Argentinische Literatur heute

Mehr als acht Jahre beispiellosen Terrors

56:15 Minuten
Frauen tragen eine große Decke, auf der Fotos von vermissten Menschen befestigt sind.
Angehörige der argentinischen Menschenrechtsgruppe "Mütter von der Plaza de Mayo" erinnern 2000 in Buenos Aires an die Opfer der Militärdiktatur. (Archiv) © picture-alliance / dpa / DB Marcos Adandia
Von Peter B. Schumann |
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Die Literatur Argentiniens wurde inhaltlich lange von der grausamen Militärdiktatur bestimmt. Inzwischen beschäftigen sich die Autorinnen und Autoren auch mit anderen Themen und Zeiten. Friedlicher geht es in ihren Büchern nicht unbedingt zu.
Die argentinische Militärdiktatur 1976-1983 hat die Literatur des Landes lange stark beschäftigt. Der beispiellose Terror, die unglaublichen Grausamkeiten, unter denen die zahlreichen Opfer vor ihrem Tod zu leiden hatten, und die hohe Zahl der Verschwundenen, von denen manche bei lebendigem Leib, verschnürt wie Gepäckstücke, aus Flugzeugen in die offene See gestoßen worden – all diese Traumata mussten bearbeitet werden.

Dekonstruktion der "Argentinidad"

Nun nimmt die Dominanz der Diktatur ab, meint Linus Guggenberger, Lektor des Wagenbach Verlags:

„Ich beobachte, dass sich argentinische Autorinnen und Autoren zunehmend anderen Zeiten zuwenden. Das können einerseits Zukunftsvisionen sein oder ein Spiel mit anderen historischen Epochen, mit argentinischen Nationalmythen wie beispielsweise bei Martín Caparrós.“

In „Väterland“ erzählt Caparrós von den 1930er-Jahren und dekonstruiert die „Argentinidad“ mit ihren zentralen Mythen: dem Tango, dem Fußball (lange vor Diego Maradona und Lionel Messi) und Jorge Luis Borges. Den literarischen Nationalhelden schrumpft er zu einem unreifen Dichterling, der sich regelmäßig jenen Frauen nähert, die nichts von ihm wissen wollen. Die übrigen Bestandteile der „Argentinidad“ kommen nicht besser weg. Sie sind Spielmaterial in der Hand einer korrupten Elite, deren Kinder die Militärdiktatur unterstützen und von ihr profitieren werden.

Zuflucht für Opfer und Täter

Von Kontinuitäten erzählen auch Santiago Amigorena und Ariel Magnus. „Kein Ort ist fern genug“ und „Das zweite Leben des Adolf Eichmann“ sind vom Schicksal ihrer jüdischen Familien inspiriert. Nach Argentinien flohen Juden erst vor dem Antisemitismus in ihrer Heimat, dann vor der Shoah. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs folgen dann jene, die ihnen nach dem Leben getrachtet hatten: die Nationalsozialisten, darunter der „Bürokrat der Endlösung“ Adolf Eichmann. Opfer und Täter begegneten sich auf den Straßen von Buenos Aires.

Nicht endender Schrecken

Um diese zur bitteren Groteske einladende Gleichzeitigkeit geht es im umfangreichen Horrorroman „Unser Teil der Nacht“ von Mariana Enriquez nicht. Sie erzählt von einem gewalttätigen Orden, der durchaus einige Ähnlichkeiten mit der Militärdiktatur aufweist. Doch sein unheilvolles Tun erstreckt sich nicht nur über wenige Jahre, sondern gleich mehrere Jahrzehnte. Auch dieser Horrorroman handelt also von argentinischen Kontinuitäten.
(pla)
Das Manuskript können Sie hier herunterladen.

Es sprechen Tonio Arango, Sabine Falkenberg, Cathleen Gawlich, Thomas Holländer und Bernhard Schütz
Ton: Alexander Brennecke
Regie: Beatrix Ackers
Redaktion: Jörg Plath
Deutschlandfunk Kultur 2023

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