcke wollen sie nicht sein.
Michael Ayari von der International Crisis Group glaubt, dass autoritäre Maßnahmen wenig bringen. Hassprediger könnten einfach in den Untergrund wandern. Aber das eigentliche Problem sei der Sicherheitsapparat, der den Ausnahmezustand nun umsetzen soll.
"Tunesiens Sicherheitsapparat ist eine Baustelle – und das schon seit der Revolution vor vier Jahren. Manche Agenten waren schon in der Zeit der Ben-Ali-Diktatur tätig. Tunesien braucht ein nachhaltiges Sicherheitskonzept, eine echte Strategie – statt einfach nur zurück in alte Zeiten zu fallen mit mehr Repression."
Kein Vertrauen in Polizei und Behörden
Genau hier, so Ayari, setze der Islamische Staat an:
"Der Islamische Staat profitiert davon – ganz klar. Das Problem ist nicht die Abwesenheit von Sicherheit, sondern die Tatsache, dass sie nicht funktioniert. Der IS spielt Teile der jungen Bevölkerung gegen den Staat aus. Und das gelingt dem IS, denn: Die Polizei ist brutal, die Menschen haben das Gefühl, dass sie nicht gerecht behandelt werden, dass die Behörden korrupt sind, dass sie sich nicht um Gesetze scheren – und schon gar nicht um Menschenrechte."
Mit einem Ausnahmezustand alleine lasse sich der Dschihad nicht bekämpfen – schon gar nicht in Tunesien. Fest steht: 15 Prozent der Menschen sind arbeitslos, vor allem junge Leute, selbst Studenten wie der Täter von Sousse, haben keine Perspektive. IS oder Europa – das sei die Alternative, sagen Beobachter. Mehr als 3000 junge Tunesier soll der IS von Libyen, Syrien und vom Irak aus bereits angeworben haben – und sie gut bezahlen – 2000 Euro für junge Männer, heißt es, 1500 Euro für Mädchen und junge Frauen.
"Tunesien hat keine 2000 Euro für jeden einzelnen Arbeitslosen", gibt Präsident Essebsi zu.
"In vielen Regionen gibt es extreme Armut, dort sind vor allem junge Leute marginalisiert, sie haben keine Arbeit, auch wenn sie studieren und deswegen fallen sie dieser radikalen Propaganda zum Opfer."
Es klingt wie ein Offenbarungseid. Vier Jahre nach der Revolution wartet die junge Generation immer noch darauf, dass die Kernforderungen von damals erfüllt werden: Arbeit, Freiheit, und Würde. Wie tief der soziale Riss durch Tunesien geht, wie schnell aus Frust religiös getränkte Gefahr werden kann, zeigt einer der letzten Facebook-Einträge des Attentäters von Sousse. Dort heißt es: "Helden in Gräbern, Männer in Gefängnissen, Verräter in Palästen und Diebe in hohen Ämtern – das ist die tunesische Politik." Tunesiens Regierung jedoch spricht lieber weiter von einer "Bedrohung von außen".