Gedopt ins Büro
Stress, Leistungsdruck, permanente Verfügbarkeit: Viele Menschen stoßen im Arbeitsalltag an ihre Leistungsgrenzen - und ertragen das tägliche Hamsterrad nur noch unter Drogen. Dabei nehmen Männer eher Aufputsch- und Frauen eher Beruhigungsmittel, meint der Trendforscher Peter Wippermann.
Viele Menschen haben offenbar angesichts der gestiegenen beruflichen Anforderungen in einer veränderten Arbeitswelt die Orientierung verloren und greifen zu Hilfsmitteln wie Medikamenten, Drogen oder Alkohol, um den beruflichen Stress auszuhalten. Dabei reagierten Männer und Frauen unterschiedlich. "Männer versuchen mehr Leistung zu zeigen, sie nutzen Medikamente, die sie aufputschen", so Wippermann. "Frauen haben eher Angst vor der Situation und nehmen eher Beruhigungsmittel."
Letztlich schützt Wippermann zufolge nur "Eigeninitiative" den Einzelnen vor diesem Stress: "Und diese Eigeninitiative ist etwas, was den Jüngeren sozusagen selbstverständlich erscheint, den Älteren eher beängstigend."
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Sie haben es vielleicht schon gelesen oder gehört, ziemlich viel ist darüber berichtet worden über die Bertelsmann-Stiftungs-Studie, die zusammen mit der Krankenkasse Barmer GEK erstellt wurde, gestern veröffentlicht wurde und die besagt, dass der Job für immer mehr Arbeitnehmer in Deutschland zum Hamsterrad wird, dem sie nicht mehr entrinnen. Ein paar – ich will nicht zu viele nennen – konkrete Zahlen dazu: 18 Prozent der deutschen Arbeitnehmer stoßen angeblich oft an ihre Leistungsgrenzen, jeder Zweite meint, selbst keinen Einfluss auf die Arbeitsmenge zu haben und 40 Prozent sagen das auch über die Arbeitsziele. Das ist die eine Studie.
Und heute kommt es vermutlich noch dicker: In gut vier Stunden veröffentlicht nämlich eine andere Krankenkasse, die DAK, ihre Studie dazu, wie viele Arbeitnehmer ihren Berufsalltag nur noch unter Medikamenteneinfluss aushalten. Eine ähnliche Studie von der DAK gab es schon vor sechs Jahren, da kam heraus, dass zwei Millionen irgendwelche Drogen, Medikamente, Alkohol, Ähnliches, konsumieren, um den beruflichen Stress durchzuhalten. Wohin soll das noch führen? Fragen dazu jetzt an den Hamburger Trendforscher Peter Wippermann, unter anderem Autor des Buchs „Lebe lieber froh! Neue Strategien für ein zufriedenes Leben". Schönen guten Morgen, Herr Wippermann!
Peter Wippermann: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Wohin wird es führen? Kann man in Zukunft vielleicht nur noch glücklich sein, wenn man nicht arbeitet?
Wippermann: Nein, mit Sicherheit nicht, Arbeit das ist ganz wichtig für das Leben und auch für die eigene Weiterentwicklung und Erfüllung im Leben. Aber das, was wir im Moment beobachten können, das ist einfach die Individualisierung der Arbeit: Also die Eigenverantwortung, wie wir mit Arbeit umgehen, steigt. Die klassische Trennung zwischen Arbeit und Freizeit, die früher selbstverständlich war, verschwindet allmählich und die Einteilung von Zeit wird zur echten Herausforderung. Und das kann man in diesen Studien übereinstimmend erkennen. Es geht einfach darum, dass viele Leute im Moment die Orientierung verloren haben, versuchen sozusagen, Leistung zu zeigen, innerlich aber nicht bereit sind und dann zu Hilfsmitteln greifen.
Lebensqualität wichtiger als Geld
Kassel: Aber wenn Sie sagen, die Eigenverantwortung steigt und die Bertelsmann-Studie sagt, die Hälfte der Arbeitnehmer hat die Ansicht, sie hat gar keinen Einfluss auf die Art ihrer Arbeit, auf die Ziele, und 40 Prozent sagen, auch nicht auf die Arbeitsmenge – ist das nicht ein Widerspruch?
Wippermann: Nein, es ist, glaube ich, kein Widerspruch. Auf der einen Seite erleben wir so eine Steigerungslogik in den klassischen Unternehmen, das heißt, man möchte jedes Jahr bessere Ergebnisse haben, meistens für die Aktionäre. Gleichzeitig ist es so, dass die Sinnhaftigkeit der Arbeit für viele Leute überhaupt nicht mehr plausibel ist, das heißt, man weiß eigentlich gar nicht, warum man zur Arbeit geht, außer, dass man Geld dafür bekommt.
Und diese Geldwerteorientierung verliert allmählich, Lebensqualität wird wichtiger, und wenn man in die jüngeren Jahrgänge guckt, dann sieht man eben, dass genau das Thema Lebensqualität auch die Arbeitsplätze bestimmt. Das heißt, man geht nicht mehr in die klassischen Bereiche der Arbeit, wo man Geld bekommt, jedes Jahr etwas mehr Geld bekommt, aber eigentlich überhaupt keine Lust hat, da hinzugehen, sondern man geht dahin, wo man wieder Spaß an der Arbeit hat, wo man Sinn in der Arbeit sieht und wo man auch Leute trifft, mit denen man etwas gemeinsam machen kann.
Kassel: Aber werden in Zukunft wirklich viele Menschen diese Wahl haben? Wir stellen uns ja immer diese Kreativberufe vor mit dem kostenlosen Biojoghurt und den riesigen Büros, aber der Alltag der meisten Menschen sieht doch ganz anders aus?
Wippermann: Der Alltag der meisten Menschen sieht ganz anders aus und da muss man relativ nüchtern hinschauen: Diese Arbeitsplätze werden am ehesten wegrationalisiert. Das, was wir jetzt im Moment auf der CeBIT erleben unter dem Stichwort Industrie 4.0, ist ja nichts anderes als die Vernetzung von Maschinen mit Menschen. Und das bedeutet, dass viel, sagen wir, stumpfsinnige Arbeit – vor allem in der Verwaltung – einfach verschwinden wird. Und dann haben wir auf der einen Seite neue Ideen zur Arbeitswelt, die wir im Moment schon beobachten können bei den Jüngeren und vor allen Dingen bei den IT-getriebenen Angeboten, und wir haben sozusagen dramatisches Schrumpfen in den Verwaltungsbereichen, sagen wir, Versicherungen, Banken und Handel.
"Männer und Frauen reagieren unterschiedlich"
Kassel: Aber das ist ja immer diese Sache: Man kann ja immer sagen, wir werden in Zukunft – wir haben schon jetzt einen Fachkräftemangel –, wir werden in Zukunft generell einen Arbeitskräftemangel haben. Auf der anderen Seite: Was nützt das jemandem, der vielleicht sagt, ich sehe mich gar nicht als der große Kreative, ich bin halt kein Diplomingenieur, ich arbeite halt im Büro, eigentlich tue ich es auch ganz gerne, aber inzwischen nicht mehr?
Wippermann: Also man kann es ja immer nur in Modellen beobachten. Wenn Sie im Moment das Thema autonomes Fahren sehen, das heißt, dass Leute nicht mehr ein Auto lenken müssen, dann sind sofort die Taxifahrer in irgendeiner Weise betroffen, es ist die gesamte Logistikkette betroffen. Und Sie wissen, dass diejenigen, die sich nicht weiterentwickeln, einen ungeheuren Stress haben, weil sie wissen auf der einen Seite überhaupt nicht, ob ihre Firma noch langfristig existieren wird, und auf der anderen Seite, ob ihre Qualifikation ausreicht, ein Leben lang sozusagen Grundlage der Ernährung zu sein und der Lebenshaltungskosten zu sein.
Und das ist, glaube ich, etwas, was man auch in diesen Zahlen sehen kann: Die Leute haben tatsächlich Stress, sie wissen nicht, wie sie darauf reagieren, und das Interessante ist ja: Männer und Frauen reagieren darauf unterschiedlich. Männer versuchen, mehr Leistung zu zeigen, sie nutzen Medikamente, die sie aufputschen, und Frauen haben eher Angst vor der Situation und nehmen eher Beruhigungsmittel.
Kassel: Aber das klingt für mich jetzt ein bisschen so, als wollten Sie mir sagen: Wer diese Probleme hat, wen, ich formuliere es mal so, wen sein Beruf fertig macht, der ist auch selber schuld?
Wippermann: Nein, das möchte ich überhaupt nicht sagen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass sozusagen die Individualisierung der Arbeit etwas ist, was langsam, aber mit wachsender Geschwindigkeit zu beobachten ist, in der Zukunft zunehmen wird, und dass es eben nicht mehr die Gewerkschaft ist oder große Gruppen sind, die uns davor vermeintlich schützen werden, sondern es ist die Eigeninitiative. Und diese Eigeninitiative ist etwas, was den Jüngeren sozusagen selbstverständlich erscheint, den Älteren eher beängstigend erscheint.
Niemand hält es aus, immer erreichbar zu sein
Kassel: Also bezogen auf die Zahlen sagen Sie: Wenn die Hälfte der Leute sagt, ich habe überhaupt keinen Einfluss mehr auf meine Arbeitsziele, wobei, bei der Frage waren es 40 Prozent, um genau zu sein, dann liegt es an diesen 40 Prozent, zu sagen, ich nehme mir diesen Einfluss wieder?
Wippermann: Das wäre die idealste Antwort darauf, also zu überlegen, was mache ich eigentlich mit meinem Leben, wie investiere ich sozusagen meine Arbeitszeit und wem gebe ich sie? Und man kann sehr gut sehen: In der Finanzkrise ist sowohl die Bereitschaft sozusagen, sich einer Firma konsequent unterzuordnen von der Zeit, extrem zurückgegangen, das heißt, die Leute waren weniger bereit, ihre Firma zu unterstützen, weil sie gar nicht wussten, was mit diesen Firmen passiert, und gleichzeitig ist es so, dass wir jetzt allmählich wieder eine Beruhigung haben. Das heißt also, in dem Moment, wo es keine Orientierung gibt in der Arbeitswelt, gibt es Stress bei jedem, der nicht selber Verantwortung übernimmt.
Kassel: Die Frage ist ja auch inzwischen nicht mehr nur, wie gestresst bin ich von 9 bis 18 Uhr oder was für eine Arbeitszeit ich auch immer habe, Sie haben es am Rande schon erwähnt: Die Zeiten sind ja vorbei, wo man nach Hause geht und dann hat man bis zum nächsten Morgen Ruhe. Man ist per Handy ständig erreichbar, man kann sich in vielen Firmen von zu Hause mit dem Computer einwählen, E-Mails kriegt man sowieso. Dieser Trend wird ja weitergehen, aber in welche Richtung? In die Richtung, dass wir souveräner abschalten, das Handy zum Beispiel, oder in die Richtung, dass wir souveräner damit leben, immer erreichbar zu sein?
Wippermann: Also ich glaube, immer erreichbar zu sein hält niemand aus. Wir werden dafür sozusagen sensibel sein müssen, Zeiten tatsächlich festzulegen, wo wir nicht erreichbar sind. In Amerika gibt es diesen wunderbaren Begriff 'Digital Detox', also die Entgiftung von digitaler Erreichbarkeit. Das ist etwas, was früher selbstverständlich war, was vorgeschrieben war, dass wir uns eben von der Arbeit verabschieden und Freizeit haben. Das hat dann zur Kommerzialisierung der Freizeit geführt. Aber im Moment ist es so, dass diese Begriffe Arbeit, Freizeit fließend geworden sind, vor allen Dingen im digitalen Bereich, im Bereich der Smartphones, dass wir selber entscheiden müssen: Wir melden uns ab und sind erst, was weiß ich, am nächsten Morgen wieder erreichbar für geschäftliche Dinge.
Kassel: Ich versuche das auch wieder, aber ich erzähle jetzt nicht, ob es klappt. Ich danke Ihnen für das Gespräch! Der Trendforscher Peter Wippermann war das über die Arbeit, so wie sie sich jetzt ein bisschen darstellt nach aktuellen Studien und wie sie sich in Zukunft entwickeln kann, soll, muss und vielleicht auch wird. Herr Wippermann, vielen Dank!
Wippermann: Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.