"Wertschöpfung entsteht durch Wertschätzung"
Lediglich 15 Prozent der Deutschen sind laut Studien bei der Arbeit hochmotiviert. Das Versagen ihrer Chefs ist einer der Gründe, sagen Forscher. Der Münchner Sozialpsychologe Dieter Frey warnt vor den Folgen für die Unternehmen.
Deutschlandradio Kultur: Tacheles kommt heute aus München, genauer gesagt, vom Center for Leadership and People Management am Lehrstuhl für Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität. Der Lehrstuhlinhaber heißt Dieter Frey. Guten Tag, Herr Prof. Frey.
Dieter Frey: Guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Herr Frey, sprechen wollen wir in dieser Sendung über einen zentralen Bereich der Sozialpsychologie, mit dem Sie sich seit Jahrzehnten beschäftigen, nämlich mit der – global gesagt – Arbeitswelt. Bei der Vorbereitung fiel mir eines auf: Ganz gleich, welche Themen mir für unser Gespräch in den Sinn kamen, sei es die Bedeutung der Arbeit für den Einzelnen, sei es das Phänomen der inneren Kündigung oder sei es das Thema Burnout, stets spielen Führungskräfte, deren Fähigkeiten wie Defizite, eine ganz zentrale Rolle. Offensichtlich sind die Chefs von noch größerer Bedeutung für das Wohl und Wehe in einem kleinen Betrieb wie in einem großen Konzern, als zumindest ich das erwartet hätte. Daher schlage ich vor, wir fangen mal mit den Führungskräften an, mit dem Führungspersonal.
Was macht eine gute Führungspersönlichkeit aus?
Klare Ziele und Erwartungen erzeugen
Dieter Frey: Eine gute Führungskraft ist dann vorhanden, wenn sie eine Vision hat, klare Ziele und Erwartungen erzeugen und vereinbaren kann und wenn sie gleichzeitig die Menschen mitnimmt. Nun ist die Frage, wohin soll sie sie mitnehmen. Da sind es aufgrund unserer Forschung drei Kulturen, die eine gute Führungskraft schaffen sollte, nämlich auf der einen Seite eine Exzellenzkultur. Egal, ob es sich um ein Krankenhaus, ein Altersheim oder eine kommerzielle Organisation handelt, es geht um Leistung. Es geht um Qualität. Es geht um Innovation.
Zum zweiten eine, ich nenne es mal Kultur der gegenseitigen Wertschätzung, denn diese Exzellenzkultur wird geschafft von Menschen. Das heißt, man muss sie anständig, fair und vertrauensvoll behandeln. Und zum dritten eine Kultur, die wir hier ethikorientierte Führung nennen. Das heißt, dass die Führungskräfte in allen Hierarchiestufen durch die sogenannten "drei V" geprägt sind: Vorbild, Verantwortung, Verpflichtung.
Also, eine gute Führungskraft setzt Ziele, setzt die Erwartungen, nimmt die Menschen mit und überzeugt sie, dass es um gute Leistung geht, aber gleichzeitig um eine faire anständige Behandlung. Und in all dem, was sie tut, übernimmt sie Verantwortung, ist Vorbild und fühlt sich verpflichtet, diese Kulturen umzusetzen.
Deutschlandradio Kultur: Wir werden das im Laufe dieses Gesprächs noch vertiefen. Zunächst mal folgende Frage: Es scheint schwer zu sein, die von Ihnen genannten Kriterien zu erfüllen, denn – so haben Sie es selbst mal formuliert – "hierzulande ist etwa jede zweite Führungskraft eine Fehlbesetzung". – Warum ist das so? Warum kommen so oft die falschen Leute an die Spitze?
Antennensystem, was angesagt ist
Dieter Frey: Ja, na gut, man muss sich immer überlegen, es ist ja so ein Dreitausendmeter-Hindernislauf, um Karriere zu machen. Da zeigt sich oft das Folgende, dass Personen, die sehr narzisstisch sind, im Mittelpunkt stehen wollen, Personen, die sehr machtbegierig sind, also fast so etwas wie machtpolitische Selbstverwirklichung zeigen, dass dies natürlich eine Riesentriebfeder ist, nach oben zu kommen. Interessanterweise haben vor allem Personen, die die machtpolitische Selbstverwirklichung zeigen, auch ein gutes Antennensystem, was angesagt wird.
Insofern kommen oft die Falschen nach oben, nämlich solche, die nur sehr egoistisch sind, sehr narzisstisch und sehr machiavellistisch, und die eben nicht nur für Exzellenz und nur für gegenseitige Wertschätzung stehen. Sie wollen sich selbst verwirklichen. Das heißt, sie halten sich oft für wichtiger als das Krankenhaus, als das Altersheim, als die Schule, als die Organisation.
Deutschlandradio Kultur: Teilen Sie die Einschätzung, dass es Narzissten in diesem Zusammenhang oft eben auch an sozialer Kompetenz fehlt?
Dieter Frey: Ja, weil nur die Person selber sich als wichtigen Faktor zählt – im Sinne von: "I, myself and me. Diese Personen lassen andere oft nicht groß werden. Sie sind auch sehr empfindlich gegenüber jeglicher Art von Kritik. Wenn sie Sozialkompetenz zeigen, dann immer meist nur aus strategischen Gründen. Das heißt, es kommt nicht von Herzen. Sie sind sehr oft sozial kompetent, sonst würden sie nicht nach oben kommen. Sie sind oft sogar sehr aalglatt, wollen vordergründig es vielen recht machen, reden Leuten nach dem Mund, sind Taschenträger. Und oft zeigen diese Menschen erst ihr wahres Gesicht, wenn sie oben sind.
Deutschlandradio Kultur: Nicht jeder oder nicht jede kann führen. Ich denke, das ist eindeutig. Was gehört sozusagen zur nicht erlernbaren Grundausstattung für eine Führungsaufgabe? Und was kann man erlernen?
Kultur von gegenseitiger Wertschätzung
Dieter Frey: Das ist eine gute Frage, ob man sagen kann, viele Dinge kann man nicht erlernen. Jetzt gehe ich mal davon aus, dass ich ein bisschen optimistisch bin und sage: Fast alle Dinge kann man erlernen, allerdings nicht von allen und von allen gleich viel.
Zunächst braucht man eine ganz hohe Belastbarkeit, eine physisch und psychische Belastbarkeit. Denn wenn man Ziele erreicht, Probleme löst, für eine Exzellenz-Kultur kämpft, für eine Kultur gegenseitiger Wertschätzung, dann hat man es ja immer auch mit Schwierigkeiten zu tun, mit schwierigen Mitarbeitern, schwierigen Kunden, schwierigen Kollegen. Und ich brauche deshalb Belastbarkeit und ich brauche vor allem Durchsetzungsfähigkeit – nicht Durchsetzungsfähigkeit im Sinne der vorher genannten machtpolitischen Selbstverwirklichung, sondern dass man aufgrund der Vision, aufgrund der Oberziele seine Ziele durchsetzt, also die Kultur von Exzellenz und die Kultur von gegenseitiger Wertschätzung.
Und jetzt weiß man leider, Belastbarkeit hat durchaus ihre Grenzen. Menschen sind unterschiedlich belastungsfähig, also multitasking-fähig, körperlich, seelisch belastbar. Und das braucht eine Führungskraft. Weiterhin, sie muss auch über Durststrecken hinweg kommen, über Schwierigkeiten hinwegkommen, das heißt, dass sie nicht im Sinne von Eintagsfliegen handelt, sondern sie muss dranbleiben, dranbleiben, dranbleiben.
Sie muss immer Menschen überzeugen. Da ist neben der Belastbarkeit ein zweiter Punkt. Nicht alle Menschen haben Kommunikationsfähigkeiten. Das heißt, ich muss überzeugen. Ich muss auch rhetorische Qualitäten haben. Ich muss einen Menschen auch von unangenehmen Dingen überzeugen. Denn Führung bedeutet sehr oft ein Management von Enttäuschungen, wo ich trotz der Enttäuschung die Leute im Boot haben muss.
Diese Fähigkeiten – Sozialkompetenzen, Kommunikationskompetenz – sind in der Tat begrenzt. Ich will jetzt nicht sagen, dass man da nicht dazulernen kann, aber die Grenzen sind unterschiedlich, wie weit Menschen zulegen können.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir den Begriff Führungskraft noch ein wenig differenzieren, es gibt Chefs auf der mittleren Hierarchieebene, die oft in einer sogenannten Sandwich-Position zwischen Oben und Unten sind. Es gibt ganz oben die High Potentials, also, salopp gesagt: die Oberbosse. Es gibt Führungskräfte in Konzernen. Und es gibt Führungskräfte, die leiten einen mittelständischen Handwerksbetrieb. - Haben die Untergebenen nicht allzu oft allzu hohe Erwartungen an ihre Chefs? Denn so herum kann man es ja vielleicht auch sehen, wenn es Probleme gibt im Unternehmen mit dem Chef.
Dieter Frey: In der Tat glaube ich das auch. Man macht es sich oft sehr einfach, wenn man nur sagen würde, der Chef ist verantwortlich. Natürlich denke ich, der Fisch fängt am Kopf zu stinken an. Dann muss man die Treppe von oben kehren. Das ist schon richtig. Und es gilt auch die Aussage: Sage mir, wer für ein Projekt verantwortlich ist, und ich sage dir, wie erfolgreich das Projekt ist.
Aber gleichzeitig, denke ich auch, haben viele Mitarbeiter zu hohe Ansprüche. Sie müssen wissen, Führungskräfte sind auch nur Menschen, haben ihre Stärken und ihre Schwächen. Und die Führungskraft ist ja mit so vielen unterschiedlichen Zielgruppen verbunden. Sie hat zu tun mit einer Heterogenität von Mitarbeitern, von zehn bis hundert Mitarbeitern, die alle unterschiedlich sind, von zehn bis hundert Kunden, von zehn bis hundert Lieferanten, mit dem Betriebsrat, mit den Ansprüchen der Gesellschaft. Und es ist gar nicht einfach, diesen sehr heterogenen Interessen und Sehnsüchten der Zielgruppen, mit denen es eine Führungskraft zu tun hat, zu entsprechen.
Wenn man natürlich eine sehr egozentrische Sichtweise hat als Mitarbeiter und sagt, mein Chef hat immer für mich da zu sein, oder, mein Chef setzt sich zuwenig für meine Interessen ein, dann muss man sehr oft auch sehen: Der Chef hat eben ganz unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse zu erfüllen. Und manchmal denke ich in der Tat, die Erwartungen, die wir haben, sind manchmal schon etwas hoch.
Deutschlandradio Kultur: Sind Frauen die besseren Führungskräfte?
Es gibt gute Führungskräfte und schlechte Führungskräfte
Dieter Frey: Ach, das wäre so wünschenswert, wenn sie das wären – sind sie aber nicht. Aber sie sind auch nicht die schlechteren Führungskräfte. Es gibt gute Führungskräfte an Frauen, es gibt schlechte Führungskräfte an Frauen. Die Forschung zeigt, es sind keine besseren, aber auch keine schlechteren Führungskräfte.
Wohl aber gilt, dass sowohl Frauen wir Männer sogenannte feminine Eigenschaften brauchen, also die Fähigkeit zum Zuhören, zum Fragenstellen, zum Fehler zugeben können, andere groß werden lassen. Aber sie brauchen, egal, ob Mann oder Frau, auch dies sogenannten männlichen Führungseigenschaften, also, Durchsetzungsvermögen, Nein sagen können, sehr sachlich argumentieren können, sich gegen Widerstand durchsetzen usw. Man braucht beides.
Die Forschung zeigt, wenn Frauen beide Dimensionen haben, die feminine und die maskuline, dann sind sie durchaus erfolgreich, ähnlich aber auch wie Männer. Aber es wäre zu schön zu sagen, also, erhöht die Frauenquote an Führungskräften, denn die Frauen sind die besseren Führungskräfte. Das stimmt nicht. Aber wir haben ein hohes Potenzial an Frauen, die nicht in Führungspositionen kommen, die durchaus gute Führungskräfte wären.
Deutschlandradio Kultur: Herr Prof. Frey, auch und gerade in der Arbeitswelt gilt ja die schlichte Erkenntnis: Nur wer etwas gerne macht, der macht es auch gut. – Welche Rolle spielt da die sogenannte intrinsische Motivation, also die Bereitschaft, etwas aus eigenem Antrieb zu tun? Und wie bringt mich der Chef dahin, diese Freude an der Arbeit zu behalten bzw. weiterzuentwickeln?
Arbeit soll Freude und Spaß machen
Dieter Frey: Es ist ganz zentral, wenn man Menschen drücken oder schieben muss, dann machen sie Dienst nach Vorschrift. Das heißt, die Kunst von Führung besteht darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, dass sich intrinsische Motivation entwickeln kann. – Das kann man relativ einfach.
Es sind zwei, drei Faktoren: Ich muss auf der einen Seite den Sinn vermitteln von meiner Arbeit. Warum und wozu wird was gemacht? Ich muss also das kleine Mosaiksteinchen von Arbeit, was ein einzelner Mitarbeiter macht, in einen größeren Zusammenhang stellen. Meine Uhr funktioniert nicht, wenn ein kleines Rädchen nicht funktioniert. Diese Sinnvermittlung ist ganz, ganz zentral. Und das ist eine Bringschuld der Führungskraft, aber natürlich auch eine Holschuld des Mitarbeiters. Das heißt, man sollte die Mitarbeiter ermuntern, dass sie nachfragen, warum und wozu das gemacht wird.
Neben der Sinnfrage ist ganz entscheidend, die Arbeit soll Freude und Spaß machen. Gute Führungskräfte fragen deshalb häufig: Was muss passieren, dass Ihnen die Arbeit noch mehr Freude und Spaß macht? Was zieht Sie runter? Kann man Mosaiksteinchen von Arbeit leicht verändern? Was muss man tun, dass das Teamklima stimmig ist?
Zum Weiteren gehört zur intrinsischen Motivation, den Leuten Handlungsspielräume geben, dass sie selber mitgestalten und mitwirken können, weiterhin ein Höchstmaß an Transparenz, dass sie über den Tellerrand hinaus informiert sind, und natürlich Wertschätzung.
Es gilt die Aussage: Wertschöpfung durch Wertschätzung. Der Mitarbeiter, der sich nicht wertgeschätzt fühlt bei seiner Arbeit, der aktiviert sein Potenzial nicht. Das heißt, man muss die Führungskräfte überzeugen, dass es eigentlich nur wenige Grundbedingungen sind, die man in der persönlichen Interaktion täglich transportieren muss: Sinn, Freude und Spaß, Handlungsspielräume, Transparenz, Wertschätzung.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagten eben den schönen Satz: "Wertschöpfung entsteht durch Wertschätzung". Wie kann denn so eine Wertschätzung aussehen, die den Adressaten dann auch tatsächlich erreicht?
Viele kleine Facetten und Symbole
Dieter Frey: Es sind oft die berühmten Kleinigkeiten, die überhaupt kein Geld kosten. In unseren Umfragen zeigt sich, dass viele Mitarbeiter sagen: Warum kann mein Chef nicht mal danke sagen? Warum kann er nicht bitte sagen? Ich sage Menschen, danke, super gemacht, toll gemacht, ich gebe positives Feedback. Ich gebe auch mal einen Blumenstrauß, ein Augenzwinkern, ein Schulterklopfen. Das heißt, wir haben die vielen kleinen Facetten und Symbole, mit denen ich transportiere: Du Mitarbeiter bist wichtig. Ich schätze deine Arbeit.
Und wenn ich als Chef nicht zufrieden bin, dann gebe ich Feedback. Dann gebe ich Feedback, was gut läuft, aber auch Feedback, aber konstruktiv gemeint, was nicht so gut läuft. Aber wenn die Mitarbeiter das Gefühl haben, ich bin eine Nummer, ich werde instrumentalisiert, ich zähle hier gar nicht, ob ich da bin oder nicht da bin, das juckt niemanden, dann wird natürlich das Potenzial nicht aktiviert.
Deutschlandradio Kultur: Kann man eigentlich sagen, bei der Menschenführung ist die Fähigkeit bzw. die Bereitschaft zur Kommunikation zwar nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts?
Dieter Frey: Absolut. Ich würde sagen: Führen bedeutet überwiegend kommunizieren. Ich muss die Ziele kommunizieren. Ich muss den Weg zum Ziel kommunizieren, den Sinn, die Wertschätzung, die klaren Erwartungen. Wer nicht kommunizieren kann, sollte keine Führungskraft werden.
Nun sagen viele Führungskräfte, ich hab gar keine Zeit. Da ist dann eine Fehlbesetzung. Das ist vielleicht ein Sachbearbeiter, der seine Arbeit als Fachkraft gut gemacht hat, aber der zur Führung nicht geeignet ist. Er sollte dann mindestens sagen: Ich nehme mir keine Zeit zur Kommunikation. Also, Führen bedeutet bei allen Aspekten Kommunikation.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagten schon in einem Nebensatz, fiel mir auf, zu führen bedeutet eben auch, das – schöner Satz – "Management von Enttäuschungen". Denn die Arbeitswelt ist ja bekanntlich kein Streichelzoo und ein Wohlfühlchef wird die Unternehmensziele vermutlich auch nicht erreichen.
Wie schafft man es als Führungspersönlichkeit, zugespitzt gesagt, nicht der harte Hund zu sein, aber eben auch nicht der Hanswurst, dem alle auf der Nase herumtanzen?
Dieter Frey: Indem ich Klarheit verschaffe über die Ziele, über die Wege zum Ziel, indem ich die Menschen einbinde, ihnen Wertschätzung gebe und sie eben auch beteilige.
Es gibt zwei Möglichkeiten: Ich kann der harte Hund sein und die Leute anbrüllen, mit der Peitsche arbeiten, Entscheidungen vorknallen, aber dann verliere ich die Menschen. Ich brauche aber dann nicht ins andere Extrem gehen. Ich muss mit den Leuten sachlich und klar und natürlich und menschenfreundlich über die Ziele und Erwartungen sprechen, die zu erreichen sind. Ich muss sie begleiten bei der Zielerreichung und ich muss – fast wie jeder Nachhilfelehrer – immer auch der Coach sein, der die Leute freundschaftlich begleitet. Denn ich muss sie motivieren. Ich muss sie daran beteiligen, dass sie sehen, der Erfolg des Produktes oder der Dienstleistung hängt von mir als Mitarbeiter mit ab.
Deutschlandradio Kultur: Bei der Vorbereitung las ich eine Überschrift und dann den entsprechenden Artikel. Die Überschrift lautete: "Manager zweifeln inzwischen selbst an sich und ihrer Führungsarbeit." – Es wird ja immer beklagt, dass deutsche Unternehmen zu wenig über ihre Mitarbeiter wissen und Instrumente, wie zum Beispiel die gezielte Förderung von Mitarbeitern, vernachlässigt werden. Wie kann es eigentlich sein, Herr Frey - Sie haben ja auch viel Kontakt in die Wirtschaft -, dass in einer auf Effizienz ausgerichteten Wettbewerbswirtschaft dieser Bereich so stiefmütterlich behandelt wird?
Spirit als entscheidende Grundlage für Exzellenz
Dieter Frey: Ich behaupte ja immer, wir haben zu sehr in Deutschland eine maskuline Konstruktion von Organisation. Damit meine ich, dass zu viele Führungskräfte orientiert sind an Zahlen, Daten, Fakten, an Effektivität, an Effizienz und zu wenig reflektieren, dass diese Zahlen, Daten, Fakten von Menschen gemacht werden. Das hängt von der Kreativität und der Motivation und dem proaktiven Verhaltenen von Einzelnen ab, ob sie kontinuierlich bereit sind, Exzellenz zu bringen.
Da denke ich, man hat Leute ausgewählt, die sehr oft gute Fachleute sind, aber nicht die Fähigkeit haben, mit Menschen gut umzugehen, Wertschätzung zu haben im Sinne – ich nenne es mal – der europäischen Aufklärung: Dass sie einen hohen Grad an Menschenwürde zeigen, dass sie sagen, bediene dich deines eigenen Verstandes, sei mündig, du darfst dich auch trauen, mich als Chef zu korrigieren. – Das ist für mich ein ganz großes Defizit in vielen, auch deutschen Unternehmen, dieses nur auf Effizienz und Zahlen Bezogene, aber dass nicht die Wichtigkeit gesehen wird, dass die Wertschätzung des Einzelnen sowie der Team Spirit die entscheidende Grundlage sind für Exzellenz.
Deutschlandradio Kultur: Herr Frey, jetzt haben wir sehr viel über die Häuptlinge gesprochen, jetzt will ich mich mal den Indianern zuwenden. Den jüngsten Zahlen des Meinungsforschungsnehmens Gallup zufolge haben 15 Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland innerlich gekündigt und 70 Prozent machen Dienst nach Vorschrift. Diese Umfrage wird ja jedes Jahr erhoben und die Zahlen sind immer ziemlich ähnlich. - Mal unterstellt, diese Zahlen sind zutreffend, welche Faktoren sind denn nach Ihrer Ansicht ursächlich für diese erstaunliche Zahl, für den hohen Grad an innerer Kündigung, an Teilnahmslosigkeit, wenn wir mal die mangelnde Qualität der Führungskräfte außer Acht lassen? Oder liegt es wirklich nur daran?
Dieter Frey: Ich würde in der Tat aber schon sagen, dass ein großer Teil an der Unternehmenskultur und der Führungskultur liegt. Das ist das eine. Zum Zweiten werden die Mitarbeiter auch zu wenig geimpft. Darunter verstehe ich Folgendes: Wir alle sind ja geimpft. Die Mitarbeiter müssen lernen, dass vieles im betrieblichen Alltag suboptimal ist. Man hat meist zu wenig Ressourcen, zu wenig Mitarbeiter, zu viel komplexe Arbeit. Und wenn ich da die Menschen nicht vorher geimpft habe, dann brechen sie mir eher zusammen und sind unzufrieden.
Deutschlandradio Kultur: Also, die Frustrationsschwelle ist zu niedrig?
Suboptimale Bedingungen können kompensiert werden
Dieter Frey: Die Frustrationsschwelle ist zu niedrig. Die kann ich aber durch Impfen erhöhen, indem ich die Leute konfrontiere, im Privatleben ist es ja genau dasselbe, dass vieles eben suboptimal ist, dass wir uns ganz selten uns im Himmelreich befinden, sondern es ist immer ein Umgang mit suboptimalen Ressourcen. Daran müssen sich teilweise die Mitarbeiter gewöhnen.
Letztlich ist es aber immer auch ein Aspekt von Führung, dass ich den Leuten da Transparenz schaffen muss. Ich muss ihnen zuhören können. Ich muss erklären und begründen können. Und wenn hier zu den suboptimalen Aspekten, dass zu wenig Manpower, zu wenig Ressourcen da sind, zusätzlich schlechte Führung kommt, dann kommt es in der Tat zur inneren Kündigung und zu Dienst nach Vorschrift.
Positiv ausgedrückt können suboptimale Bedingungen kompensiert werden durch gute Führung, durch Wertschätzung, durch gutes Feedbackgeben, durch gutes Betriebsklima, durch Klarheit in den Erwartungen.
Deutschlandradio Kultur: Aufgrund des demographischen Wandels ist unsere Arbeitswelt jetzt schon in vielen Bereichen überaltert. Das wird noch zunehmen. Zugleich sagen aktuelle Umfragen, dass bei den über 50-Jährigen sogar jeder dritte innerlich gekündigt hat. – Woran liegt das?
Dieter Frey: Ja gut, das hängt unter anderem damit zusammen, dass diese Leute natürlich feststellen, dass ihre Träume, Erwartungen, Sehnsüchte, die sie vielleicht irgendwann einmal in ihrem Berufsleben hatten, nicht erfüllt wurden. Gleichzeitig sehen sie, dass Jüngere an ihnen vorbei ziehen. Wenn da nicht mit den Führungskräften gesprochen wird, dass begründet wird, warum man zum Beispiel keine Karriere gemacht hat, warum man im Gehalt nicht das erreicht hat, was man erwartet hat, steigt in der Tat der inneren Kündigung. Da denke ich wiederum, dass da starke Defizite im Bereich der Führung liegen.
Es muss keine Gesetzmäßigkeit sein, dass die über 50-Jährigen per se einen höheren Prozentsatz an innerer Kündigung haben, wenn man sie adäquat behandelt von der Führung. Man muss klare Ziele vereinbaren, hohe Wertschätzung rüberbringen, sie impfen im Sinne auch prozeduraler Fairness, warum bestimmte Dinge nicht erreichbar sind, und gleichzeitig aber Wert legen auf ihre Lebenserfahrung, auf ihre beruflichen Erfahrungen, das heißt, die Betonung von Stärken.
Also, das ist mir noch mal ganz wichtig zu sagen: Das muss keine Gesetzmäßigkeit sein.
Deutschlandradio Kultur: In der Arbeits- und Berufswelt kann man logischerweise auch dort seelischen Schaden nehmen. Das ist allgemein bekannt. Ich denke da zunächst einmal an Begriffe wie Burnout oder Boreout. Fangen wir mit Letzterem an: Welche Rolle spielt nach Ihrer Einschätzung der Boreout, also die anhaltende Unterforderung am Arbeitsplatz? Ist das ein Topos oder gibt es das wirklich oft?
Dieter Frey: Ja gut, Experten sagen, dass in etwa 30 Prozent überfordert sind, 30 Prozent unterfordert sind und 30 Prozent da adäquat gefordert sind. In der Tat, also, ich glaube, dass der Prozentsatz derjenigen mit Überforderung höher ist, aber es gibt in der Tat einen gewissen Prozentsatz, ich würde jetzt mal 20 Prozent sagen, von Leuten, die unterfordert sind, die Tätigkeiten machen, die ihre Qualität und ihre Fähigkeiten unterfordern. Teilweise finden sich die Leute damit ab, weil sie sagen, ja, okay, wenn ich eine andere Tätigkeit machen würde, dann hätte ich da noch größere Probleme. Sie melden sich auch nicht, sondern sie haben schon innerlich resigniert. Aber das ist wirklich ein Problem. Gute Führung erkennt dieses durch gutes Sehen, durch gutes Nachfragen, durch gutes Begleiten. Aber Unterforderung hat letztlich ähnliche negative Konsequenzen wie Überforderung.
Deutschlandradio Kultur: Und bei der Überforderung, also beim Burnout, mal die ganz platte Frage: Ist Burnout eine, wie manche behaupten, Modekrankheit?
Dieter Frey: Es ist eine Modekrankheit insofern, als man heute mehr darüber spricht als früher, ich glaube, aber nicht in dem Sinne, dass es gespielt wird oder simuliert wird. Denn es ist die Frage: Was ist Burnout? Burnout ist jemand, der ziemlich erschöpft ist, der morgens sogar Probleme hat aufzustehen, der die Arbeit voller Berge sieht, er weiß nicht, wie er den Berg erklimmt, der viele Aspekte der Arbeit sinnlos betrachtet. Er hat sehr oft das Gefühl, er arbeitet für den Papierkorb. Er bekommt keine Wertschätzung etc.
Das heißt, er brennt richtig aus und sieht, ich kann nicht mehr. Es ist aber nicht unbedingt Depression. Depression ist eine viel stärkere psychische Störung, der totalen Traurigkeit, der totalen Niedergeschlagenheit. Und Burnout ist so eine Vorstufe von Depression.
Es ist eine Modekrankheit insofern, als man heute mehr darüber spricht. Man wird eher nicht sagen, ich bin traurig oder depressiv, sondern: Ich bin ausgebrannt. Aber ich glaube, objektiv nimmt der Prozentsatz derjenigen, die sich überfordert fühlen und deshalb an der Grenze von Burnout sind, eher zu.
Deutschlandradio Kultur: Teilen Sie die Ansicht, dass der Burnout stets die Folge einer Wechselwirkung ist und nicht allein auf Probleme in der Arbeitswelt zurückzuführen ist, also dass zum Beispiel familiäre Probleme sich zu den beruflichen hinzu gesellen müssen?
Man muss die Menschen immer ganzheitlich sehen
Dieter Frey: Das teile ich, und zwar mit folgender Begründung: Man kann in der Arbeit überlastet sein, und zwar sehr stark überlastet sein. Das kann ich aber kompensieren im Privatbereich, wenn ich da Tankstellen habe, wenn es mir gelingt abzuschalten, wenn es mir gelingt, dass es eine zusätzliche Welt neben der Arbeitswelt gibt, die sinnvoll ist und die Lebensqualität hat.
In dem Augenblick, wo nun im privaten Bereich auch hohe Belastungen vorhanden sind, zum Beispiel burnoutnahe Aspekte aufgrund von Kindererziehung, aufgrund von Krankheit von Angehörigen, aufgrund von Partnerproblemen, aufgrund von Überlastungen durch manche Hobbys, sinkt natürlich die Schwelle, dass auch im beruflichen, im betrieblichen Bereich Burnout besteht.
Also, insofern – man muss die Menschen immer ganzheitlich sehen – hat es schon auch mit dem Privatbereich zu tun. Oder positiv ausgedrückt: Je belasteter die Menschen im Arbeitsbereich sind aufgrund der zunehmenden Komplexität von Arbeit und der fast immer notwendigen Erreichbarkeit in vielen Berufen, ist es umso wichtiger, dass die Führungskraft darauf achtet, dass im Freizeitbereich, im privaten Bereich Erholungsmöglichkeit besteht, dass Menschen abschalten können, dass sie das Recht darauf haben, nicht erreichbar zu sein, und im privaten Bereich Tankstellen haben. Das ist ganz, ganz notwendig.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagten eben "die zunehmende Komplexität der Arbeitswelt". Ist dieses Gefühl objektivierbar oder sind die Arbeitnehmer vielleicht auch ein Stück weit immer anspruchsvoller und weniger belastbar?
Komplexität und Überlastung nimmt zu
Dieter Frey: Beides, aber objektivierbar insofern: Dass die Welt immer schneller und komplexer wurde, das sieht man schon bei den ganzen Informationstechnologien, wenn Sie E-Mails haben und die rund um die Uhr in alle Welt verschicken, dann haben sie zwei Minuten später schon eine Antwort, egal, wo Sie sind in der Welt. Das war früher eben nicht so. Da ging es erstmal mit der Postkutsche oder auf den Postweg. Da haben Sie erstmal zwei, drei Tage Ruhe gehabt.
Zum Zweiten, die permanente Sehnsucht von den Empfängern, dass man erreichbar ist, dass man sofort reagiert. Ganz selten haben Menschen bei der Arbeit mehr Manpower bekommen, sondern es wurde eher Manpower reduziert, aber die Arbeit ist konstant geblieben oder hat sogar noch zugenommen. Das heißt, ich sehe schon objektivierbare Gründe, dass Komplexität und die Überlastung zunimmt.
Andererseits denke ich natürlich auch, dass das Anspruchsverhalten der Menschen zugenommen hat, insbesondere auch bei Generation Y, bei den jüngeren Leuten, die eher so die Meinung haben, ich habe Anspruch auf gute Work-Life-Balance, ich habe einen Anspruch darauf, dass ich nicht alle meine Energie in die Arbeit investiere. Das muss man auch ganz klar sehen. Da sage ich nur: Gott sei Dank ist dieses Anspruchsverhalten der arbeitenden Bevölkerung auch da, dass sie sagen, ich habe einen Anspruch auf Privatheit, einen Anspruch auf Freizeit, einen Anspruch, dass ich außerhalb der Arbeitszeit nicht erreichbar bin von meinem Chef. Also, dieses Anspruchsdenken ist da. Und da sage ich nur: zu Recht.
Deutschlandradio Kultur: Welche Bedeutung hat die Arbeit hierzulande jenseits der Notwendigkeit, dass man Geld zum Leben braucht? Brauchen die meisten von uns die Arbeit? Ist der Beruf geradezu Sinnstiftung für viele?
Arbeit ist ein zentraler Aspekt für den Selbstwert eines Menschen
Dieter Frey: Ja. Wir sind ja das Land von Martin Luther, aber nicht nur das Land von Martin Luther. Martin Luther hat auch schon die Wichtigkeit der Arbeit betont – oder auch Max Weber. Arbeit ist ein ganz zentraler Aspekt für den Selbstwert eines Menschen oder, wie Sie sagen, für die Sinnstiftung. Das zeigt sich gerade in unserem Land, dass dort, wo Menschen arbeitslos werden, das immer auch verbunden ist mit Selbstwertverlust, mit Identitätsverlust, mit psychosomatischen und somatischen Störungen. Also, die Arbeit ist ein ganz wichtiger Faktor für die Lebensqualität, für den Selbstwert, für die Identität eines Menschen.
Deutschlandradio Kultur: Gilt das, was Sie eben gesagt haben, in gleicher Weise für Männer und Frauen? Oft heißt es ja, dass Männer sich noch viel mehr über die Arbeit definieren und Frauen da etwas cooler sind an der Stelle.
Dieter Frey: Wenn ich jetzt Generation Y nehme, also die Jüngeren, dann zählt das sowohl für die Männer wie für die Frauen. Für deren Vorgängergenerationen, also Generation X und die sogenannten Babyboomer ist es in der Tat so, dass der Stellenwert von Arbeit bei Männern wesentlich höher zählt.
Bei der jüngeren Generation zeigt sich, dass die Männer durchaus auf Karriere verzichten, auf Auslandsaufenthalte verzichten, wenn sie sehen, dass dieses zu Lasten der Partnerschaft oder der Familie geht. Aber, wie gesagt, für die etwas fortgeschritteneren Generationen gilt in der Tat, dass es für Männer gewichtiger ist, über den Beruf und die Art der Arbeit Selbstwert zu definieren.
Deutschlandradio Kultur: Und gilt die Bedeutung der Arbeit unabhängig vom individuellen Bildungsstand, Bildungsgrad?
Dieter Frey: Man kann in etwa sagen, je höher der Bildungsgrad, umso höher die Wichtigkeit von Arbeit und umso höher der Beitrag von Arbeit für die Identität und den Selbstwert.
Deutschlandradio Kultur: Zu guter Letzt noch eine persönliche Frage: Wenn ich richtig gerechnet habe, werden Sie nächstes Jahr 70, auch wenn man es nicht glauben will. Und Sie sind an der Uni und anderswo sehr aktiv. Können Sie sich ein Leben ohne Arbeit, ohne Ihren Beruf vorstellen?
Man muss es immer positiv sehen
Dieter Frey: James Last, über 85, wurde eine ähnliche Frage gestellt, warum er mit 85 denn noch täglich 14 Stunden arbeitet. Und seine Antwort war: "Arbeiten? Ich mache Musik und das fordert mich heraus und das fasziniert mich." – Und jetzt kann ich bei mir sagen: Ich schreibe. Ich schreibe Bücher, schreibe Artikel. Ich gebe Interviews. Und das macht Spaß. Und natürlich gibt es auch Dinge in meiner Arbeit, die weniger Spaß machen, aber so ist insgesamt das Leben. Das Glas ist oft nur halb voll oder halb leer, wie man will, aber man muss es immer positiv sehen. Und meine Arbeit ist für mich immer auch eine intellektuelle Stimulation gewesen und ich brauche die.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank, Prof. Frey.
Dieter Frey, Jahrgang 1946. Nach seinem Psychologiestudium war Frey zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mannheim. Dort hatte er 1976/77 ein Habilitationsstipendium und war als wissenschaftlicher Angestellter beschäftigt. Von 1978 bis 1993 arbeitete Frey als Professor für Psychologie an der Universität Kiel, seit 1982 leitete er das Institut für Psychologie. Im Jahr 1993 nahm Frey einen Ruf der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München an, deren Dekan der Psychologie-Fakultät er von 1998 bis 2002 war. Seit 2003 ist er Akademischer Leiter der Bayerischen Elite-Akademie und seit 2007 auch Leiter des LMU Centers for Leadership und People Management. 1998 erhielt Frey den Deutschen Psychologie Preis.