Rechtshilfe auf dem Bürgersteig
Wechselnde Sachbearbeiter, hohe Krankheitsstände, immer wieder verschwinden Unterlagen: Viele Bescheide und Entscheidungen der Jobcenter sind anfechtbar. Doch viele Hartz-IV-Empfänger trauen sich das nicht oder wissen nicht, was ihre Rechte sind. In Berlin gibt es einen Beratungsbus, in dem Anwälte ehrenamtlich beraten. Und ihre Arbeit ist dringend notwendig.
Im 30-Sekundentakt öffnet sich die Automatiktür zum Jobcenter Neukölln. Mehr als 100 Menschen drängen sich dahinter im Erdgeschoss des sechsstöckigen Glasbaus. Es ist 7.45 Uhr morgens.
Vor dem Jobcenter wuchten zwei Männer einen Stehtisch auf den Bürgersteig. Holen dann einen Infotresen aus dem Kleinbus, danach zwei Aufsteller: "Irren ist amtlich" steht darauf – und: "Beratung kann helfen".
Romana Doppler eilt über den Bürgersteig, nimmt noch schnell einen Schluck Kaffee aus dem Pappbecher. Gestern ist die Anwältin aus dem Urlaub zurückgekommen. Heute berät sie vor dem Jobcenter. Ehrenamtlich. Eine Initiative des Berliner Arbeitslosenzentrums.
Alles ist amtlich geregelt
Eine Frau, Mitte fünfzig, wartet mit ihrem Freund schon. Ein wenig abseits, vor sich eine große Shopping-Tasche mit Aktenordnern. Aus einer getigerten Tragetasche lugen Dokumentenhüllen.
"Weil wir einfach der Meinung sind, dass das von dem Geld vorne und hinten alles nicht hinhaut. Und deswegen wollen wir das mal alles überprüfen lassen. Das sie einfach mal gucken und erklären, was was ist, weil man sieht ja durch das ganze Zeug nicht mehr durch."
Romana Doppler geht in Position. Vor ihr liegt ein schwarz-gelb laminierter DIN-A-3- Bogen wie eine überdimensionale Speisekarte. "Regelbedarf 2014" steht in der obersten Zeile. Das Hartz IV-Menü.
"Da sind so die wichtigsten Zahlen drauf, was in den Bescheiden immer aufgeführt und wo man kurz mal gucken kann, ob das was in den Bescheiden ist, richtig ist."
Regelbedarfe, Mehrbedarfe. Allleinstehend, alleinerzerziehend. Wohnung mit Durchlauferhitzer. Oder ohne. Alles ist amtlich geregelt.
"In den Bescheiden sieht das dann auch noch mal anders aus. Und dann muss man dann auch noch Wiedererkennen, wo was davon aufgeführt ist."
Das Pärchen mit der großen Tragetasche packt seine Aktenordner auf den Tisch.
Das Jobcenter hat die Leistungen gekürzt. Die Anwältin beginnt zu blättern.
Pärchen: "Hallo, es geht darum, ob sie da mal vielleicht durchgucken können mit dem Geld, wie das auflistet ist."
Doppler: "Dann kann ich ihnen ja auch immer mal kurz sagen, wo sie drauf achten müssen."
Die Frau bezieht ALG II. Arbeitet zurzeit für 1,70 die Stunde. Sie wohnt zusammen mit Freund und Sohn. Jetzt beginnt der eine Ausbildung. Das Jobcenter hat die Leistungen gekürzt. Die Anwältin beginnt zu blättern.
Unterdessen kommt ein junger Mann in Jeans und Sweatshirt aus dem Jobcenter. Steuert den Beratungsbus an. Er ist zu 40 Prozent behindert, erzählt er. Und möchte gerne arbeiten. Sein Sachbearbeiter im 3. Stock konnte ihm nicht helfen
"Da gibt es einen bestimmten Antrag für Schwerbehinderte auf Mehrbedarf und da wollte ich einfach mal gucken, ob das auf mich zutrifft. Und dann mal gucken, ob die Beratungsstelle mir ein bisschen mehr helfen kann, dass ich da ein bisschen mehr Druck machen kann."
Dopplers Kollege Markus Wahle bittet den jungen Mann um etwas Geduld. Seit sechs Jahren schon berät Wahle vor Jobcentern. Eine Tour dauert sechs Wochen. Immer finanziert aus Spenden. Von Kirchengemeinden, Gewerkschaften, Privatpersonen. Das Land Berlin gibt keinen Cent.
Wechselnde Sachbearbeiter, hohe Krankheitsstände, viele Jobcenter arbeiten am Rande ihrer Belastbarkeit. Da passieren Fehler. So sind 37 Prozent der Widersprüche in Berlin erfolgreich. Ziehen Leistungsempfänger vor das Sozialgericht, gewinnen sie fast jeden zweiten Prozess.
Die Berater auf dem Bürgersteig entdecken immer wieder Fehlberechnungen. Auch bei dem Paar mit der Shopping-Tasche voller Aktenordner.
Doppler: "Okay. "
Pärchen: "Danke."
Doppler: "Bitte."
Pärchen: "Supi, haha, allet geregelt. Da werde ich jetzt Widerspruch einlegen und schauen wir mal ob es etwas bringt."
Einen Tipp gibt die Anwältin den beiden noch mit auf den Weg, wie allen Ratsuchenden: Unterlagen immer beim Jobcenter persönlich abgeben, wenn möglich Kopien. Und immer gegen Eingangsbestätigung:
"Weil das eine riesige Behörde ist und die Sachbearbeiter laufend wechseln, kommen Unterlagen weg, das ist auch kein Geheimnis. Ganz viele schicken dann immer mit Einschreiben, was aber ein bisschen blöd ist. Weil da steht ja nur drauf, dass ein Brief angekommen ist und nicht was es ist."
"Der Bedarf ist da"
Als nächstes ist der junge Mann in Jeans und Sweatshirt an der Reihe. Romana Doppler wirft kurz einen Blick auf die Unterlagen, geht zum Bus, spricht mit einem Kollegen. Zwei Minuten später ist dem Ratsuchenden geholfen.
"Da gibt es auch so ein spezielles Programm für Schwerbehinderte. So ne Abteilung, da muss ich nochmal hinrennen, da muss ich nochmal weiterfragen. Also sie haben mir schon weitergeholfen..."
Zwanzig Beratungsgespräche führt Romana Doppler an diesem Morgen. Nach fünf Stunden ist für die Anwältin vor dem Jobcenter Feierabend.
Markus Wahle und sein Kollege verstauen Aufsteller und Stelltisch im Kleinbus. Morgen geht es weiter. Vor dem nächsten Job-Center..
"Im Grunde genommen könnten sie diesen Bus das ganze Jahr durch von einem Jobcenter zum anderen fahren lassen. Der Bedarf ist da, sie werden sich nicht langweilen..."