Arche-Gründer Jean Vanier wird 90

Auf Augenhöhe zusammen leben und beten

Der Arche-Gründer Jean Vanier im Jahr 2014.
Der Arche-Gründer Jean Vanier im Jahr 2014. © AFP
Von Stefanie Oswalt |
In über 130 Arche-Gemeinschaften weltweit leben Menschen mit und ohne geistige Behinderung zusammen. Gründer ist der 90-jährige kanadische Theologe Jean Vanier. Seine Idee wirkt weiter – doch die Spiritualität in den Gemeinschaften verändert sich.
Mittagessen bei der Arche Tecklenburg im Münsterland. 18 erwachsene Menschen mit schwerer geistiger Behinderung, Bewohner genannt, leben mit ebenso vielen Assistenten und Assistentinnen in drei Häusern zusammen. Formal ist die Arche Tecklenburg an die Diakonie angeschlossen, finanziert wird sie vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Heute ist der Tisch in Haus Bodelschwingh gedeckt – ein geräumiges Wohnhaus mit großen Fenstern und soliden Holzmöbeln. Zeichnungen der Bewohner hängen an den Wänden und Fotos vom letzten Karneval. Es gibt Kartoffelgratin, bunten Salat und Holunderschorle.
Die meisten Bewohner sind noch in der Werkstatt. Christa und Agnes haben am Vormittag Mandalas ausgemalt und später den Tisch gedeckt. Beide sprechen aufgrund ihrer Behinderung nur wenig. Aber dass sie die Geselligkeit genießen, spiegelt sich in ihren Gesichtern.
"Das ist keine normale Arbeitsstelle, die Arche. Das ist ein Leben und das ist schon ein Leben, wofür man sich bewusst entscheiden muss."
Gertrud Nicola ist Ende 50 und leitet die Arche Tecklenburg.
"Ich habe Sozialpädagogik studiert und im Rahmen eines Praktikums war ich im Sommer in Trosly-Breuil in der Gründungsgemeinschaft und hab dieses Leben kennen gelernt und war total geplättet, dass es so etwas gibt. Ich hatte vorher immer schon gedacht: Menschen mit Behinderung, das zieht mich irgendwie an, aber in so einer normalen Einrichtung, das konnte ich mir jetzt gar nicht vorstellen. Und dann habe ich die Arche kennengelernt und habe gedacht: Das ist ja wie eine Antwort."

Eine Gemeinschaft, die Geborgenheit und Nähe stiftet

16 Jahre lang hat Gertrud Nicola in Trosly-Breuil in verschiedenen Funktionen gearbeitet und dabei auch den Gründervater Jean Vanier kennengelernt.
Nicola: "Der Jean Vanier, das ist ein ganz normaler Mensch mit einem großen Charisma. Der hat ja viele Menschen da mit hineingezogen in das Arche-Boot. Ich hab damals am Anfang erst die Hausleitung gehabt, und da hab ich schon auch diesen Offizierscharakter wahrgenommen. Der war schon recht direktiv und wusste schon recht gut, was er wollte."
Nämlich ein Zusammenleben von geistig Behinderten und nicht-behinderten Menschen auf Augenhöhe. Keine Pflegeeinrichtung mit ständig wechselndem Fachpersonal, sondern eine Gemeinschaft, die Geborgenheit stiftet, in der man sich emotional nah sein kann, den Alltag miteinander teilt und Behinderung anders wahrnimmt – was durchaus umstritten ist. Kritiker sehen bei der Arche die Gefahr, Behinderung zu verklären, die Spiritualität den Bewohnern bisweilen aufzuzwingen und politisch nicht genug für die Rechte behinderter Menschen einzutreten. Befürworter heben den ganz anderen Umgang hervor, der den Betroffenen viel besser gerecht werde.
Nicola: "Das Ausschlaggebende ist, dass wir hier mit unseren Bewohnern in einer Beziehung stehen, die auf Gegenseitigkeit beruht und auf Freundschaft beruht, das ist das Wichtige in der Arche. Und das ist auch das, worauf die Spiritualität der Arche gründet und wo viele Assistenten auch eine Gotteserfahrung in dieser Beziehung machen."
Das alltägliche Miteinander wirkt sehr harmonisch an diesem Nachmittag in Tecklenburg. Die Bewohner sind aus der Werkstatt zurückgekommen, auf den gemütlichen Sofas im Gemeinschaftsraum sitzt man bei Keksen und Tee zusammen. Die Angestellten der Arche verstehen sich nicht als Pflegepersonal oder Betreuer, sondern als Assistenten der behinderten Menschen. Der 30-jährige Dieter spielt mit einer Assistentin mit einem roten Kinderspielzeugauto. Ingeborg von Müller tröstet eine blinde und stumme Bewohnerin, deren Tag nicht so gut gelaufen ist.

Geringes Einkommen und Verzicht auf Privatleben

Das Besondere an der Arche: Assistenten und Bewohner leben hier jahrelang Tür an Tür. Sie essen gemeinsam, teilen die Aufenthaltsräume, feiern Feiertage, beten und singen miteinander. Häufig verbringen sie auch ihre Freizeit miteinander. Nur einige wenige Assistenten leben außerhalb der Arche. Wer Familie hat, bringt diese mit zu Festen und Veranstaltungen. Ein Leben in der Arche fordere viel Verzicht auf Privatleben und ein enormes Engagement, sagen alle Beteiligten. Dazu zählt etwa die Bereitschaft, für wenig Geld beinahe rund um die Uhr im Einsatz zu sein. Der evangelische Diakon Hans-Martin Lagemann hat die Arche 1986 in Tecklenburg gegründet. Er erinnert sich
"Die haben mich am Anfang ja alle ausgelacht, als ich zum ersten Mal hier was von Arche erzählte. Da haben die gesagt: Das kannst du überall machen, aber nicht in Deutschland. Das passt nicht in die Sozialgesetzgebung. Und wer ist denn so verrückt und arbeitet zum Taschengeld und zieht dann noch mit diesen Behinderten zusammen?"
Die Jahre haben gezeigt: Es gibt Menschen, die sich für diesen Weg entscheiden, auch junge, wie der 19-jährige Johann Beihofer aus Stuttgart. Er kam als Schülerpraktikant nach Tecklenburg und absolviert jetzt ein freiwilliges soziales Jahr dort.
Beihofer: "In der ersten Woche ist mir gleich aufgefallen: Mir gefällt das hier. Ich fühl mich einfach wohl. Mir gefällt die Arbeit, mir gefällt die Gemeinschaft, dieses ganze Feeling einfach hat mich sehr angesprochen. Der Glaube spielt für mich eine wichtige Rolle. Die Arche ist etwas Einzigartiges, was das halt verbindet: soziale Arbeit mit Spiritualität, und das gleicht sich gut aus."
Jeden Abend treffen sich die Arche-Mitglieder in ihren jeweiligen Häusern zum Abendgebet. Jeden Donnerstag versammeln sie sich, so wie heute, im Andachtsraum von Haus Apfelallee zur Andacht mit Wunschkonzert.

Im Arche-Netzwerk sind die Mitglieder weltweit willkommen

Die Mitglieder verstehen sich als Teil der weltweiten Arche. Zwischen der Arche Tecklenburg und einer Arche in Simbabwe gibt es eine Patenschaft, die auch im Gottesdienst immer wieder in Erinnerung gerufen wird. Es sind auch diese internationalen Verbindungen, die die Arche für ihre Mitglieder attraktiv machen. Wer zur Arche gehört, ist in allen 130 Archen weltweit willkommen. Als Mitarbeiter, aber auch als Gast. Gertrud Nicola etwa hat 16 Jahre in einer Arche in Frankreich gelebt und Gemeinschaften in Irland, Kanada, Syrien, Elfenbeinküste und Indien besucht.
Nicola: "Man kommt in diese Häuser hinein und man ist irgendwie sofort zu Hause. Ich bin ja nicht der Typ, der sehr abenteuerfreudig in fremden Ländern unterwegs wäre, aber in der Arche fühl ich mich gut aufgehoben."
Doch Gertrud Nicola macht sich manchmal Gedanken über die Zukunft der Arche. Jean Vanier, sagt sie, habe sein Projekt vorbildlich in die Hände einer jüngeren Generation gelegt. Aber in der zunehmenden Säkularisierung und Individualisierung der Gesellschaft sieht sie durchaus eine Schwierigkeit: Heute seien die Menschen weniger bereit, sich sozial zu engagieren. Und Spiritualität suchen viele nicht mehr in der Religion. Die Arche, glaubt Nicola, wird sich verändern müssen, um weiter zu bestehen:
"Wir stellen uns auch verstärkt drauf ein, dass Menschen kommen, die einfach keinen christlichen Hintergrund haben – und da gucken wir: Wie bleiben wir geeint? Wie bleiben wir so geerdet, so verwurzelt in der Geschichte, dass wir hier unseren Glauben immer noch leben können, aber wie bleiben wir auch offen denen gegenüber, die kommen? Das ist schon auch eine Herausforderung."
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