Arbeiterwohnungen mit Paradiesgarten
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Die Architektin Renée Gailhoustet ist eine Unbekannte. Dabei entwarf sie in der Pariser Vorstadt Ivry-sur-Seine Sozialwohnungen, die als Vorbilder für den sozialen Wohnungsbau taugen. Nun wird die Französin mit dem Großen Kunstpreis Berlin geehrt.
"Sie war in Frankreich einmal eine der wichtigsten, führenden, auch erfindungsreichsten Architektinnen sowieso, aber auch Architekten ihrer Generation zu einer Zeit in den 60er-Jahren, wo es ganz wenige Architektinnen überhaupt gab. Und damals war das, was sie machte eine Revolution." So huldigt Architekturkritiker Niklas Maak der 89-jährigen Renée Gailhoustet, die heute mit dem Großen Kunstpreis Berlin ausgezeichnet wurde. "Das war eine Generation von Frauen, die sehr viel bewegt haben in Frankreich. Und deswegen, finde ich, ist es auch sehr wichtig, dass sie diesen Preis heute bekommt."
Schlaf-Betonregale versus Wohnpyramiden mit Gärten
In den späten 60er-Jahren habe man zu sehen begonnen, was der Nachkriegswohnungsbau sozial wie ökonomisch angerichtet hatte in den Vorstädten mit dem Errichten von "Schlaf-Betonregalen". "In der Phase war sie eine der ersten und auch klügsten Personen, die gesagt haben: 'So können wir nicht weitermachen.'" Ihre "geniale" Idee war, Pyramiden zu bauen, "wo jede Wohnung eine Dachterrasse hat." Und im Inneren dieses Dreiecks sollten dann soziale Räume sein − Kindergärten, Partyräume oder Einkaufszentren.
Paradoxes Win-Win für Kommunismus und Kapitalismus
1929 in Algerien geboren, hatte Gailhoustet zuerst Philosophie studiert, dann aber irgendwann entschieden, "sie möchte die Gesellschaft nicht verändern als politisch philosophische Denkerin, sondern als Praktikerin." Für die Anhängerin Gailhoustet spielte der Kommunismus dabei eine bedeutende Rolle. Ihr Entwurf sei "eine geniale Kombination aus einer ursprünglich kommunistischen Utopie und: Der Arbeiter soll so wohnen wie der Palastbesitzer" und "kapitalistischem Pragmatismus". "Das heißt, das Einkaufszentrum finanziert eigentlich die Dachterrassen, die hängenden Gärten für den Geringverdiener. Und das ist gewissermaßen damals eine paradoxe Win-Win-Situation gewesen."
Leider verschwand Gailhoustet immer wieder im Schatten ihres Liebhabers und Vaters der gemeinsamen Kinder, Jean Renaudie. "Er hat viel mehr Vorträge gehalten. Sie hat sich um die Kinder gekümmert und diese Projekte weiterentwickelt." Im Zuge der Ökonomisierung des Bauens und des Rückzugs des Staates aus dem öffentlichen Bauen seien aber alle diese Projekte gestorben, erklärt Maak.
"Eine Architektur, die heute noch vorbildlich ist"
"Hätte man alles um Paris herum so gebaut, wie Rene Gailhoustet das entworfen hat, hätte man wahrscheinlich weniger Ärger mit marodierenden Jugendbanden, mit Arbeitslosigkeit, mit dem Gefühl der Weggesperrtheit. Das heißt, das ist eine Architektur, die heute noch vorbildlich ist." Ein so vorbildliches Denken, "das wir auch in Berlin übrigens dringend gebrauchen könnten".
(kpa)