Städtetag warnt vor "apokalyptischen Visionen"
Der Präsident des Deutschen Städtetages, Ulrich Maly, hat davor gewarnt, die Anwesenheit finanziell bedürftiger Bulgaren und Rumänen in Deutschland zu skandalisieren und zu dramatisieren.
Korbinian Frenzel: Kommen zu viele Bulgaren und Rumänen nach Deutschland, in unsere Städte, in unsere Sozialsysteme? Seit Bulgarien und Rumänien zur EU gehören, seitdem in der Tat viele die Chance genutzt haben, sich frei in Europa zu bewegen, seither haben wir diese Debatte. Einen ersten Hilferuf gab es vor Monaten von den Oberbürgermeistern aus Duisburg und Dortmund, und den jüngsten Stoff für die Auseinandersetzung liefern die Sozialgerichte, die sich nämlich uneins sind hierzulande: Haben Zugewanderte Anrecht auf Sozialhilfe oder haben sie es nicht? Es ist in jedem Fall ein Thema mit Empörungspotenzial, über das es sich mal ganz sachlich zu reden lohnt. Und ich freue mich, dass der Nürnberger Oberbürgermeister und Präsident des Deutschen Städtetages zugesagt hat für dieses Interview. Ich begrüße den Sozialdemokraten Ulrich Maly – guten Morgen!
Ulrich Maly: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Kommen zu viele Bulgaren und Rumänen nach Deutschland?
Maly: Nein. In dieser Pauschalität ist die Aussage, glaube ich, völlig unsinnig. Es geht auch gar nicht darum, irgendwas zu skandalisieren oder apokalyptische Visionen zu formulieren. Wir haben unterdurchschnittlich viele Bulgaren, Rumänen, und die meisten von denen sind entweder Studierende oder arbeiten sozialversicherungspflichtig, wie die meisten anderen EU-Europäer auch, die zu uns kommen. Das Problem, das wir beschreiben, ist das Problem einer ganz bestimmten Schicht von Menschen, die schon im Heimatland, also in Bulgarien und Rumänien, ausgegrenzt und prekarisiert sind, und deren Integration bei uns besondere Leistungen erfordert. Das ist aber nicht die pauschale Verteufelung jetzt von europäischer Freizügigkeit. Die Städte in Deutschland, die schätzen diese Freizügigkeit. Die Entwicklung der europäischen Stadt ist ohne Wanderungsbewegungen auch gar nicht denkbar.
Frenzel: Das heißt also, ich übersetze mal, es kommen zu viele von den Falschen. Sollte man da besser sagen, die sollten nicht kommen, da sollte man Restriktionen einführen?
Maly: Nein. Das ist überhaupt keine Lösung im Rahmen der Freizügigkeit. Ich glaube, die erste Lösung ist, dass man den Menschen, viele davon sind Roma, in ihrer Heimat hilft, sich dort ordentlich auch zu etablieren, und die zweite Lösung ist, dass man denjenigen, die zu uns kommen, auch ordentlich mit Integrationsleistungen in der Bundesrepublik Deutschland hilft. Wir haben noch nie nach dem Runterlassen von Grenzschlagbäumen und dem Hochziehen von Zäunen gerufen, sondern wir sagen, wer zu uns kommt, ist zunächst willkommen. Wir müssen nur aufpassen, dass es nicht bei uns auch zur sozialen Prekarisierung kommt. Das ist ein bisschen in Duisburg der Fall, der Kollege hat auch zahlenmäßig, bezogen auf die Stadtgröße die größte Zuwanderung solcher schwieriger sozialer Schichten. Darum sich zu kümmern, ist der Hilferuf der Städte, nicht etwa, irgendwelche Grenzen hochzuziehen.
Frenzel: Die Städte sind also überfordert mit dieser Aufgabe?
Maly: Ja, wir haben da durchaus Schwierigkeiten, kulturelle Schwierigkeiten. Es ist, Sie haben es erwähnt in Ihrem Vorspruch, die sozialrechtliche Lage im Moment höchst ungeklärt. Da wird man abwarten müssen, wie das Bundessozialgericht sich dazu verhält. Und ich denke – ich möchte den Bogen ein bisschen weiter spannen –, dass gerade Deutschland auch noch eine historische Schuld abzutragen hat an den Roma, und dass wir deshalb die Menschen umso mehr nicht verteufeln dürfen, sondern uns dem Thema sehr seriös zuwenden und gucken, welche Instrumentarien der Integration, die wir ja alle geübt und gelebt haben in den letzten Jahrzehnten, brauchen wir? Welche helfen, welche neuen müssen wir uns vielleicht ausdenken und erfinden, um den Menschen dann auch bei uns ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
Frenzel: Was mich wundert, Sie haben es ja angesprochen, auch Duisburg, ich hab es anfangs erwähnt, Dortmund, Duisburg, Städte aus dem Ruhrgebiet, Städte, die ja selbst sowieso schon – ja, man kann das so sagen – arm sind, die eine schwierige Sozialstruktur haben. Warum landet Arbeitsmigration eigentlich so häufig dort und nicht da, wo es glitzert und glänzt, in München oder Hamburg?
Maly: Schwer zu sagen. Freizügigkeit ist Freizügigkeit, das heißt, die Menschen entscheiden, wo sie hingehen. Die kommen schon zu uns auch, die kommen nach München, nach Nürnberg, in andere Städte. Aber signifikant und auffällig ist es tatsächlich dort im Ruhrgebiet. Vielleicht, weil Armut auf ohnehin schon nicht vorhandenen großen Reichtum trifft. Weil die Städte auch in ihrer eigenen Problemlösungskompetenz natürlich gehandicapt sind durch ihre Haushaltslage. Und darum sind die diejenigen gewesen, die, sage ich mal, die Problemanzeige zunächst am pointiertesten formuliert haben.
Frenzel: Wenn wir mal auf diesen Streit gucken, den die Landessozialgerichte da gerade ausfechten und der letztendlich vor dem Bundessozialgericht landen wird, die Frage nämlich, ob Menschen Anrecht haben auf Sozialhilfe, auf Hartz IV. Was ist Ihre Position? Sollten wir davon lieber die Finger lassen oder ist das ein Recht für Menschen, die zum Beispiel schon, wie in dem konkreten Fall, ein Jahr hier sind?
Maly: Das ist schwer zu sagen. Wenn was gerichtsanhängig ist beim Bundesgericht, dann ist es müßig, eine Position zu formulieren, denn entscheiden werden am Ende die Richter …
Frenzel: Was ist Ihre Meinung?
Maly: Bei uns steht im SGB drin, dass, wer nur zur Arbeitssuche kommt, aus Europa, dass der zunächst nicht sozialhilfeberechtigt ist. Ich denke, die Sozialhilfe als letzte Instanz muss eigentlich prinzipiell möglichst wenig Ausschlussgründe kennen. Wie es am Ende aber ausgeht, weiß ich nicht. Sie wissen, vor Gericht und auf hoher See – auch, wenn jetzt der Richter entscheidet, im Bundessozialgericht, dass es für die Menschen keine Hartz-IV-Leistungen gibt, entlässt uns das als Städte nicht aus der Verantwortung, uns um die kümmern. Dann muss man eben andere Instrumente erfinden, und das ist ja auch Teil des Hilferufs, den die Städte formuliert haben.
Frenzel: Es gibt ja den bösen Begriff des Sozialtourismus, also dass Menschen ganz gezielt dorthin reisen, wo sie Sozialleistungen kriegen. Glauben Sie, dass es den gibt?
Maly: Nein, den gibt es nicht, weil die momentane Rechtslage eben so ist, wie sie ist. Das heißt, es gibt eben keine Hartz-IV-Leistungen, das sind nicht Menschen, die kommen und gehen mit aufgehaltener Hand zum Amt. Die kommen aus anderen Gründen. Weil sie zu Hause unterdrückt, vielleicht auch sich verfolgt fühlen. Die kommen, weil sie glauben, dass sie bei uns ein besseres Leben finden. Das sind Gründe, die man zunächst mal respektieren muss auch als bundesdeutscher Mitbürger, weil wir uns möglicherweise, wären wir in der gleichen Situation, ähnlich verhalten würden. Und wir müssen uns darum kümmern, dass es hier in Deutschland ein nach unseren Maßstäben und Standards menschenwürdiges Leben gibt. Entweder mit Hartz-IV-Leistungen, oder, wenn das Sozialgericht sagt, es bleibt alles so, wie es ist, dann eben mit anderen Hilfsinstrumenten. Von diesen Parolen, von diesen vereinfachenden Parolen nach dem Motto "Grenzen hoch" und "verhindert die Armutszuwanderung", davon halte ich nichts. Die Freizügigkeit ist ein hohes Gut in Europa. Die sollten wir, gerade wir Deutschen auch schätzen.
Frenzel: Das sagt der Präsident des Deutschen Städtetages, der Oberbürgermeister von Nürnberg, der Sozialdemokrat Ulrich Maly. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Maly: Bitte schön, Herr Frenzel!
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