Argumente versus Bilder in der Philosophie

Die suggestive Kraft des Beispiels

36:45 Minuten
Detail von Vincent van Goghs "Ein Paar Schuhe", 1886 Öl auf Leinwand
Die dingliche Verkörperung des bäuerlichen Daseins sah der Philosoph Martin Heidegger in diesem Gemälde Vincent van Goghs. Die Schuhe schrieb Heidegger deshalb einer Bäuerin zu. © picture alliance / Avalon / Peter Barritt
Mirjam Schaub im Gespräch mit Catherine Newmark |
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Beispiele in philosophischen Texten machen die Lektüre anschaulicher und leichter verständlich. Aus philosophischer Perspektive sind sie allerdings nicht unproblematisch, meint Mirjam Schaub. Denn mit Beispielen lässt sich auch tricksen.
Philosophische Texte zu lesen, ist oft ein mühseliges Geschäft, weil sie unkonkret bleiben und ein hohes Abstraktionsniveau aufweisen. Umso dankbarer ist man als Leserin oder Leser für Beispiele - als "kleine Stücke von Wirklichkeit, die in einem philosophischen Text aufblitzen", wie Mirjam Schaub sagt.
Doch sind sie das wirklich immer? Die Hallenser Philosophin jedenfalls sieht Beispiele in der Philosophie als etwas Ambivalentes an bzw. sogar eigentlich als etwas Unmögliches: Von der Theorie her soll ein Beispiel etwas Austauschbares sein, einer von vielen möglichen Fällen, den man heranziehen könnte. In der Praxis aber würden Beispiele "ganz schnell unersetzbar".
Hinzu kommt, dass Beispiele oft suggestiv verwendet werden, indem sie behaupten: "Ich bin der Fall, der existiert."
Etwa bei Heidegger: "Der blendet mehrere Darstellungen ineinander, die van Gogh von seinen eigenen Bauernschuhen gemacht hat, um daraus sozusagen ein Monsterbeispiel zu kreieren", so Schaub mit Blick auf Heideggers viel kritisierte These, die Schuhe auf diesen Gemälden seien die Schuhe einer Bäuerin und damit gewissermaßen die dingliche Verkörperung des bäuerlichen Daseins.

Wem die Argumente ausgehen, der benutzt Beispiele

Mit Beispielen lässt sich in der Philosophie auch tricksen, sagt Schaub: So benutze Descartes in seinen Meditationen festes und flüssiges Wachs als Beispiel dafür, dass die sinnliche Wirklichkeit veränderlich ist und uns täuscht. Denn dass es sich dennoch um ein und dasselbe Wachs handelt, erkennt ihm zufolge nur die Vernunft, nicht aber die sinnliche Wahrnehmung.
Was Descartes mit diesem Beispiel zeigen will, nämlich dass der Geist unzweifelhafter gegeben ist als der Körper, funktioniert aber laut Schaub nur mit diesem spezifischen Beispiel: "Das Beispiel ist eine Suggestion von Freiraum, eine Einladung zum Mitdenken, aber die Argumentation springt. Wenn man das Beispiel in einem Text schwärzt, stellt man fest, dass etwas mit der Argumentation passiert ist, das sie selber nicht geleistet hat."


Positiv hingegen hebt Schaub die Verwendung von Beispielen bei Aristoteles hervor: Dieser knalle anfangs viele Beispiele auf den Tisch, dann mache er sich an die Arbeit der Abstraktion und suche Schnittstellen. "Das sind, glaube ich, die interessanteren Fälle", sagt die Philosophin. "Das sind diese Suchbeispiele, wo man merkt, da tappt der Denker erst mal selber im Dunkeln."
Eine Frau mit langen Haaren steht in einem Fotostudio und schaut in die Kamera
In der Praxis würden Beispiele "ganz schnell unersetzbar", sagt Mirjam Schaub.© Matthias Ritzmann

Kant: das Scheitern am Beispiel als philosophischer Triumph

Und dann gibt es mit Kant auch einen Philosophen, der an Beispielen komplett scheiterte. Etwa in seiner "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", für die er nach eigenem Bekunden so lange gebraucht hat, weil es ihm an Beispielen für die Ausübung einer Handlung rein aus Pflicht fehlte:
"Er probiert neun Stück durch, die werden auch immer absurder, immer abstruser, immer kontraintuitiver. Und immer wieder ist sein Urteil: Nein, es ist kein Beispiel", sagt Schaub.
"Und dann kommt am Ende ein emotionaler Ausbruch im Text, wo er sagt: Und selbst wenn es kein Beispiel je geben sollte, muss es doch Handlungen rein aus Pflicht geben. Und das ist exakt diese Pflicht, die hier gemeint ist: Die Anerkennung des eigenen Vernunftgesetzes als einziger gesetzgebender Gewalt", betont Schaub. "Kant hat sein Scheitern in einen philosophischen Triumph umgemünzt."
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