Archäologie medialer Prägungen
Ein einziger Buchstabe, "K", steht für die Komplexität dieses Romans, für den Namen seines Protagonisten Serge Karrefax, für die vielen Korrespondenzen, Koinzidenzen und Kombinationen; er verknüpft Krieg, Kodes und Kokain, literarische wie mediale Klangräume.
Tom McCarthy hat mit seinem dritten, 2010 für den Booker-Preis nominierten Roman eine wilde und intelligente Maschinerie in Gang gesetzt: Gemächlich mit Serges Geburt noch im Kutschentempo wie ein Roman aus dem 19. Jahrhundert beginnend, sind doch bereits die Drähte für den körperlosen Kontakt mit der Welt ausgelegt, um im aufgeladenen Setting des ersten Weltkrieges, den Roaring Twenties in London und schließlich in den faszinierenden, nicht beherrschbaren kolonialen Territorien, in Ägypten mit seiner uralten Todesfixierung, anzukommen.
Ein labyrinthisches Anwesen, wo die gehörlose Mutter Seidenraupen züchtet, der Vater telegrafischen Experimenten nachgeht und in einer Schule Gehörlosen das Sprechen beibringen will und eine scheinbar alles wissende ältere Schwester seine wichtigste Bezugsperson wird: So wächst Serge Karrefax auf, vergräbt sich in die unendliche Welt der Morsezeichen und Soundpartikel, in die aufreizende Stimmenvielfalt von Anderswo. Gespenstische Bilder findet der Autor für den Vernetzungswahn der naturwissenschaftlich orientierten Schwester Sophie. Einige Klangassoziationen des Originaltitels "C" gehen nicht ein in "K", wie Bernhard Robben am Ende seiner hervorragenden Übersetzung kurz anmerkt, vor allem nicht "incest". Doch dieses Motiv zeigt sich auch ohne expliziten lautlichen Effekt. Zumal Serge nach Sophies Selbstmord für immer verlinkt ist mit dem Jenseits. Seine tiefe Melancholie, seine innere Schwärze, soll eine Kur in Tschechien austreiben.
Mit Beginn des ersten Weltkrieges wird der junge Karrefax zur Luftwaffe eingezogen und gerät in den Sog von Gefahr, Geschwindigkeit und Tod. Wie eine Kamera registriert er den Zusammenbruch der Koordinaten, wie in Bildern des frühen Kinos oder der Avantgarde-Fotografie stürzen - sprachlich beeindruckend gestaltet - Landschaften aus dem Lot, wenn er als Funker aus dem Flugzeug zurückblickt auf die Schlachtfelder Frankreichs, um dem Bodenpersonal Korrekturen durchzugeben. Drogen tun ein Übriges. Er wird nicht sterben, sondern sich ausprobieren als Architekturstudent in London, süchtig nach Sex, Drogen und Unterhaltung.
Durch Protektion gerät Serge nach Ägypten und soll "zum Schutz der imperialen Kommunikation" Standorte für Sendemasten lokalisieren. Im Paradeland der Spione und Entzifferer, Schatzsucher und verrückten Wissenschaftler zieht er sich beim Sex in einer Grabkammer einen "schlimmen Karbunkel" zu: ein tödliches Bakterium, einen Bug. Die Überfahrt in der Schiffskabine wird er nicht überleben: "Der Koderuf: Ich werde gerufen."
Bezugsrahmen und Bedeutungsschichten überlagern sich - so wie in Karrefax das französische Carrefour anklingt - ohne auf eine eindeutige oder hierarchische Zuordnung hinauszulaufen. Wie im Traum, wie in Kunstwerken, lassen sich beim Lesen Anklänge und unendliche Verweise konstruieren und weiterspinnen. Trotz aller Aufladung liefert dieser Roman keine Psychologie, keine Moral. Er ist vielmehr eine an Freuds "Wolfsmann" angelehnte Fallgeschichte, eine Archäologie unserer medialen Prägungen, denn er zeichnet die Ich-Erweiterung durch die frühe Medienentwicklung nach - bis hin zu ihrem kontrollierten und kontrollierenden Einsatz. Ein atemberaubendes Panorama der Moderne!
Der Schriftsteller Tom McCarthy agiert auch als bildender Künstler, als Journalist, als subversiver Theoretiker. Der 1969 Geborene ist Gründer und Generalsekretär der "International Necronautical Society" - ein Netzwerk, das sich "der Kartierung, Erforschung, Erschließung und möglichen Inbesitznahme von Räumen, die unter dem Banner des Todes stehen" widmet. Mit dem Roman "K" hat er dieses Projekt gekonnt und überzeugend vorangetrieben.
Besprochen von Barbara Wahlster
Tom McCarthy: K
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
DVA, München 2012
473 Seiten, 24,99 Euro
Ein labyrinthisches Anwesen, wo die gehörlose Mutter Seidenraupen züchtet, der Vater telegrafischen Experimenten nachgeht und in einer Schule Gehörlosen das Sprechen beibringen will und eine scheinbar alles wissende ältere Schwester seine wichtigste Bezugsperson wird: So wächst Serge Karrefax auf, vergräbt sich in die unendliche Welt der Morsezeichen und Soundpartikel, in die aufreizende Stimmenvielfalt von Anderswo. Gespenstische Bilder findet der Autor für den Vernetzungswahn der naturwissenschaftlich orientierten Schwester Sophie. Einige Klangassoziationen des Originaltitels "C" gehen nicht ein in "K", wie Bernhard Robben am Ende seiner hervorragenden Übersetzung kurz anmerkt, vor allem nicht "incest". Doch dieses Motiv zeigt sich auch ohne expliziten lautlichen Effekt. Zumal Serge nach Sophies Selbstmord für immer verlinkt ist mit dem Jenseits. Seine tiefe Melancholie, seine innere Schwärze, soll eine Kur in Tschechien austreiben.
Mit Beginn des ersten Weltkrieges wird der junge Karrefax zur Luftwaffe eingezogen und gerät in den Sog von Gefahr, Geschwindigkeit und Tod. Wie eine Kamera registriert er den Zusammenbruch der Koordinaten, wie in Bildern des frühen Kinos oder der Avantgarde-Fotografie stürzen - sprachlich beeindruckend gestaltet - Landschaften aus dem Lot, wenn er als Funker aus dem Flugzeug zurückblickt auf die Schlachtfelder Frankreichs, um dem Bodenpersonal Korrekturen durchzugeben. Drogen tun ein Übriges. Er wird nicht sterben, sondern sich ausprobieren als Architekturstudent in London, süchtig nach Sex, Drogen und Unterhaltung.
Durch Protektion gerät Serge nach Ägypten und soll "zum Schutz der imperialen Kommunikation" Standorte für Sendemasten lokalisieren. Im Paradeland der Spione und Entzifferer, Schatzsucher und verrückten Wissenschaftler zieht er sich beim Sex in einer Grabkammer einen "schlimmen Karbunkel" zu: ein tödliches Bakterium, einen Bug. Die Überfahrt in der Schiffskabine wird er nicht überleben: "Der Koderuf: Ich werde gerufen."
Bezugsrahmen und Bedeutungsschichten überlagern sich - so wie in Karrefax das französische Carrefour anklingt - ohne auf eine eindeutige oder hierarchische Zuordnung hinauszulaufen. Wie im Traum, wie in Kunstwerken, lassen sich beim Lesen Anklänge und unendliche Verweise konstruieren und weiterspinnen. Trotz aller Aufladung liefert dieser Roman keine Psychologie, keine Moral. Er ist vielmehr eine an Freuds "Wolfsmann" angelehnte Fallgeschichte, eine Archäologie unserer medialen Prägungen, denn er zeichnet die Ich-Erweiterung durch die frühe Medienentwicklung nach - bis hin zu ihrem kontrollierten und kontrollierenden Einsatz. Ein atemberaubendes Panorama der Moderne!
Der Schriftsteller Tom McCarthy agiert auch als bildender Künstler, als Journalist, als subversiver Theoretiker. Der 1969 Geborene ist Gründer und Generalsekretär der "International Necronautical Society" - ein Netzwerk, das sich "der Kartierung, Erforschung, Erschließung und möglichen Inbesitznahme von Räumen, die unter dem Banner des Todes stehen" widmet. Mit dem Roman "K" hat er dieses Projekt gekonnt und überzeugend vorangetrieben.
Besprochen von Barbara Wahlster
Tom McCarthy: K
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
DVA, München 2012
473 Seiten, 24,99 Euro