Archäologe der jüdischen Musik
Zufällig fand der Pianist Jascha Nemtsov vor 15 Jahren vergessene Werke russisch-jüdischer Komponisten. Er entdeckte damit eine ganze Musikrichtung neu, die "Neue Jüdische Schule". Die Verbreitung der jüdischen Kunstmusik wurde zu Nemtsovs Lebenswerk.
Manchmal spielt der Zufall eine wichtige Rolle. Ein israelischer Dirigent hat einmal den russisch-jüdischen Pianisten Jascha Nemtsov gefragt, warum er keine Werke jüdischer Komponisten spielt? Und der Dirigent hat gleich einige Namen genannt: Lasar Zaminskij, Joseph Achron und Alexander Weprik. Von diesen Namen hatte Jascha Nemtsov bis dahin noch nie etwas gehört!
Neugier schafft Wunder - in der Berliner Staatsbibliothek hat der Pianist tatsächlich einige Werke von Zaminskij, Achron, Weprik, Gnessin, Brandmann oder Krein gefunden - und noch viele mehr. In der Staatsbibliothek war Jascha nach über 70 Jahren der Erste, der nach diesen Namen fragte. In einem Bibliotheksraum hat er den ganzen Tag am Klavier gesessen und die Stücke durchgespielt. Die Musik war ganz eigenartig - jüdisch und klassisch zugleich ...
"Die Musik war ganz großartig und hat mich gleich sehr stark gepackt. Nicht nur die Tatsache, dass die Musik so gut war, sondern auch der Eindruck, dass es tatsächlich jüdische Musik ist, das klang auch jüdisch für mich damals, als ich diese Stücke durchspielte - das war ganz eindeutig. Und das hat mich sehr beeindruckt, weil ich immer vorher gedacht hatte, jüdische Musik, das ist Synagoge oder Klezmer oder jüdische Lieder - und hier waren wirklich Konzertstücke für Klavier, die eindeutig jüdisch waren, das war schon ein sehr interessantes Erlebnis."
Jascha Nemtsov wurde im Jahr 1963 in Sibirien geboren, er hat Klavier studiert am Konservatorium in Sankt Petersburg. Vor knapp 20 Jahren ist er als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland gekommen. Hier wollte Jascha als Klavierlehrer leben. Doch der Fund in der Berliner Staatsbibliothek hat Nemtsovs Lebensplanung verändert:
"Ich wollte die ganzen Hintergründe wissen, ich war so neugierig - woher kommt diese Musik, was waren die Umstände, ob das wirklich eine Richtung war? Eindeutig, die Komponisten wollten was Jüdisches schaffen. Dann mit der Zeit hat sich tatsächlich herausgestellt, dass es sich um eine ganze Schule handelte, die damals existierte, die auch ihre Institution gegründet hat - Musikgesellschaften, Verlage, Konzertunternehmungen und die wirklich drei Jahrzehnte lang sehr erfolgreich war - nicht nur in Russland, sondern international."
Sankt Petersburg, 4. März 1908. An diesem Tag wurde der Sankt Petersburger Bürgermeister um eine Genehmigung ersucht. Es ging um die Gründung einer Gesellschaft für jüdische Volksmusik. Die Bittsteller waren jüdische Studenten aus dem Petersburger Konservatorium, die vorwiegend aus der Klasse von Nikolai Rimski-Korsakow stammten. "Die jüdische Nation besitzt einen gewaltigen musikalischen Schatz. Die jüdische Musik wartet auf ihre großen Meister!" soll Rimski-Korsakow einst zu seinen Studenten gesagt haben.
Diese Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Rimski-Korsakows jüdische Kompositionsstudenten - Lasare Saminky, Jospeh Achron und Michail Gnessin - schlossen sich zusammen, um die jüdische Folklore zu studieren. Jascha Nemtsov:
"Also genauso wie in der ungarischen Musik oder in den anderen Nationalschulen - es gab ja ziemlich viele solcher - haben die jüdischen Komponisten damals die Musiktradition ihres Volkes studiert. Also sie haben die Synagogenmusik studiert, sie haben jiddische Folklore studiert und haben genauso wie Bartok auf Grundlage der ungarischen Bauernfolklore, haben sie auf Grundlage von Synagogenmusik und jiddischer Folklore diesen jüdischen Stil geschaffen."
Die Neue Jüdische Schule existierte nur etwa 30 Jahre. Allerdings war dies eine sehr ertragreiche Zeit. Es entstand eine Reihe bedeutender kammermusikalischer Werke im jüdischen Stil, aber auch symphonische Werke und sogar Opern wurden komponiert und aufgeführt. Kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 zählte die Gesellschaft für die jüdische Volksmusik weit über 1000 Mitglieder und gab regelmäßig Konzerte.
Nach der Oktoberrevolution 1917 verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage im Lande aber so rapide, dass viele der aktiven Mitglieder der Gesellschaft das Land verließen und woanders ihr Glück suchten. Die Gesellschaft für jüdische Musik wurde aufgelöst.
Doch bereits vier Jahre später entstand sie neu - in Moskau. Damals, in der kurzen liberalen Zeit vor Stalins Terror, blühte die jüdische Kultur auf. Zum ersten Mal durfte in Russland jüdisches Theater, Literatur in jiddischer Sprache, und auch Musik ohne Beschränkungen ausgeübt werden. Viele junge jüdische Komponisten schrieben jüdische Werke. Einer der bedeutendsten war Alexander Veprik.
Veprik war einer der begabtesten Komponisten der Neuen Jüdischen Schule, sagt Jascha Nemtsov. Er verband fundierte Kenntnisse über das Wesen der jüdischen Musik mit der damals modernen Musiksprache und kühnen Harmonien. Mit seinen Kammermusikwerken hätte Alexander Veprik sicherlich der neue Bela Bartok der jüdischen Kunstmusik werden können, wenn sich die politische Situation in der Sowjetunion nicht bald rapide verändert hätte. Die jüdische Kultur war Joseph Stalin nicht mehr genehm. Jascha Nemtsov:
"Es gab keinen Beschluss, es gab kein offizielles Verbot jüdische Musik. Aber die Verhältnisse haben sich schon Ende der 20er Jahre geändert. Man weiß, dass Stalin zu einem mehr oder weniger offenen Terror übergegangen ist, es gab damals in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft ganz große Umbrüche - die Kollektivierung in der Landwirtschaft, die Industrialisierung, da wurden auch die letzten Reste der politischen Opposition zerschlagen.
Aber auch im Bereich der Kultur wurden diese totalitären Tendenzen immer stärker. Die jüdische Kultur, jüdische Musik, Juden als Nation hatten da keinen Platz. Es war noch kein offener Antisemitismus, aber jüdische Kultur wurde einfach unerwünscht."
Die letzten Konzerte der Moskauer Gesellschaft für jüdische Musik fanden im Jahr 1929 statt. Jegliche eigenständige jüdische Kulturarbeit war fortan verboten. Alexander Veprik wurde Jahre später seine "zionistische" Musik in Rechnung gestellt - er wurde als Volksfeind verhaftet und starb kurz nach seiner Freilassung aus dem Arbeitslager.
Während die in der Sowjetunion gebliebenen ehemaligen jüdischen Komponisten eine sozusagen "judenfreie" sozialistische Musik schreiben mussten, haben ihre Exilkollegen im Ausland einen dritten Versuch unternommen, die jüdische Kunstmusik zu retten. 1928 entstand ein letztes Zentrum der jüdischen Kunstmusik - ein Verein zur Förderung jüdischer Musik in Wien, erzählt Jascha Nemtsov:
"Es wurden damals sogar jüdische Musikgesellschaften in mehreren Ländern gegründet wie zum Beispiel in Polen, im Baltikum, in Ungarn - es war wirklich unglaublich. Diese Musik wurde überall gespielt. Allerdings hauptsächlich nur von jüdischen Künstlern für jüdisches Publikum, das war damals schon sehr stark gettoisiert. Aber immerhin - diese Musik war gespielt, sie war relativ bekannt, zumindest in jüdischen Kreisen.
Und dann kam die deutsche Truppe nach Wien. Also dieser Wiener Verein zur Förderung jüdischer Musik wurde natürlich sofort aufgelöst. Da mussten die meisten Musiker nur daran denken, wie sie ihr Leben retten konnten. Und diejenigen, die das geschafft haben, sind emigriert, aber mussten in Exilländern ums Überleben kämpfen. Die anderen wurden ermordet.
Das Publikum ist auch verschwunden - zum größten Teil umgekommen in nationalsozialistischen Lagern oder emigriert, in alle Winde verstreut - also da war diese ganze Infrastruktur, die eben in den 30er Jahren noch existierte, sie wurde zerstört."
Paradox, aber wahr - nicht mal im 1948 neugegründeten jüdischen Staat Israel war es möglich, die Traditionen der jüdischen Kunstmusik aus Europa wieder aufzunehmen. Jascha Nemtsov kennt den Grund:
"Als der Staat Israel gegründet wurde, da wollte man nicht die Kultur der Diaspora fördern, sondern vor allem eine eigene, eine neue Kultur schaffen. Das sollte eine Kultur der freien Juden sein und nicht der Juden aus dem Exil, aus der Diaspora, sogenannten Gettojuden. Und diese neue Kultur wurde sehr stark von anderen Tendenzen geprägt, von orientalischen Einflüssen, zum Teil von arabischer Musik.
Man hat versucht, diesen sogenannten mediterranen Stil in Israel zu fördern. Und gerade die Musik russisch-jüdischer Komponisten, die passt überhaupt nicht, weil sie sehr zum Großteil von dieser jiddischen Folklore geprägt wurde. Das Jiddisch wurde bekanntlich in Israel auch wenig praktiziert, es wurde stattdessen Hebräisch gefördert und mit der Musik war es ungefähr ähnlich."
Seit dem Tag, als Jascha Nemtsov die ersten Manuskripte in der Berliner Staatsbibliothek entdeckt hat, sind 15 Jahre vergangen. Während dieser Zeit hat Nemtsov russische, amerikanische und israelische Musikarchive durchforstet. Und zahllose unveröffentlichte Manuskripte gefunden. Er hat eine ganze Musikrichtung wiederentdeckt.
Die Verbreitung der jüdischen Kunstmusik wurde zu seinem Lebenswerk. Zusammen mit der Bratschistin Tabea Zimmermann, den Geigern Kolja Blacher, Dmitry Sitkovetsky und Ingolf Turban, dem Klarinettisten Chen Halevi und dem Vogler-Quartett hat Jascha Nemtsov bereits 22 CDs mit der Musik der "Jüdischen Schule" aufgenommen.
"Ich kriege jetzt auch oft Anfragen von Musikern, die ich überhaupt nicht kenne - nicht nur aus Deutschland, sondern aus der ganzen Welt, aus USA und anderen Ländern, die Noten haben wollen, die meine Aufnahmen irgendwo gehört haben und die das gerne auch selbst spielen möchten, weil die Musik ihnen so gut gefällt - und ich schicke natürlich dann auch die Noten und dadurch wird diese Musik mehr verbreitet und ich denke einfach die Qualität spricht für sich und die Qualität setzt sich auch durch.
Und es ist wirklich sehr anspruchsvolle Musik, zum Teil auch komplizierte Musik, zum Teil auch eingängigere, aber sehr abwechslungsreiche und sehr emotionale, wirkliche sehr interessante Musik."
Neugier schafft Wunder - in der Berliner Staatsbibliothek hat der Pianist tatsächlich einige Werke von Zaminskij, Achron, Weprik, Gnessin, Brandmann oder Krein gefunden - und noch viele mehr. In der Staatsbibliothek war Jascha nach über 70 Jahren der Erste, der nach diesen Namen fragte. In einem Bibliotheksraum hat er den ganzen Tag am Klavier gesessen und die Stücke durchgespielt. Die Musik war ganz eigenartig - jüdisch und klassisch zugleich ...
"Die Musik war ganz großartig und hat mich gleich sehr stark gepackt. Nicht nur die Tatsache, dass die Musik so gut war, sondern auch der Eindruck, dass es tatsächlich jüdische Musik ist, das klang auch jüdisch für mich damals, als ich diese Stücke durchspielte - das war ganz eindeutig. Und das hat mich sehr beeindruckt, weil ich immer vorher gedacht hatte, jüdische Musik, das ist Synagoge oder Klezmer oder jüdische Lieder - und hier waren wirklich Konzertstücke für Klavier, die eindeutig jüdisch waren, das war schon ein sehr interessantes Erlebnis."
Jascha Nemtsov wurde im Jahr 1963 in Sibirien geboren, er hat Klavier studiert am Konservatorium in Sankt Petersburg. Vor knapp 20 Jahren ist er als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland gekommen. Hier wollte Jascha als Klavierlehrer leben. Doch der Fund in der Berliner Staatsbibliothek hat Nemtsovs Lebensplanung verändert:
"Ich wollte die ganzen Hintergründe wissen, ich war so neugierig - woher kommt diese Musik, was waren die Umstände, ob das wirklich eine Richtung war? Eindeutig, die Komponisten wollten was Jüdisches schaffen. Dann mit der Zeit hat sich tatsächlich herausgestellt, dass es sich um eine ganze Schule handelte, die damals existierte, die auch ihre Institution gegründet hat - Musikgesellschaften, Verlage, Konzertunternehmungen und die wirklich drei Jahrzehnte lang sehr erfolgreich war - nicht nur in Russland, sondern international."
Sankt Petersburg, 4. März 1908. An diesem Tag wurde der Sankt Petersburger Bürgermeister um eine Genehmigung ersucht. Es ging um die Gründung einer Gesellschaft für jüdische Volksmusik. Die Bittsteller waren jüdische Studenten aus dem Petersburger Konservatorium, die vorwiegend aus der Klasse von Nikolai Rimski-Korsakow stammten. "Die jüdische Nation besitzt einen gewaltigen musikalischen Schatz. Die jüdische Musik wartet auf ihre großen Meister!" soll Rimski-Korsakow einst zu seinen Studenten gesagt haben.
Diese Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Rimski-Korsakows jüdische Kompositionsstudenten - Lasare Saminky, Jospeh Achron und Michail Gnessin - schlossen sich zusammen, um die jüdische Folklore zu studieren. Jascha Nemtsov:
"Also genauso wie in der ungarischen Musik oder in den anderen Nationalschulen - es gab ja ziemlich viele solcher - haben die jüdischen Komponisten damals die Musiktradition ihres Volkes studiert. Also sie haben die Synagogenmusik studiert, sie haben jiddische Folklore studiert und haben genauso wie Bartok auf Grundlage der ungarischen Bauernfolklore, haben sie auf Grundlage von Synagogenmusik und jiddischer Folklore diesen jüdischen Stil geschaffen."
Die Neue Jüdische Schule existierte nur etwa 30 Jahre. Allerdings war dies eine sehr ertragreiche Zeit. Es entstand eine Reihe bedeutender kammermusikalischer Werke im jüdischen Stil, aber auch symphonische Werke und sogar Opern wurden komponiert und aufgeführt. Kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 zählte die Gesellschaft für die jüdische Volksmusik weit über 1000 Mitglieder und gab regelmäßig Konzerte.
Nach der Oktoberrevolution 1917 verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage im Lande aber so rapide, dass viele der aktiven Mitglieder der Gesellschaft das Land verließen und woanders ihr Glück suchten. Die Gesellschaft für jüdische Musik wurde aufgelöst.
Doch bereits vier Jahre später entstand sie neu - in Moskau. Damals, in der kurzen liberalen Zeit vor Stalins Terror, blühte die jüdische Kultur auf. Zum ersten Mal durfte in Russland jüdisches Theater, Literatur in jiddischer Sprache, und auch Musik ohne Beschränkungen ausgeübt werden. Viele junge jüdische Komponisten schrieben jüdische Werke. Einer der bedeutendsten war Alexander Veprik.
Veprik war einer der begabtesten Komponisten der Neuen Jüdischen Schule, sagt Jascha Nemtsov. Er verband fundierte Kenntnisse über das Wesen der jüdischen Musik mit der damals modernen Musiksprache und kühnen Harmonien. Mit seinen Kammermusikwerken hätte Alexander Veprik sicherlich der neue Bela Bartok der jüdischen Kunstmusik werden können, wenn sich die politische Situation in der Sowjetunion nicht bald rapide verändert hätte. Die jüdische Kultur war Joseph Stalin nicht mehr genehm. Jascha Nemtsov:
"Es gab keinen Beschluss, es gab kein offizielles Verbot jüdische Musik. Aber die Verhältnisse haben sich schon Ende der 20er Jahre geändert. Man weiß, dass Stalin zu einem mehr oder weniger offenen Terror übergegangen ist, es gab damals in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft ganz große Umbrüche - die Kollektivierung in der Landwirtschaft, die Industrialisierung, da wurden auch die letzten Reste der politischen Opposition zerschlagen.
Aber auch im Bereich der Kultur wurden diese totalitären Tendenzen immer stärker. Die jüdische Kultur, jüdische Musik, Juden als Nation hatten da keinen Platz. Es war noch kein offener Antisemitismus, aber jüdische Kultur wurde einfach unerwünscht."
Die letzten Konzerte der Moskauer Gesellschaft für jüdische Musik fanden im Jahr 1929 statt. Jegliche eigenständige jüdische Kulturarbeit war fortan verboten. Alexander Veprik wurde Jahre später seine "zionistische" Musik in Rechnung gestellt - er wurde als Volksfeind verhaftet und starb kurz nach seiner Freilassung aus dem Arbeitslager.
Während die in der Sowjetunion gebliebenen ehemaligen jüdischen Komponisten eine sozusagen "judenfreie" sozialistische Musik schreiben mussten, haben ihre Exilkollegen im Ausland einen dritten Versuch unternommen, die jüdische Kunstmusik zu retten. 1928 entstand ein letztes Zentrum der jüdischen Kunstmusik - ein Verein zur Förderung jüdischer Musik in Wien, erzählt Jascha Nemtsov:
"Es wurden damals sogar jüdische Musikgesellschaften in mehreren Ländern gegründet wie zum Beispiel in Polen, im Baltikum, in Ungarn - es war wirklich unglaublich. Diese Musik wurde überall gespielt. Allerdings hauptsächlich nur von jüdischen Künstlern für jüdisches Publikum, das war damals schon sehr stark gettoisiert. Aber immerhin - diese Musik war gespielt, sie war relativ bekannt, zumindest in jüdischen Kreisen.
Und dann kam die deutsche Truppe nach Wien. Also dieser Wiener Verein zur Förderung jüdischer Musik wurde natürlich sofort aufgelöst. Da mussten die meisten Musiker nur daran denken, wie sie ihr Leben retten konnten. Und diejenigen, die das geschafft haben, sind emigriert, aber mussten in Exilländern ums Überleben kämpfen. Die anderen wurden ermordet.
Das Publikum ist auch verschwunden - zum größten Teil umgekommen in nationalsozialistischen Lagern oder emigriert, in alle Winde verstreut - also da war diese ganze Infrastruktur, die eben in den 30er Jahren noch existierte, sie wurde zerstört."
Paradox, aber wahr - nicht mal im 1948 neugegründeten jüdischen Staat Israel war es möglich, die Traditionen der jüdischen Kunstmusik aus Europa wieder aufzunehmen. Jascha Nemtsov kennt den Grund:
"Als der Staat Israel gegründet wurde, da wollte man nicht die Kultur der Diaspora fördern, sondern vor allem eine eigene, eine neue Kultur schaffen. Das sollte eine Kultur der freien Juden sein und nicht der Juden aus dem Exil, aus der Diaspora, sogenannten Gettojuden. Und diese neue Kultur wurde sehr stark von anderen Tendenzen geprägt, von orientalischen Einflüssen, zum Teil von arabischer Musik.
Man hat versucht, diesen sogenannten mediterranen Stil in Israel zu fördern. Und gerade die Musik russisch-jüdischer Komponisten, die passt überhaupt nicht, weil sie sehr zum Großteil von dieser jiddischen Folklore geprägt wurde. Das Jiddisch wurde bekanntlich in Israel auch wenig praktiziert, es wurde stattdessen Hebräisch gefördert und mit der Musik war es ungefähr ähnlich."
Seit dem Tag, als Jascha Nemtsov die ersten Manuskripte in der Berliner Staatsbibliothek entdeckt hat, sind 15 Jahre vergangen. Während dieser Zeit hat Nemtsov russische, amerikanische und israelische Musikarchive durchforstet. Und zahllose unveröffentlichte Manuskripte gefunden. Er hat eine ganze Musikrichtung wiederentdeckt.
Die Verbreitung der jüdischen Kunstmusik wurde zu seinem Lebenswerk. Zusammen mit der Bratschistin Tabea Zimmermann, den Geigern Kolja Blacher, Dmitry Sitkovetsky und Ingolf Turban, dem Klarinettisten Chen Halevi und dem Vogler-Quartett hat Jascha Nemtsov bereits 22 CDs mit der Musik der "Jüdischen Schule" aufgenommen.
"Ich kriege jetzt auch oft Anfragen von Musikern, die ich überhaupt nicht kenne - nicht nur aus Deutschland, sondern aus der ganzen Welt, aus USA und anderen Ländern, die Noten haben wollen, die meine Aufnahmen irgendwo gehört haben und die das gerne auch selbst spielen möchten, weil die Musik ihnen so gut gefällt - und ich schicke natürlich dann auch die Noten und dadurch wird diese Musik mehr verbreitet und ich denke einfach die Qualität spricht für sich und die Qualität setzt sich auch durch.
Und es ist wirklich sehr anspruchsvolle Musik, zum Teil auch komplizierte Musik, zum Teil auch eingängigere, aber sehr abwechslungsreiche und sehr emotionale, wirkliche sehr interessante Musik."