Adolf Eichmann: Ein Hörprozess. Mit dem Eichmann-Prozess im Jahr 1961 drang die Realität des Holocausts in seiner ganzen Dimension an die Öffentlichkeit – auch das, was bis dahin oft verdrängt worden war. Erstmals blieben die Aussagen der Zeugen und der Täter nicht im Gerichtssaal, sondern wurden, wie auch die Stimmen der Anklage, der Verteidigung und der Richter, via Radio in die Häuser und Wohnungen in ganz Israel übertragen. Noam Brusilovsky und Ofer Waldman haben aus dem Material ein dokumentarisches Hörspiel erstellt, das wir Ihnen bis zum 10. Oktober 2022 online anbieten können [AUDIO].
Eine spöttische Teufelsaustreibung
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Hannah Arendt sah in Adolf Eichmann die "Banalität des Bösen". Ariel Magnus unterzieht den bürokratischen Strippenzieher der Schoah in seinem Roman nun mit viel Spott: Er zeichnet den in Buenos Aires untergetauchten Nazi als vom Pech verfolgt.
Die Fakten sind bekannt: Adolf Eichmann, als Leiter des sogenannten "Eichmannreferats", war maßgeblich an der Organisation des Massenmords an den europäischen Juden beteiligt. Nach dem Zweiten Weltkrieg floh er mithilfe der katholischen Kirche über die "Rattenlinie" nach Argentinien.
Unter dem Decknamen "Ricardo Klement" konnte er hier jahrelang unbehelligt leben. Staatspräsident Juan Perón hatte nichts gegen Ex-Nazis, die sich in seinem Land weitgehend frei bewegen konnten. Die deutsche Botschaft in Argentinien deckte sie damals sogar.
Heute ist bekannt, dass der BND wohl schon früh wusste, wo der Verbrecher sich aufhielt. 1960 spürte der israelische Geheimdienst Eichmann auf und entführte ihn auf spektakuläre Weise. Der Prozess gegen ihn fand weltweite Beachtung.
Ein bedrohlicher Kleinbürger
Ariel Magnus, Jahrgang 1975, hat mehrere Bücher über die Vergangenheit des aus Deutschland stammenden, jüdischen Teils seiner Familie geschrieben. In diesem neuen Roman versucht er, in den Kopf desjenigen vorzudringen, der maßgeblich für die Organisation der Judenvernichtung verantwortlich war.
Eichmann ist bei ihm kein gefühlloses Monster, hirnloser Befehlsempfänger oder Verführter, sondern ein durchschnittlicher Kleinbürger, der genau wusste, was er tat und sich als Verteidiger der "arischen Rasse" im Recht fühlte – wodurch er umso bedrohlicher und unheimlicher wird.
Magnus zeigt, wie dieser Ricardo Klement in Argentinien trotz bescheidener Einkünfte ein Häuschen gebaut, was er gedacht und wie er seine antisemitische Ideologie bis zum Schluss nie infrage gestellt hat.
Stolz hatte er vor dem Tonband Willem Sassens gesessen, dem ehemaligen SS-Mann aus den Niederlanden, der ebenfalls nach Südamerika entwischt war, und seine "Wahrheit" über den Holocaust verkündet.
"Deportologe" und Kaninchenzüchter
Der "arbeitslose Deportologe", wie der Sprachartist Magnus ihn bezeichnet, verdingte sich nach seiner Ankunft in Südamerika zunächst in der ruppigen, schwer zugänglichen Einsamkeit Nordargentiniens bei einem Staudammprojekt, bevor er – allmählich kühner geworden – in der Hauptstadt ins Wäschereiwesen wechselte und später bei der argentinischen Dépendance von Daimler-Benz unterkam.
Privat hielt der einstige "Herrenmensch" Kaninchen – was Magnus zu allerlei Analogien zu den menschlichen Versuchskaninchen in den Konzentrationslagern inspiriert.
Spöttisch, sarkastisch, doppelbödig
"Warum musste er immer so ein Pech haben", lautet der erste, verblüffende Satz in diesem von bitterem Sarkasmus durchzogenen Roman. Ricardo Klement will seine Ehefrau, die ihm zusammen mit den drei Kindern nachreist, am Hafen von Buenos Aires mit einem Strauß Rosen empfangen. Doch alle Blumen sind ausverkauft, denn Argentiniens Volksheldin Evita ist soeben gestorben und die Bürger der Hauptstadt wollen Blumen niederlegen.
Im Original heißt das Buch "El desafortunado", was man als "Der Pechvogel" oder "Unglücksrabe" übersetzen könnte. Ein abgründig ironischer Titel, der einem im Deutschen im Zusammenhang mit einem hohen Nazi-Verbrecher als Verniedlichung vorkommen müsste.
Doch trifft der spanische Titel den Ton dieses Textes sehr genau. Denn Ariel Magnus zeigt sich auch in diesem Buch als hemmungsloser Spötter. Man muss beim Lesen öfter schlucken, denn Magnus beschreibt das Grauen mit humorig-leicht dahin perlenden Formulierungen. Der Massenmörder wird bei ihm zu einer schauerlich-komischen Allerweltsgestalt.
Die gruseligsten Aussagen über Juden und andere "Personen minderwertigen Bluts" kommen diesem biederen Familienvater in Magnus’ fiktionalisiertem Text so nebenbei und selbstverständlich über die Lippen, als handele es sich um eine Teestunden-Plauderei.
Die Übersetzung ist hervorragend
Ariel Magnus ist ein ebenso prägnanter wie tabuloser und gleichzeitig distanzierter Schreiber. Silke Kleemann trifft diesen doppelbödigen Stil in ihrer Übersetzung ganz hervorragend: feinsinnig, nuancenreich, worterfinderisch. Besser kann man eine solche Übertragung nicht machen.
Man mag sich fragen, warum heute ein weiteres Buch über diesen Nazi-Verbrecher nötig ist. Die Texte von Hannah Arendt und Harry Mulisch über Eichmann sind berühmt geworden. Es gibt zahlreiche Filme über ihn, nicht zuletzt "Der Staat gegen Fritz Bauer". Über den zweiten legendären Südamerika-Flüchtling, den KZ-Arzt Josef Mengele, hat der französische Schriftsteller Olivier Guez vor ein paar Jahren einen Roman geschrieben.
Eine brillante literarische Teufelsaustreibung
In einem Nachwort schildert Ariel Magnus, wie sein Vater ihm anfangs sogar mit einem Bruch gedroht habe, sollte er "ein gutes Wort" über den Massenmörder schreiben. Doch als der Schriftsteller feststellte, dass Eichmann, ebenso wie andere Nazi-Größen, zeitweise im selben Stadtviertel von Buenos Aires wohnten wie er selbst, ließ ihn das Thema nicht mehr los.
Es schauderte ihn bei dem Gedanken, dass die Massenmörder die gleiche Luft geatmet haben wie er und die anderen Bewohner dieser überwiegend wohlhabenden Barrios im Norden der argentinischen Hauptstadt. Schließlich habe auch sein Vater eingesehen, dass es nach der Verhaftung durch den Mossad "nicht völlig paradox oder falsch wäre, wenn sich auch ein Jude darum kümmerte, ihn als Figur einzufangen und zur Fiktion zu verurteilen".
Ariel Magnus ist ein herausragender Roman gelungen. Er kommt dem Mythos Eichmann nahe, ohne ihn zu dämonisieren, aber auch ohne ihn zu "menschlich" oder sympathisch darzustellen. Man mag das Buch als eine Art literarische Teufelsaustreibung betrachten – eine bewegende, brillant geschriebene Geschichtsstunde.
Ariel Magnus: "Das zweite Leben des Adolf Eichmann"
Aus dem Spanischen von Silke Kleemann
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021
236 Seiten, 20 Euro