Kapitalismus und Arbeitsmoral
Besonders unter Jüngeren soll es eine zunehmende Arbeitsunlust geben. Doch woher kommt sie? Darüber gehen die Meinungen weit auseinander. © IMAGO / Westend61 / Joseffson
Arbeitsunlust - eine rationale Reaktion auf eine irrationale Wirtschaft
Ist die Arbeitsmoral junger Menschen wirklich gesunken? Und mangelt es allerorten an Leistungsbereitschaft? Für den Publizisten Mathias Greffrath steckt hinter der neuen Null-Bock-Mentalität etwas anderes als einfach nur Unlust oder Faulheit.
Der Bäcker um die Ecke hat einen Tag in der Woche geschlossen. „Neulich hat sich eine Halbtagskraft zum Verkauf beworben“, sagt mir die Frau hinter dem Tresen, „aber als sie Samstagvormittag hörte, ging sie wieder: Das gehe nicht, sie habe Freitagabend ihren Mädelstag.“
„Wir kriegen einfach keine Lehrlinge mehr.“ – „Nicht mal Sie in diesem Nobelschuppen?“, fragte ich den Oberkellner. Der würdige Herr stützte sich auf einen der Mahagonistühle: „Nicht einmal wir. Und wissen Sie, woran es liegt?“ - "Am Gehalt?" - „Nein, wir zahlen gut. Es liegt an den Sozialen Medien. Da kommen junge Männer mit völlig unrealistischen Vorstellungen im Kopf: Leichte Arbeit, viel Urlaub und möglichst schnell ein schneller Wagen. Das sind die Influencer, die ihnen das vorführen.“
Erosion der Leistungslust
Der Gastronom, die Bäckerin, der Klempnermeister – sie alle klagen über den Nachwuchs, seine Qualifikationen, seine Arbeitsunlust, vor allem aber: sein Ausbleiben. Und nicht nur sie: Schulleiter klagen über die Halbtagslehrer, Unternehmensberater über das heilige Wochenende, Behördenchefs über den Krankenstand und die Nine-to-five-Mentalität.
Die politischen Moralapostel stimmen gerade einmal wieder ihren Chor an: Die haben keinen Bock mehr, sagt der Arbeitgeberfunktionär Kampeter. Und die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, legt nach: Der Arbeitsplatz ist kein Ponyhof. Ihre Empörung ist bestenfalls naiv, populistisch ist sie allemal, denn diese Erosion der Leistungslust kam nicht erst mit den Influencern und dem Internet.
Keine Systemverweigerer - ganz im Gegenteil
Das Missverhältnis zwischen Arbeitsmoral und hedonistischen Ansprüchen ans Leben hat der konservative Soziologe Daniel Bell schon in den 70er-Jahren als den „kulturellen Widerspruch des Kapitalismus“ identifiziert. Kurz gesagt: Der Arbeitsprozess erfordert Disziplin und Beständigkeit, aber zu seinem Überleben braucht der Kapitalismus die ständige Ausweitung der Bedürfnisse, die immer neuen Produkte. Und dieser Widerspruch hat sich mit der steigenden Produktivität von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verschärft.
Es gibt die Unlust in zwei Klassen: Zum einen bei den unterbezahlten Jobs in unattraktiven Dienstleistungen, bei denen homo oeconomicus und seine Freundin sich ausrechnen, dass es sich nicht lohnt zu arbeiten, statt sich die Miete und ein karges Dasein vom Jobcenter bezahlen zu lassen. Sie optimieren das Verhältnis von Nutzen und Aufwand, folgen damit nur dem Grundgesetz allen Wirtschaftens – keine Systemverweigerer, sondern Adepten der ökonomischen Logik.
Eine Etage höher gibt es viele, zumeist akademisch ausgebildete Arbeitnehmer, denen das Wochenende heilig ist und die um 17 Uhr den Exit-Knopf drücken. "Arbeitnehmermentalität", knurren die Chefs.
Ungestilltes Sinnbedürfnis
Es ist komplizierter: Viele dieser, vor allem jungen Menschen, die schon im Einstellungsgespräch von Work-Life-Balance reden, wünschen sich einen sinnvollen Job. Einen Beruf eben. Gleichzeitig haben sie mehr als nur ein Gespür für die krisenhafte Welt, in der sie und ihre Kinder leben. Die Automatisierung untergräbt die Stabilität von Arbeitsverhältnissen, die Unausweichlichkeit des Klimawandels nährt den Zweifel an einem Wirtschaften, bei dem Kapitalproduktivität und Weltzerstörung zusammengehen.
So bleiben sie distanziert, weil ihr Sinnbedürfnis ungestillt bleibt. Sie arbeiten gut für gutes Geld, aber mehr auch nicht. Sie sind keine Euphoriker der Erschöpfung, wie die Start-up-Kultur sie hervorbringt. Sie engagieren sich außerhalb der Arbeit oder sie sind politisch resigniert und finden ihren Sinn in Freundschaften und im Kulturgenuss.
Null-Bock-Mentalität als rationale Reaktion
Es ist psychologisch verständlich, aber nutzlos, mit arbeitsmoralischer Empörung über Null-Bock-Mentalität zu klagen und an die produktivistische Volksgemeinschaft zu appellieren. Aber der Wert der Arbeit wird erst steigen, wenn es wieder Gewerkschaften gibt, die Löhne erkämpfen, für die es sich lohnt, auch in anspruchslosen oder sinnlosen Jobs zu arbeiten – wenn es schon aus Rentabilitätsgründen nicht gelingt, sinnlose Arbeit zu automatisieren.
Und wenn die Angehörigen der akademischen Berufe wieder so etwas wie ein altbürgerliches Berufsethos entwickeln und statt in Kompensationskonsum auszuweichen, für Schulen kämpfen, in denen sie nicht früh resignieren müssen, für ein Gesundheitssystem, in dem sie wieder Ärzte sein können, für eine Industrie, in der sie als Ingenieure und Volkswirte gemeinsam daran arbeiten, die Erde zur Heimat aller zu machen.
Erst wenn wir die Null-Bock-Mentalität als rationale Reaktion auf ein irrationales Wirtschaften begreifen, kann das Nachdenken über Abhilfen fruchtbar werden.
Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für „Die Zeit“, die „taz“ und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen unter anderem: „Montaigne – Leben in Zwischenzeiten“ und das Theaterstück „Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?“