Arbeitsmarkt
Baustelle Arbeitsmarkt: Den Fachkräftemangel sollten wir als Anreiz verstehen, unsere Arbeitswelt und Einwanderungspolitik zu verändern, findet die Autorin Sieglinde Geisel. © Getty Images / Drazen_
Der Fachkräftemangel ist eine Chance
Es fehlen in Deutschland überall Arbeitskräfte. Was für die Wirtschaft zunächst einmal schlecht ist, bietet gleichzeitig das Potenzial zu gesellschaftlicher Erneuerung, meint die Autorin Sieglinde Geisel, und zu einer anderen Migrationspolitik.
Der Fachkräftemangel bietet Anreize für lauter Dinge, die wir uns wünschen – oder zumindest wünschen sollten. Die Umkehrung der Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt bringt mehr Veränderung als jedes Reformprogramm: Wenn Arbeitskräfte ein rares Gut sind, steigt ihr Wert.
Man muss dafür sorgen, dass sie im Unternehmen bleiben. Bessere Löhne allein werden dafür nicht reichen: Der Fachkräftemangel ist ein Anreiz, mit der Work-Life-Balance endlich ernst zu machen. Ja mehr noch, er ist eine Einladung, Arbeit grundsätzlich neu zu denken.
Wer hat eigentlich bestimmt, dass Akademiker:innen viel mehr verdienen sollen als Bäcker, Pflegekräfte oder Erzieher:innen? Die Pandemie hat uns den Begriff „systemrelevante Berufe“ beschert, er zeigt, wie absurd diese Ungleichheit ist.
Weg mit der protestantischen Arbeitsmoral
Auch bei der Arbeitszeit müssen wir umdenken. Durch die Debatte geistert gelegentlich die Idee, man könne dem Fachkräftemangel durch eine Verlängerung der Arbeitszeit auf 42 Stunden abhelfen.
Doch ein Mensch ist keine Maschine: Er liefert nicht zwei Stunden mehr Output, wenn man ihn zwei Stunden länger arbeiten lässt. Im Gegenteil: Aktuelle Studien haben ergeben, dass Menschen mehr produzieren, wenn man ihre Arbeitszeit reduziert, die Work-Life-Balance wird dabei gratis mitgeliefert.
Der Haken an der Sache: Um diese Erkenntnis umzusetzen, müssten wir uns von der protestantischen Arbeitsmoral verabschieden.
Mit „internen“ Maßnahmen allein lässt sich das Defizit allerdings nicht beheben: Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, benötigt Deutschland eine Nettoeinwanderung von 400.000 Personen pro Jahr.
Diese Menschen sind heute nicht mehr so leicht zu bekommen wie in der Zeit der Anwerbeabkommen. Die Mittelmeerländer, aus denen ab den 50er-Jahren die Gastarbeiter kamen, haben ihr Lohnniveau gesteigert, das gilt auch für die anderen EU-Länder. Daher ist Deutschland auf Einwanderer aus sogenannten Drittländern angewiesen.
Es heißt oft, man dürfe die Fluchtmigration nicht mit der Erwerbsmigration vermischen – als fänden sich unter den Flüchtlingen keine potenziellen Arbeitskräfte. Das ist natürlich Unsinn, die Schnittmenge dürfte beträchtlich sein.
Nehmen wir „Moria White Helmets“, die Selbstorganisation der Flüchtlinge auf Lesbos. Sie nutzen Facebook, um der Welt zu zeigen, was sie können: In Eigenregie haben sie eine Schule eingerichtet, um ihre Kinder zu unterrichten, es gibt Friseursalons, sie halten die Elektrizität am Laufen und sorgen für Ordnung inner- und außerhalb des Camps.
Es gibt keine guten Gründe dafür, dass sie all dies nicht bei uns tun, sondern in einem Flüchtlingscamp, auf Kosten der EU, unter prekärsten Bedingungen und ohne Perspektive.
Migration ist kein Problem, sondern Teil der Lösung
Gegen Einwanderung gibt es nur ein nicht-rassistisches Argument: die Angst vor Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Mit dem Fachkräftemangel ist dieses Argument obsolet geworden. Selbst in Großbritannien werden die Einwanderungsgesetze gelockert, gerade der Brexit hat gezeigt, dass Migranten nicht das Problem sind, sondern Teil der Lösung.
Deutschland trägt dieser Tatsache mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz Rechnung. Das Gesetz muss nachgebessert werden, denn es hat sich gezeigt, dass bürokratische Hürden wie die Anerkennung von Abschlüssen und bereits vorhandene Deutschkenntnisse der Realität nicht gerecht werden. Denn es kommen keine perfekten Fachkräfte, sondern Menschen, die etwas können und auf die wir uns einlassen müssen.
Der Fachkräftemangel bietet das Potenzial für eine Erneuerung der Gesellschaft, getrieben nicht von Utopien, sondern von Pragmatismus. Ob es uns gelingt, daraus eine Win-win-Situation zu machen, hängt von unserem Mut zur Veränderung ab.