Aris Fioretos: "Nelly B.s Herz"
Aus dem Schwedischen von Paul Berf
Hanser Verlag, München 2020
336 Seiten, 24 Euro
Kohlensäure im Blut
04:47 Minuten
Aris Fioretos erzählt in seinem Roman "Nelly B.s Herz" von einer Pilotin, die sich in den 1920er-Jahren in Männerdomänen zu behaupten weiß. Ihr Leben gerät in Turbulenzen, als sie sich leidenschaftlich in eine deutlich jüngere Frau verliebt.
"Du hast ein Herz im Körper. Ist es ein Element der Form oder ein Element des Gefühls?" Dieses Zitat von Henry James hat Aris Fioretos seinem Roman als Motto vorangestellt. Denn Nelly B.s Herz ist beides: eines, das physisch krank ist und eines, das emotional aufblüht durch die Liebe.
Myopathie, so lautet die Diagnose gleich zu Beginn des Romans. Eine Krankheit, bei der sich die Herzwände verdicken, so dass das Blut immer schlechter mit Sauerstoff versorgt wird – für die erste Pilotin Deutschlands eine Katastrophe, denn der Arzt empfiehlt ihr: "Bleib auf der Erde, Nelly, sonst fällst du früher oder später vom Himmel." In echte Aufruhr aber gerät Nellys krankes Herz, als sie sich in die 14 Jahre jüngere Irma Maak verliebt, die bei einer Werbeagentur arbeitet.
Nach Stockholm auf die Kunstakademie
Nelly B. ist, wie Aris Fioretos in seiner Nachbemerkung erläutert, in einigen Punkten der 1886 geborenen deutschen Pilotin Melli Beese nachempfunden. Auch Nelly geht nach Stockholm auf die Kunstakademie, weil es in Berlin für sie als Frau nicht möglich ist, Bildhauerei zu studieren.
Sie möchte ein aktives Leben führen, studiert später Flugzeugtechnik in Dresden und legt gegen alle Widerstände der Kollegen als erste Frau die Prüfung zur Pilotin ab. Mit ihrem Mann, einem französischen Flugzeugkonstrukteur und Piloten, eröffnet sie vor dem Ersten Weltkrieg eine Flugschule in Johannistal bei Berlin, die nach dem Krieg geschlossen werden muss, weil ihnen die Schulden über den Kopf wachsen.
Nelly trennt sich von Paul, da die Nähe ohne das gemeinsame Fliegen kaum noch Bestand hat. Und weil die 38-jährige spürt, dass sie, nachdem das Fliegen tabu ist, ein Leben führen möchte "von dem ich nicht wusste, was es sein mochte".
Das Leben als "Duvölligverrückte"
Sie zieht in eine Pension und arbeitet bei BMW, ist wegen ihrer fachlichen Kompetenz für die Motorräder zuständig, die sie auch auf der Deutschen Automobilausstellung vorführt. So verliebt sie sich in Irma, als diese ihre Hand auf Nellys legt, um sich die Kupplung erklären zu lassen.
Ab da beginnt Nellys Leben als "Duvölligverrückte", wie sie es nennt - "meine 12 Monate auf Erden", über die sie nur im Präsens sprechen kann. Der aus der Ich-Perspektive erzählte Roman - Fioretos hatte bereits in seinem Roman "Mary" bewiesen, wie glaubhaft er sich in eine weibliche Figur versetzen kann - wechselt ab da von der Vergangenheit in die Gegenwart.
Nelly und Irma verkörpern einen Frauentypus der 20er-Jahre: Sie tragen Hosen und Jacketts, sind berufstätig und unabhängig. Im Roman wird das Berlin dieser Zeit lebendig: durch Filme wie "Der letzte Mann", zu dessen Premiere sie gehen, durch Werbeannoncen, Radrennen im Sportpalast oder durch die Lokale, die Irma und Nelly besuchen, wie den Teesalon Pollesch oder ein von lesbischen Frauen bevorzugtes Weinlokal, in dem es üblich ist, die Drinks der Karte alphabetisch durchzutrinken.
Es ist kein glanzvolles Berlin, eher ein Alltagsberlin für Menschen wie die, mit denen Nelly die Pension teilt, wo die Briketts zugeteilt werden und nur einmal wöchentlich ein Bad genommen werden darf.
Sie hofft, Ruhe und Glück zu vereinen
Durch die Liebe zu Irma gerät Nelly in dem elegant mit Rückblenden arbeitenden Roman in andere Turbulenzen als die, die sie vom Fliegen kennt. Doch die Symptome ähneln sich: das Pulsieren des Herzens, die Kohlensäure im Blut, das Losstürmen-Wollen und die Kraft und Anspannung, die es kostet, das Herz zu bezähmen, sich von den eigenen Gefühlen nicht überwältigen zu lassen.
Sie hofft in der Liebe zu Irma, Ruhe und Glück zu vereinen: "ein Frieden im Körper, der nicht Flaute, sondern stürmischer Wind ist", aber auch vollständige Gegenwart – so wie sie es bei ihrem einzigen Fallschirmsprung erlebt hat.
Das Zusammensein beider Frauen schildert Firoretos auf poetische Weise: die Zartheit und Leidenschaft, das Gefühl, ganz Körper zu sein: "Unter der Haut gibt etwas nach, wie eine Blume, die gerade ausschlägt", genauso wie die Eifersucht und Verzweiflung von Nelly, die von vornherein ahnt, dass ihr Irma mehr bedeutet als sie ihr.
Als Bildhauerin hatte sie sich an Wolkenskulpturen versucht, um dem Flüchtigen Gestalt zu geben. Doch die Liebe lässt sich nicht auf diese Weise gestalten. Es ist ein Jahr voller Höhenflüge und Abstürze – nicht in der Luft, sondern im Herzen.