Ein kollektives Gedächtnis für Europa
08:34 Minuten
Was macht Europa aus? Antworten gibt ein „Archiv der Stimmen“ mit europäischen Zeitzeugen, die zwischen 1920 und 1940 geborenen sind. So soll ein kollektives Gedächtnis als Basis für Verständigung entstehen.
"Ich höre noch, da war ein Radio, so ein piep piep piep, da hat’s geheißen, Anflug einer Irgendwas auf Wien. Dann hat man von fern schon gehört rrrrrrhh, das ist immer lauter und lauter und lauter geworden. Da war ein kleiner Rucksack gepackt für mich, da war ein Kasperle drauf, ohne den bin ich nämlich nie schlafen gegangen. Und dann habe ich schon den Rucksack gepackt und bin in den Keller."
Hanna Molden war damals noch ein kleines Kind, aber ihre Erinnerung an die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg sind stark. Auch an die Zeit, als der Krieg zu Ende war.
"Mit welchem Gefühl haben Sie als junger Mensch in die Zukunft geblickt? Erinnern Sie sich daran noch?"
"Ohne Angst. Ich weiß noch, wie Hunger war, und dann plötzlich war die Frage Hunger kein Thema mehr. Und es wurde alles reicher, es wurde alles gepolsterter, es ging immer aufwärts. Ich weiß also viele jüngere Menschen, die nie eine Bombe fallen hören haben. Jetzt denke ich mir, so diese Generation wie mein Enkel und die anderen Enkeln, die werden das schon meistern, ihre Welt, die machen das schon. Aber sie wird sich, glaube ich, sehr weit weg entwickeln von diesen, sagen wir, 1950 bis 1990, das sind 40 Jahre, Aufwärtsgehen, Friede, nichts passiert. Du lebst im Paradies, eigentlich."
Hanna Molden war damals noch ein kleines Kind, aber ihre Erinnerung an die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg sind stark. Auch an die Zeit, als der Krieg zu Ende war.
"Mit welchem Gefühl haben Sie als junger Mensch in die Zukunft geblickt? Erinnern Sie sich daran noch?"
"Ohne Angst. Ich weiß noch, wie Hunger war, und dann plötzlich war die Frage Hunger kein Thema mehr. Und es wurde alles reicher, es wurde alles gepolsterter, es ging immer aufwärts. Ich weiß also viele jüngere Menschen, die nie eine Bombe fallen hören haben. Jetzt denke ich mir, so diese Generation wie mein Enkel und die anderen Enkeln, die werden das schon meistern, ihre Welt, die machen das schon. Aber sie wird sich, glaube ich, sehr weit weg entwickeln von diesen, sagen wir, 1950 bis 1990, das sind 40 Jahre, Aufwärtsgehen, Friede, nichts passiert. Du lebst im Paradies, eigentlich."
Die fast 80-jährige Hanna Molden wohnt in Wien, im schicken ersten Bezirk nahe des Wiener Rings. Sie ist Journalistin und Witwe des Verlegers und Widerstandskämpfers Fritz Molden. Ihr gegenüber sitzt Anna-Maria Wallner, ebenfalls Journalistin. Sie ist eine von 40 jungen Interviewerinnen und Interviewern aus ganz Europa, die sich ein großes Projekt vorgenommen haben.
"Das Projekt haben wir ins Leben gerufen", erzählt die Schriftstellerin Nora Bossong, "weil es aus unserer Sicht wichtig ist, dass man eine Perspektive auf Europa findet, die durch Erfahrung, vielleicht auch durch enttäuschte Hoffnungen und erfüllte Hoffnungen geprägt ist. Und die Frage nach Europa, wie es jetzt ist, wie es werden könnte, glaube ich, kann man nicht ohne einen Blick in die Vergangenheit und das, was geschehen ist, stellen."
"Das ist das entscheidende Ziel, dass wir am Ende wirklich etwas anderes erzählen können als eine jüngere Generation über Europa, als nur das, was die Politiker meinen, was die EU ist", sagt Simon Strauß.
"Das Projekt haben wir ins Leben gerufen", erzählt die Schriftstellerin Nora Bossong, "weil es aus unserer Sicht wichtig ist, dass man eine Perspektive auf Europa findet, die durch Erfahrung, vielleicht auch durch enttäuschte Hoffnungen und erfüllte Hoffnungen geprägt ist. Und die Frage nach Europa, wie es jetzt ist, wie es werden könnte, glaube ich, kann man nicht ohne einen Blick in die Vergangenheit und das, was geschehen ist, stellen."
"Das ist das entscheidende Ziel, dass wir am Ende wirklich etwas anderes erzählen können als eine jüngere Generation über Europa, als nur das, was die Politiker meinen, was die EU ist", sagt Simon Strauß.
Die Motivation von Nora Bossong und dem Journalisten Simon Strauß erinnert an Stefan Zweig. Anfang der 1930er-Jahre betonte der in seinen Europa-Reden die Notwendigkeit einer emotionalen Bindung zu Europa. Die könne man nur über eine Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Geschichte erreichen. Seine Hoffnung richtete er auf die junge Generation – jene Generation, die wenig später erlebte, was es bedeutet, Europa nicht als gemeinsamen Lebensraum zu verstehen, sondern einen großen Krieg in Europa zu entfesseln.
"Hallo everyone, my name is Haris, I come from Sarajewo, Bosnia Herzegovina. Hello I am João Francisco from Portugal and I am a journalist. Hi my name is Evelyn, I was born in Groningen in the Netherlands and I am now living in Heidelberg in Germany. Hello I am Urh from Slovenia. By education I am a philosopher but I work as a tax advisor."
"Hallo everyone, my name is Haris, I come from Sarajewo, Bosnia Herzegovina. Hello I am João Francisco from Portugal and I am a journalist. Hi my name is Evelyn, I was born in Groningen in the Netherlands and I am now living in Heidelberg in Germany. Hello I am Urh from Slovenia. By education I am a philosopher but I work as a tax advisor."
Europäerinnen aus über 30 Ländern interviewen Zeitzeugen
Im Ballinhaus, dem Hauptsitz der Reederei Hapag Lloyd, konnte man in der großen Schalterhalle früher Schiffstickets zur Atlantiküberquerung kaufen. An einem kalten Januartag haben sich hier Europäerinnen aus über 30 Ländern versammelt. Die meisten von ihnen kennen sich nicht. Manche kennen nicht einmal die Initiatoren des Projekts, das an diesem Wochenende seinen Anfang nimmt. Eine der Interviewerinnen ist Mariana aus Albanien.
"Ich wurde von Jan für das Projekt vorgeschlagen. Er erklärte mir, dass es ein großes Projekt über das kollektive Gedächtnis von Menschen aus Europa sei. Für mich ist es interessant, weil ich mich immer als Teil Europas gefühlt habe, ohne dass Albanien Teil der Europäischen Union ist. Daher scheint es mir sehr richtig, dass ich in diese Runde eingeladen wurde."
Die Teilnehmenden haben in den folgenden zwei Jahren die Aufgabe, europäische Zeitzeugen in ihren Heimatländern zu interviewen. Menschen, die zwischen 1920 und 1940 geboren sind, sollen ihre persönlichen Lebensgeschichten erzählen. So soll ein "Europäisches Archiv der Stimmen" entstehen, auf das spätere Generationen zurückgreifen können. In wechselnden Runden werden erst einmal Fragen für die Interviews erarbeitet.
"Ich wurde von Jan für das Projekt vorgeschlagen. Er erklärte mir, dass es ein großes Projekt über das kollektive Gedächtnis von Menschen aus Europa sei. Für mich ist es interessant, weil ich mich immer als Teil Europas gefühlt habe, ohne dass Albanien Teil der Europäischen Union ist. Daher scheint es mir sehr richtig, dass ich in diese Runde eingeladen wurde."
Die Teilnehmenden haben in den folgenden zwei Jahren die Aufgabe, europäische Zeitzeugen in ihren Heimatländern zu interviewen. Menschen, die zwischen 1920 und 1940 geboren sind, sollen ihre persönlichen Lebensgeschichten erzählen. So soll ein "Europäisches Archiv der Stimmen" entstehen, auf das spätere Generationen zurückgreifen können. In wechselnden Runden werden erst einmal Fragen für die Interviews erarbeitet.
Die EU hat abgelehnt, das Projekt zu fördern: Zu wenig Punkte auf der Output-Skala. Zustande gekommen ist es durch die Unterstützung von Stiftungen trotzdem. Das "Archiv der Stimmen" wird von bekannten Intellektuellen wie der Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels, Aleida Assmann, begleitet. Auch der Soziologe Heinz Bude gehört zu den Unterstützern. Er weiht die Teilnehmenden in die Kunst des Interviewens ein.
"Die größte Schwierigkeit ist darin, die Verbindung zwischen persönlichen Geschichten und kollektiven Belangen hinzukriegen. Denn man findet nur dann eine innere Verankerung in Europa, wenn man etwas aus den persönlichen Geschichten heraus destillieren kann, und ich hoffe, dass Ihnen das gelingt, dass die Frage von Europa am Ende auch immer eine Frage einer persönlichen Involvierung in Europa ist."
"Die größte Schwierigkeit ist darin, die Verbindung zwischen persönlichen Geschichten und kollektiven Belangen hinzukriegen. Denn man findet nur dann eine innere Verankerung in Europa, wenn man etwas aus den persönlichen Geschichten heraus destillieren kann, und ich hoffe, dass Ihnen das gelingt, dass die Frage von Europa am Ende auch immer eine Frage einer persönlichen Involvierung in Europa ist."
Ein Pole und ein Portugiese erzählen
Der polnische Gewerkschafter Henryk Wujec stammt aus einer Bauernfamilie und war einer der führenden Köpfe der Solidarność – der Oppositionsbewegung in Polen, die die Befreiung vom Kommunismus im ganzen Ostblock ins Rollen brachte.
"Ende August 1980 hielt fast das ganze Land inne. Überall drohte Streik, und die Autoritäten fühlten die Pistole auf der Brust, also unterzeichneten sie. So entstand die Solidarność-Bewegung. Wir waren zu dieser Zeit im Gefängnis. Denn sie wussten: Wenn sie uns nicht einsperren, können sie die Welle nicht mehr aufhalten. Aber es war bereits zu spät. Die Maschine rollte schon."
Noch war der Kontinent durch den Eisernen Vorhang geteilt. Aber Europa war schon damals der Resonanzraum für die Oppositionellen – als Freiheitsraum. Und sie selbst vermittelten in anderen europäischen Ländern das Gefühl, nicht allein zu sein und machten Mut, sich ebenfalls aufzulehnen.
Noch war der Kontinent durch den Eisernen Vorhang geteilt. Aber Europa war schon damals der Resonanzraum für die Oppositionellen – als Freiheitsraum. Und sie selbst vermittelten in anderen europäischen Ländern das Gefühl, nicht allein zu sein und machten Mut, sich ebenfalls aufzulehnen.
Lange Zeit hatte in Europa vor allem der Hochadel europäisch gedacht, sich europäisch vernetzt und Kriege geführt. Dass Europa ein von allen geteilter Lebensraum sein kann, ist, historisch betrachtet, eine junge Erfahrung. Diese Erfahrung über persönliche Geschichten zu stärken, ist das Anliegen des Interviewprojekts.
João Francisco ist 23 Jahre jung und Portugiese. Er hat Professor Adriano Moreira interviewt. Der 96-jährige war Übersee-Minister in Portugal und damit einer der führenden Politiker des Landes. Seine Erinnerungen sind geprägt von der Politik der frühen Nachkriegsjahre, als die ersten Schritte zu einer europäischen Vereinigung unternommen wurden.
João Francisco ist 23 Jahre jung und Portugiese. Er hat Professor Adriano Moreira interviewt. Der 96-jährige war Übersee-Minister in Portugal und damit einer der führenden Politiker des Landes. Seine Erinnerungen sind geprägt von der Politik der frühen Nachkriegsjahre, als die ersten Schritte zu einer europäischen Vereinigung unternommen wurden.
"Ich erinnere mich manchmal an die Interventionen von Jean Monnet. Er hatte nie ein wichtiges politisches Amt inne, aber seine Gedanken waren entscheidend, sei es im Ersten Weltkrieg, wo er sich für die Unterstützung der Alliierten einsetzte, sei es im Zweiten Weltkrieg oder bei der Gründung der Europäischen Union. Aber am Ende seines Lebens sagte er in seinen Memoiren: ‚Wenn es heute wäre, würde ich nicht mit Wirtschaft anfangen, sondern mit Kultur.‘ Es ist ein wirtschaftliches Projekt, und es wächst kontinuierlich. Das gibt Europa eine Art interne Hierarchie, die nicht gut ist. Deswegen sprach Jean Monnet von der Kultur. Was Europa braucht, ist eine gleichberechtigte Würde, keine hierarchische Überlegenheit einiger Länder."