Argentinische Militärdiktatur

Großmütter kämpfen für Gerechtigkeit

Die Großmütter der Plaza de Mayo
Die Großmütter der Plaza de Mayo während einer Demonstration anlässlich des 40. Jahrestages der argentinischen Militärdiktatur in Buenos Aires. © picture alliance/dpa/Foto: Javier Gallardo
Von Ellen Häring |
Die Argentinierin Estela de Carlotto ist die Präsidentin der Großmütter des Plaza de Mayo. Sie hat ihren von der Militärjunta verschleppten Enkel wiedergefunden und an der Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur mitgewirkt. Derzeit nimmt sie in Berlin an der Veranstaltung "Gedächtnis und Gerechtigkeit" teil.
"Ich hatte keinen blassen Schimmer von Politik. Ich war Grundschullehrerin, Direktorin einer Schule, und bewegte mich immer in der Welt der Kinder. Ich bin eigentlich erst durch meine Töchter aufgewacht und habe die argentinische Realität wahrgenommen."
Estela de Carlotto
Estela de Carlotto, Präsidentin der Großmütter der Plaza de Mayo© Deutschlandradio / Ellen Häring
Estela de Carlotto ist heute 85 Jahre alt und weise. Aber damals, 1976, als in Argentinien die Militärs putschten, wollte sie nicht wahrhaben, was um sie herum geschah. Ihre beiden Töchter hatten sich bereits oppositionellen Gruppen an der Uni und in der Schule angeschlossen. Sie waren schnell in Gefahr. Laura, die Älteste, versteckt sich in Buenos Aires, bald darauf gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihr. Laura verschwindet.
Ihre Mutter verzweifelt. Sie schließt sich anderen Müttern an, die ihre Kinder suchen, die Frauen klappern alle Gefängnisse ab. Ohne Erfolg. Dann erfährt Estela de Carlotto von einer Mitgefangenen, die frei kommt, dass Laura bereits schwanger war, als sie in ein Konzentrationslager gebracht wurde.
"Es war eine große Freude zu wissen, dass sie lebt! Und dass sie ein Baby bekommt! Meine Reaktion war logisch und menschlich: ich dachte, sie wird zurückkommen. Mit ihrem Kind."

Das Baby wird ihr gleich nach der Geburt weggenommen

Aber Laura kam nicht zurück. Das Baby, ein Junge, wird ihr gleich nach der Geburt weggenommen und Laura kurze Zeit später ermordet. Estela de Carlotto sagt heute, sie hatte Glück im Unglück, denn sie durfte den Leichnam ihrer Tochter begraben und musste sich nicht, wie viele andere, mit der Suche nach ihrem verschwundenen Kind quälen.
"Meine eigene Tochter zu begraben, gab mir Kraft um weiter zu kämpfen. Ich habe gesagt: jetzt muss ich für dich weitermachen. Und ich muss deinen Sohn finden. Und ich werde nicht aufgeben, so lange, bis ich ihn finde."
Die Mütter und Großmütter der Verschwundenen organisieren sich und treffen sich einmal in der Woche an der Plaza de Mayo in Buenos Aires mit weißen Kopftüchern und Schilder in der Hand, auf denen die Namen der Verschwundenen stehen. Schweigend umkreisen sie den Platz, jede Woche. Die Bilder gehen um die Welt. Die Frauen werden von Menschenrechtsorganisationen in Kanada und Europa eingeladen, sie geben Fernsehinterviews. Als die Militärdiktatur 1984 fällt und ein Amnestiegesetz die Aufklärung der Verbrechen der Diktatur verhindert, erzwingen die Frauen der Plaza de Mayo die gerichtliche Wahrheitsfindung: wenn es schon keine Strafe für die Täter gibt, so sollen wenigstens die Zeugnisse der Opfer gehört werden.
"Wir alle haben unsere Aussagen vor Gericht gemacht. Was wir gesehen haben, wie die Konzentrationslager aussahen, wer dort gearbeitet hat, ob dort Kinder geboren wurden. Als dann die Amnestiegesetze gefallen sind, waren diese Informationen unglaublich nützlich, um die Täter endlich verurteilen zu können."

Erst 2003 werden die Amnestiegesetze abgeschafft und die Täter zur Verantwortung gezogen. Die Großmütter der Plaza de Mayo aber suchen bis heute nach ihren Enkeln, die den Müttern gestohlen wurden. In Argentinien gibt es die weltweit erste Bank für genetische Daten, Initiatorinnen waren die Großmütter der Plaza de Mayo. Die Frauen hinterlegen dort ihre Daten. Und warten darauf, dass sich ihre Enkel melden. Auch Estela de Carlotto:
"Mein Enkel war natürlich unter den Gesuchten… aber ich habe nicht nur ihn gesucht, ich habe alle gesucht und mich gefreut über die Großmütter die Glück hatten, aber natürlich hab ich mich gefragt… wann bin ich dran?"
Und dann geschieht es. Lauras Sohn, inzwischen 36 Jahre alt, erfährt von einem Nachbarn, dass er nicht das Kind seiner vermeintlichen Eltern ist. Er meldet sich sofort bei den Großmüttern, kommt zur Datenbank und zum Bluttest.
"Oh, das war eine riesige Freude! Denn man fragt sich doch die ganze Zeit, wie er wohl ist, wer ihn groß gezogen hat, was er so für Gewohnheiten hat…"

Heute kann Estela de Carlotto sich freuen

Estela de Carlotto, eine elegante Dame mit schlohweißem Haar, kann heute lachen und sich freuen.
"Ja ,natürlich, wir sehen uns. Er ist inzwischen Vater geworden, das Baby ist zwei Monate alt. Es ist meine Urenkelin und die Enkelin von Laura, meiner Tochter. Ich seh´ sie mir an und gucke natürlich, ob sie irgendeine Ähnlichkeit mit ihr hat. Die Oma ist ja nicht da. Und der Opa auch nicht."
Argentinien ist beispielhaft, meint die alte Dame. Aber die Erfahrungen in ihrem Land lassen sich nicht einfach übertragen. Kolumbien, das sie gut kennt, ist auf dem besten Weg zum Frieden. Aber wird es auch Gerechtigkeit geben? Estela de Carlotto könnte eine gute Ratgeberin sein.
"Es werden immer Zweifel bleiben. Aber die Angehörigen der Ermordeten müssen erfahren, wo die Toten sind. Sonst können sie ihren Schmerz nicht verarbeiten."
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