Archaische Begegnungen
Im vergangenen Jahr gewann Lutz Seiler den Ingeborg-Bachmann-Preis. Der Text, mit dem er Jury und Publikum überzeugte, liegt nun als Buch vor. In "Turksib" erzählt Seiler von einer Eisenbahnreise durch die kasachische Steppe.
Als Lutz Seiler beim letzten Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt las, gab es eine merkwürdige Erfahrung. Jedem im Publikum war klar, dass es sich um den ungeahnten Einbruch der Literatur handelte. Und selten war es so klar, dass der Bachmann-Preis dadurch praktisch schon feststand. Lutz Seilers Ton erinnerte an die Größe und das Gewaltige der Literatur, etwas, das man für längst vergessen hält, das aber anscheinend immer noch weiterwest. Die Grundlage dafür war wohl die Ungleichzeitigkeit des Ostens. Hier sind Lebensformen auffindbar, die ein Pathos wachhalten, das es eigentlich gar nicht mehr gibt. Schon der Titel von Seilers Erzählung verweist in entlegene, existenziell aufgeladene Regionen: "Turksib", die lange Eisenbahnlinie von den muslimischen Teilen der ehemaligen Sowjetunion bis in die eisigen Zonen des fernen Nordostens. Astana, die "Hauptstadt der Steppe" wird einmal benannt, die Hauptstadt Kasachstans, und der Ich-Erzähler sieht sich im Zug mit Menschen und Situationen konfrontiert, die archaisch erscheinen, wie aus alten Mythen.
Da Seiler den Bachmann-Preis erhalten hat, ist es naheliegend, dass in kurzem Abstand darauf, wenn die Erinnerung noch einigermaßen frisch ist, das Buch mit dem besagten Text erscheint. Es ist eine sehr schmale Broschüre geworden. In Klagenfurt wurde zwar geraunt, Seiler arbeite gerade an einem Erzählungsband; ein Juror glaubte sogar, er habe in Zeitschriften schon mehrere davon gelesen – allein, "Turksib" ist das Einzige, was Seiler bisher öffentlich machen will. Eine zweite, noch schmalere Erzählung ist dem beigesellt: "Die Anrufung", die bereits in dem kleinen bibliophilen Verlag von Ulrich Keicher im schwäbischen Warmbronn erschienen war und nicht unerheblichen Teil daran trug, dass Seiler 2006 den Preis der SWR-Bestenliste bekam. Viele Preise, wenig Text: aber bei Seiler ist das überhaupt kein Grund zum Argwohn. Er schreibt langsam, und seine Texte haben eine Dichte, die ihresgleichen sucht.
Wie bei der Zugfahrt in der kasachischen Steppe ein "Geigerzähler" zum Leitmotiv wird, ist ein Kunstgriff, der Vergangenes und Gegenwärtiges unerbittlich zusammenzwingt. Die radioaktive Verseuchung ist die postsowjetische Realität – gleichzeitig ist es ein Motiv, das in Seilers Kindheit zurückführt und viele seiner Gedichte geprägt hat; er ist im ehemaligen Uranabbaugebiet der DDR aufgewachsen, bei Gera. Die Begegnung mit dem Heizer im Zug jedoch lebt von Proletariat und Romantik, von der emphatischen Besetzung von Literatur über alle Grenzen hinweg – der Heizer zitiert Heine und strahlt eine Körperlichkeit aus, die in ihrer Unmittelbarkeit bedrohlich und fremd wirkt.
"Die Anrufung" ist ein kleiner Essay über das Wesen der Schönheit, der in die Kindheit Seilers zurückführt: Es geht um die Entdeckung der eigenen Stimme. Das allerdings ist für Seilers Literatur zentral. Der 1963 geborene Autor, als Lyriker bekanntgeworden, ist unverkennbar auf dem Weg zur Prosa, und seine Stimme ist in der Landschaft der Gegenwartsliteratur völlig eigen und unverkennbar.
Rezensiert von Helmut Böttiger
Lutz Seiler: Turksib. Zwei Erzählungen
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main
46 Seiten, 12,80 Euro
Da Seiler den Bachmann-Preis erhalten hat, ist es naheliegend, dass in kurzem Abstand darauf, wenn die Erinnerung noch einigermaßen frisch ist, das Buch mit dem besagten Text erscheint. Es ist eine sehr schmale Broschüre geworden. In Klagenfurt wurde zwar geraunt, Seiler arbeite gerade an einem Erzählungsband; ein Juror glaubte sogar, er habe in Zeitschriften schon mehrere davon gelesen – allein, "Turksib" ist das Einzige, was Seiler bisher öffentlich machen will. Eine zweite, noch schmalere Erzählung ist dem beigesellt: "Die Anrufung", die bereits in dem kleinen bibliophilen Verlag von Ulrich Keicher im schwäbischen Warmbronn erschienen war und nicht unerheblichen Teil daran trug, dass Seiler 2006 den Preis der SWR-Bestenliste bekam. Viele Preise, wenig Text: aber bei Seiler ist das überhaupt kein Grund zum Argwohn. Er schreibt langsam, und seine Texte haben eine Dichte, die ihresgleichen sucht.
Wie bei der Zugfahrt in der kasachischen Steppe ein "Geigerzähler" zum Leitmotiv wird, ist ein Kunstgriff, der Vergangenes und Gegenwärtiges unerbittlich zusammenzwingt. Die radioaktive Verseuchung ist die postsowjetische Realität – gleichzeitig ist es ein Motiv, das in Seilers Kindheit zurückführt und viele seiner Gedichte geprägt hat; er ist im ehemaligen Uranabbaugebiet der DDR aufgewachsen, bei Gera. Die Begegnung mit dem Heizer im Zug jedoch lebt von Proletariat und Romantik, von der emphatischen Besetzung von Literatur über alle Grenzen hinweg – der Heizer zitiert Heine und strahlt eine Körperlichkeit aus, die in ihrer Unmittelbarkeit bedrohlich und fremd wirkt.
"Die Anrufung" ist ein kleiner Essay über das Wesen der Schönheit, der in die Kindheit Seilers zurückführt: Es geht um die Entdeckung der eigenen Stimme. Das allerdings ist für Seilers Literatur zentral. Der 1963 geborene Autor, als Lyriker bekanntgeworden, ist unverkennbar auf dem Weg zur Prosa, und seine Stimme ist in der Landschaft der Gegenwartsliteratur völlig eigen und unverkennbar.
Rezensiert von Helmut Böttiger
Lutz Seiler: Turksib. Zwei Erzählungen
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main
46 Seiten, 12,80 Euro