Zwischen Corona und Staatspleite
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Durch einen frühen Lockdown konnte Argentinien Corona besser eindämmen als die anderen Staaten Südamerikas. Doch die schwere Wirtschaftskrise des Landes wurde dadurch verschärft. Das Land ist pleite. Wie leben die Argentinier mit Virus und Ruin?
"Mit der Zigarette stehe ich in der Küche, in meinem Zimmer oder im Bad, jeder Blick in die Sonne macht mich fast blind", singt Gloria Guerra. "Mein Eingesperrtsein bringt mich zum Schwitzen. Jeder Tag die gleiche Geschichte. Ach, alte, geliebte Straße in meinem Viertel, du weißt ja gar nicht, wie ich dich vermisse. Ich öffne ja nicht mal mehr die Tür, als Risikogruppe, die ich bin."
Den Tango kann ihr niemand nehmen, auch Corona nicht. Gloria Guerra singt sich den Quarantäne-Koller vom Herzen. Und Millionen Landsleuten damit aus der Seele. Ihre tragikomische Interpretation per Selfie-Video wurde in Argentinien zum Hit der "Cuarentena obligatoria", wie der Lockdown offiziell heißt.
Das Land hat schon Mitte März einige der striktesten Quarantänemaßnahmen Lateinamerikas verhängt. Schulen wurden geschlossen, Flughäfen, Geschäfte, selbst Spaziergänge waren bis vor Kurzem nicht erlaubt – und ob die legendären Milongas, die Tanzlokale, in diesem Jahr überhaupt wieder eröffnen können, das steht in den Sternen. Mit Gloria Guerra spreche ich per Telefon.
"Die Magie des Tango ist das Gemeinsame, das Zusammenwachsen in der Umarmung", erklärt sie. "Der Tango ist nicht nur eine Musik, er ist das Leben, wortwörtlich: Für die vielen passionierten Tangueros älteren Kalibers, wie mich, ist er ein Halt, eine Stütze. Nicht zu denken an all die professionellen Tänzer und Musiker, die nun kein Einkommen mehr haben. Denn die lokale Szene lebt vom Austausch von den Touren und Workshops im Ausland und von den Touristen, die hier den wahren Tango erleben möchten. Ohne sie konnten die Milongas ja schon vorher kaum die Stromrechnung bezahlen. Daran hängen Hunderte Jobs: Kellner, Köche, Kassenwärter."
Oder Glorias Guerras Boutique. Sie verkaufte edle Abend- und Tanzmode. Glamour importiert aus Italien, die teure Winterkollektion lagert nun in Kartons, ihre Angestellte hat sie ausbezahlt. Die Miete und Nebenkosten für das Lokal kann sie nicht mehr bezahlen. Das Geschäft, das sie nach der letzten Wirtschaftskrise 2001 aufgebaut hat, von dem sie 15 Jahre gut lebte, muss sie nun aufgeben.
Trotzdem besteht für Gloria Guerra kein Zweifel: "Ich bin absolut einverstanden damit, wie die Regierung reagiert hat, egal ob ich sie gewählt habe oder nicht. Wir hatten hier das Glück, in die Zeitung von morgen blicken zu können."
Die Wirtschaft schützen oder Leben retten?
Die Bilder von Militärkonvois aus Bergamo, die Leichen abtransportierten, oder von weinenden Ärzten aus Madrid haben die Menschen hier in Argentinien mit Schrecken verfolgt – auch hier wurde für Ärzte und Pflegepersonal applaudiert. Damals meldete Argentinien nicht einmal 200 Fälle. Nun, zwei Monate später hat Corona Lateinamerika mit voller Wucht erreicht und die Horrorbilder, die kommen nun aus den Nachbarländern.
Allen voran aus Brasilien: Dort gibt es täglich mehr Neuninfektionen als in den USA. Der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro, der die Pandemie weiterhin als "kleine Grippe" abtut, hat das Land geradewegs in die Katastrophe gesteuert.
Argentiniens Mitte-Links Präsident Alberto Fernández erklärte derweil schon Mitte März: "Ich bitte alle, dass sie verstehen, dass wir gerade eine Ausnahmesituation erleben. Es ist ein falsches Dilemma, ob wir die Wirtschaft schützen sollen oder die Gesundheit der Menschen. Eine Wirtschaft, die abstürzt, steht auch wieder auf. Aber ein Leben, das ausgelöscht wird, kommt nie wieder zurück."
Das sonst so rebellische und politisch polarisierte Buenos Aires scheint plötzlich vereint im Kampf gegen die Pandemie. Diszipliniertes Abstandhalten vor Läden und Apotheken, die Mundschutzpflicht wird eingehalten. Präsident Fernández arbeitet eng mit den Provinzgouverneuren zusammen, quer durch alle politischen Lager.
Über 70 Prozent Zustimmung für den Präsidenten
Er hat das Image des Krisenmanagers und Staatsmannes gewonnen. Dabei galt er im Wahlkampf vor einem Jahr noch als Marionette seiner Vizekandidatin, der linkspopulistischen Ex-Präsidentin Cristina Kirchner. Nun hat er Zustimmungswerte von über 70 Prozent. Denn Argentinien steht im Kampf gegen die Pandemie weitaus besser da als die Nachbarn. Haben die harten Maßnahmen ihren Zweck erfüllt, frage ich die renommierte argentinische Epidemiologin Mabel Bianco.
"Ich denke, Argentinien hat richtig daran getan, solche harten und vielleicht auch sehr frühzeitigen Maßnahmen zu verhängen", sagt sie. "Sie haben es zumindest erlaubt, dass unsere Krankenhäuser jetzt besser aufgestellt sind. Anfang des Jahres fehlte es in den Hospitälern an allem: an Personal, an Intensivbetten, an Beatmungsgeräten. Auch die privaten Kliniken waren übrigens oft nicht viel besser aufgestellt. Die Regierung hat seitdem viel investiert, auch in die Forschung, um die Testkapazität zu erhöhen und weniger auf die derzeit extrem teuren medizinischen Importe angewiesen zu sein. Aber es ist auch klar, dass wir wirtschaftlich in einer furchtbaren Krise stecken, die Regierung unterstützt viel, aber die Wahrheit ist auch: Das wird nicht ausreichen."
Denn: Corona trifft auf ein Argentinien, das bereits ohne die Pandemie am Abgrund balancierte. Mit einer Wirtschaft auf Schrumpfkurs, einer Inflation, die schon im vergangenen Jahr die 50-Prozent-Marke knackte, Hunderttausende haben ihre Jobs, verloren, vier von zehn Argentiniern gelten als arm. Die Hoffnung auf Wandel hat dem Peronisten Alberto Fernández 2019 den Wahlsieg beschert, dann kam Corona.
"Das hier ist ein Überlebenskampf"
Vor den Suppenküchen, wie hier im Stadtteil Constitución im Süden von Buenos Aires, gehen die Schlangen inzwischen über mehrere Straßenblöcke. Längst warten dort auch Menschen wie Omar Fernández. Mit Jobs auf dem Bau oder kleinen Reparaturen konnte er früher einigermaßen leben, die Familie ernähren. Schwarz, ohne Vertrag oder Absicherung. Acht Millionen arbeiten in Argentinien so, in der Informalität. Wer nicht arbeitet, hat nichts zu essen. Wer nichts zu essen hat, kann nicht zu Hause bleiben.
"Es herrscht große Not", sagt er. "Die Leute haben nichts mehr zu essen. Ich glaube, die Regierung tut ihr Möglichstes, um den Menschen zu helfen. Aber lang halten wir das nicht mehr durch. Die ganze Wirtschaft bricht zusammen. Das hier ist ein Überlebenskampf."
Mehr Geld drucken als Lösung
Die Regierung hat ein milliardenschweres Notfallprogramm aufgelegt. Dabei ist die Staatskasse leer. Finanziert werden kann das alles derzeit nur mit der Notenpresse. Neben der Pandemie kämpft das Land gegen den Bankrott. Über 300 Milliarden US-Dollar an Auslandschulden hat die gerade angetretene Regierung von den Vorgängern geerbt.
Argentinien wolle zahlen, doch nur insofern das in der aktuellen Krise tragbar sei, erklärte Wirtschaftsminister Martin Gúzman Mitte April: "Wir sind uns alle gewahr, dass Argentinien heute nicht bezahlen kann. Das Land ist nicht in der Situation, das tragen zu können. Während einiger Jahre werden wir nicht zahlen können."
Privaten Gläubigern, zu denen große Investmentgesellschaften gehören, wurde ein taffes Angebot für einen Schuldenschnitt vorgelegt. Doch eine Einigung gibt es noch nicht.
"Wir sitzen alle am Verhandlungstisch, aber es fehlt noch eine gute Wegstrecke. Wir brauchen eine nachhaltige Lösung, die den beschränkten Möglichkeiten Argentiniens Rechnung trägt. Wir wollen nur Versprechen geben, die wir auch halten können."
Das Bruttoinlandsprodukt wird um 5,7 Prozent fallen
Die Aussichten sind schwarz: Das Bruttoinlandsprodukt werde infolge der Coronakrise um 5,7 Prozent fallen, schätzt der Weltwährungsfonds – ausgerechnet er, der IWF, unterstützt Argentiniens Position. Schließlich steht auch für ihn viel auf dem Spiel: Hatte er Argentinien doch unter Fernández marktliberalem Vorgänger Mauricio Macri den größten Kredit seiner Geschichte gewährt.
Macri wurde damals als liberaler Reformer gefeiert. Warnungen, Argentiniens Wachstumsprognosen seien viel zu optimistisch, wurden überhört – schließlich bot das Land außergewöhnlich hohe Zinsen.
"Hohe Gewinne, hohe Erträge, gehen mit hohem Risiko einher und jeder, der in Argentinien investiert hat, wusste das ist ein Hochrisikogeschäft", sagt Christoph Trebesch vom Kieler Institut für Weltwirtschaft: Ein erneuter Staatsbankrott Argentiniens hätte nicht nur für das Land selbst dramatische Folgen.
Er könnte auch als Blaupause, als Präzedenzfall für andere Länder gelten, die durch die Coronakrise in Not geraten, sagt der renommierter Experte für Schuldenkrisen: "Und das wird auch der IWF sehr genau beobachten, also klappt sozusagen eine markbasierte kooperative Umschuldung, bei der die Gläubiger auch mitmachen, oder haben wir es hier mit einem Versagen des Modells zu tun."
Denn nach wie vor gibt es für die Umstrukturierung von Staatsschulden keinen internationalen Rechtsrahmen.
Zu alledem droht die Stimmung nun auch im Land zu kippen. Einige Vertreter aus dem rechtskonservativen Lager warnen: Nach 70 Tagen Quarantäne stehe die Demokratie auf dem Spiel. Am Obelisken, am Wahrzeichen von Buenos Aires gibt es Hupkonzerte und eine sogenannten "Karawane gegen die Infektatur". Die einen fordern "Mehr Lockerung" und Staatshilfen, die anderen warnen vor der Corona-Verschwörung und dem totalitären Staat.
Zwar wurde der strikte Lockdown auch in Argentinien gelockert, die Entscheidung obliegt den einzelnen Provinzen. Allerdings steuert das Land gerade erst auf den Höhepunkt der Pandemie zu – beziehungsweise Buenos Aires. In der Millionenmetropole steigen die Fallzahlen sprunghaft an – und zwar vor allem in drei Vierteln. Dort, wo die größten Villas der Stadt liegen, wie die Armenviertel hier genannt werden.
Die Hände waschen - ohne Wasser
"Seit acht Tagen haben wir kein Wasser! Und sie fordern von uns, dass wir die Hygiene einhalten, dass wir uns die Hände waschen." Ramona Medina schlug Alarm, schon vor einem Monat. Ihre Videomessage ging viral.
Die Sprecherin der Basisorganisation La Poderosa, "Die Mächtige", ist eine von 50.000 Bewohnern der Villa 31. Ein Dickicht aus selbst gemauerten Backsteinhäusern, waghalsig in die Höhe wachsend, ineinander und übereinander verschachtelt. Gassen eng wie ein Hausflur. Die Villa liegt direkt gegenüber den gläsernen Bürotürmen des Stadtzentrums, wo viele als Putzfrauen oder Concierges arbeiten: So kam das Virus auch in die Villa 31, wo sich die Infizierte nicht einmal die Hände waschen konnte.
"Ich frage den Vertreter der Stadtregierung: War er einmal hier in der Villa 31, hat er mal unsere Situation erlebt, unsere Angst, die Verzweiflung? Wie sollen wir uns schützen vor diesem schrecklichen Virus?"
Corona trifft hier nicht alle gleich
Immer wieder hatte Ramona auf die Gefahr der Pandemie für Armenviertel hingewiesen, gefordert, den Gesundheitsnotstand für die Villa auszurufen. Wir waren noch zum Interview verbredet, aber es kam nicht dazu. Ramona ist selbst erkrankt. Von einem Tag auf den anderen musste sie auf die Intensivstation.
Am 17. Mai starb die 42-Jährige an Covid-19. Sie wurde zum Symbol. Dafür, dass Corona eben nicht alle gleich trifft.
Trauer und Wut bei einer improvisierten Pressekonferenz in der Villa. Es sind vor allem Frauen, die das Wort ergreifen. Sie sind es, die derzeit in vorderster Linie das Überleben in den Villas sichern. Solidarische Suppenküchen, Spendenaufrufe via Social Media, Lerngruppen für Kinder und die Altenpflege organisieren. Oder Familien, die als Verdachtsfälle gelten, mit Essen und Medikamenten versorgen.
"Es gibt große Not"
Wie Thelma Soria, Mitte 20, die bei der nun von der Nationalregierung neuaufgelegten Massentest-Kampagne DETECTAR hilft.
Am Telefon erklärt sie mir: "Die Menschen leben dicht an dicht, manche haben nicht mal ein Fenster, um zu lüften. In vielen Sektoren fehlt immer noch Wasser. Jetzt wird es kalt, es gibt große Not. Endlich wird nun mehr getestet, wir tun alles, um das zu unterstützen. Aber wir treffen immer wieder auf Nachbarn, die sich nicht testen lassen wollen, weil sie Angst haben: Vor den Aufnahmezentren oder Hotels, in denen sie isoliert werden. Es gibt viele Nachrichten, dass sie dort allein gelassen werden, sie diskriminiert werden, es kein Essen gibt. Und immer wieder erleben wir Fälle, dass wir minderjährige Kinder allein in ihren Häusern vorfinden, weil die Eltern in Isolation oder ins Krankenhaus geschickt wurden."
Sechs von Thelmas 16 Compañeras haben sich bereits selbst infiziert, es dauerte eine Woche, bis die Stadt den Arbeiterinnen Schutzkleidung stellte. "Wir sind weitgehend auf uns selbst gestellt", sagt Juan Calvetti, Leiter der Gesundheitszentren der drittgrößten Villa der Stadt, mit der Nummer 21-24.
"Die Ombudsstelle der Stadt hat nun Druck gemacht, dass es ein Protokoll für die Villas erarbeitet wird", sagt er. "Die Realität ist aber, dass Personal und Mittel nicht aufgestockt wurden. Wir arbeiten wie zuvor, aber mitten in einer Pandemie. Das geht nur dank des großen solidarischen und oft freiwilligen Netzwerkes der Nachbarn selbst. Aber wir geraten an unsere Grenzen, wenn die Fälle weiter ansteigen, auf 1000, 5000, 10.000?"
"Wir schaffen das nur zusammen"
Der Kampf gegen das Virus ist gleichzeitig ein Kampf gegen krasse soziale Ungleichheit, gegen staatliche Versäumnisse und jahrhundertealte Gräben und Konflikte. Das ist die andere Schuldenlast Argentiniens, die nicht mehr tragfähig ist.
Oder wie es Tangosängerin Gloria Guerra sagte: "Diese Krise trifft die ganze Welt, aber wir sitzen dabei nicht im selben Boot. Wir fahren denselben Fluss herunter, aber manche sitzen in einer Jacht, andere haben eine Kabine in einem Panzerschiff, andere sitzen in einem Floß und wieder andere versuchen sich schwimmend, über Wasser zu halten. Aber ich glaube, wir schaffen das nur zusammen, sonst rettet sich niemand."