Postsowjetischer Raum - Was will Putin? Russland blieb auffallend ruhig, als in Armenien der Machtwechsel stattfand - anders als in Georgien oder der Ukraine. Stimmt, sagt der russische Journalist Maxim Trudolyubov im Interview. Er schreibt für die unabhängige russische Zeitung "Vedomosti" und bloggt auf "The Russia File" des US-amerikanischen Kennan Instituts.
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Ein Land zwischen zwei Imperien?
"Wir sind nicht die Ukraine oder jemand anders, wir sind Armenien", sagt die 17-jährige Mariam Nasarjan aus Eriwan. Ist der politische Umbruch, der hier vor wenigen Wochen geschah, ein wichtiges Signal im übrigen postsowjetischen Raum?
Es ist Nacht und stockfinster. Knapp 300 Leute sitzen auf Strohballen. Wir sind ungefähr eine Stunde mit dem Auto aus Eriwan rausgefahren und warten auf den Sonnenaufgang. Langsam wird es hinter mir hell. Vor mir leuchtet jetzt die schneebedeckte Kuppel des Bergs Ararat orange.
Ich bin bei der Verleihung des Aurora-Preises für Menschlichkeit. Dotiert mit mehr als einer Million US-Dollar. Aurora ist die "Morgenröte". Bezahlt wird die Veranstaltung von drei armenischen Milliardären. Mit einem von ihnen, Ruben Vardanyan, habe ich vorher ein Interview gemacht.
"Armenien liegt zwischen vier Zivilisationen"
"Wir müssen uns immer daran erinnern, dass Armenien in einer einzigartigen Lage zwischen vier verschiedenen Zivilisationen liegt, der russischen Orthodoxie, Schiitentum, den Sunniten und den Europäern. Das ist eine große Herausforderung, aber auch eine große Möglichkeit. Für mich sind bessere Beziehungen mit Russland wichtig. Denn da haben wir mehr Möglichkeiten. Gleichzeitig brauchen wir gute Beziehungen zum Iran, mit der EU, mit dem Mittleren Osten."
Mittlerweile ist es hell. Vardanyan und die beiden anderen Finanziers stehen auf der Bühne. Der Preis geht an eine Initiative in Myanmar. Es ist das dritte Mal, dass sie diesen Preis verleihen.
Der Berg Ararat ist den Armeniern heilig. Ihn zu erreichen, ist schwierig, denn er ist in der Türkei. Die Bühne steht direkt am Grenzzaun. In dieser Gegend fand vor etwas mehr als hundert Jahren der Genozid an den Armeniern statt. Eineinhalb Millionen Menschen wurden von Türken systematisch ermordet. Dieses Trauma wirkt in Armenien bis heute nach.
"Wir sind ein Knotenpunkt für Bildung, das Gesundheitswesen, für Finanzdienste, IT, Landwirtschaft und Tourismus. In all diesen Bereichen können wir Entwicklungen anschieben und damit Armenien reicher zu machen. Das stärkt unsere Wirtschaft. Die Nachbarn können kooperieren und Partner werden."
Vor dem Umbruch war das Land korrupt
Mittlerweile ist er seinem Ziel eines prosperierenden, offenen und lebenswerten Armeniens möglicherweise ein Stück näher gekommen. Denn vor dem Umbruch im April war das Land korrupt und Sicherheitskräfte sind teils brutal gegen Oppositionelle vorgegangen. Nun sind Reformer an der Macht. Vardanyan sagte, er arbeite mit jeder Regierung in Armenien. Hauptsache, das Land entwickle sich nach all der Zeit weiter.
Es ist Abend und in der Hauptstadt Armeniens Eriwan ist es sehr warm. Vor mir ist eine große Treppenanlage, die Kaskade. Darin ein Kunstmuseum. Links und rechts sitzen die Hauptstädter vor Restaurants und essen und trinken. Ich bin mit Lena Nasarjan verabredet.
Nasarjan ist eine der Reformerinnen. Sechs Jahre lang hat sie als Journalistin gearbeitet. Ende April hat sie die landesweiten Proteste gegen den ehemaligen Präsidenten und Premierminister mitorganisiert, der daraufhin zurücktrat.
"In der Regierung passieren Veränderungen. Dort werden Leute ausgewechselt, die Beziehungen zwischen den Menschen verändern sich. Alle meine Bekannten und Kollegen, die ich seit Langem aus NGOs kenne, mit denen ich seit 2007 Protestkundgebungen organisiert habe, sie fangen jetzt an, in der Regierung zu arbeiten, übernehmen Verpflichtungen in Behörden, und ich bin sehr glücklich, ich bin überzeugt, dass sie nicht korrupt sind, ehrliche und anständige Leute sind, die dem armenischen Volk dienen werden. Und sie werden transparent arbeiten, mit den Leuten reden und sie werden so arbeiten, dass es ein gutes Ergebnis gibt. Jetzt liegt alles in ihren Händen. In unseren Händen."
Wunderbare Veränderung ohne Blutvergießen
Lange hat es in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion keine friedlichen Machtwechsel gegeben – im Gegenteil, überall, so scheint es, festigen die autoritären Herrscher ihre Macht. Nazaryan glaubt, dass von Armenien ein Impuls ausgehen kann.
"Ich habe russische und weißrussische Journalisten getroffen, die hier während der Revolutionstage waren. Sie haben voller Neid gesagt: Wir wollen, dass auch in unserem Land so etwas passiert, dass wir auch diese Veränderungen sehen. Und selbst in Russland habe ich das gehört. Und wirklich: Was in Armenien passiert ist, ähnelt selbst für uns einem Wunder, denn das alles lief sehr friedlich ab, die Leute wussten, was sie zu tun hatten, sie haben sich sehr korrekt verhalten, und wir konnten am Ende ohne einen Tropfen Blut sehr große Veränderungen in Armenien erreichen. Die Menschen im Ausland, die das gesehen haben, wollen selbstverständlich, dass das bei ihnen auch passiert."
Russlands Machthaber ersticken Protestaktionen bereits im Ansatz. Und sobald sich in Russland oder in den Nachbarländern Protest artikuliert, heißt es aus dem Kreml, der Westen stecke dahinter, die US-Amerikaner hätten Leute gekauft, um Regierungen auszuwechseln, Länder ins Chaos zu stürzen. Ob in Georgien, in der Ukraine, in Nordafrika oder in Russland selbst – immer sei es das US-State-Department, das Proteste mitfinanziere, um seinen Einfluss auszuweiten und Russlands Einfluss zurückzudrängen. Doch im Fall Armeniens war es bisher anders, berichtet Andrej Kolesnikow vom "Carnegie Zentrum Moskau", der russischen Filiale der US-Amerikanischen Denkfabrik:
"Das war beeindruckend: Die gesamte russische offizielle Elite hat erst geschwiegen, und dann einstimmig erklärt: Das ist doch toll, das Volk ist auf der Straße, es ist gut, wenn das Volk bestimmt, was es will. Und es gab keinerlei Verdächtigungen hinsichtlich des Maidan und einer Einmischung der USA. Ich denke, das hatte vor allem wirtschaftliche, pragmatische Gründe."
Armenien will keinen Bruch mit Russland
Armenien ist leicht erpressbar. Denn Russland ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner. Armenien bezieht Erdgas aus Russland, dessen Verkauf innerhalb des Landes liegt in den Händen von "Gazprom Armenia", einer Tochtergesellschaft des russischen Staatskonzerns "Gazprom". Auch mehrere Wasser- und Wärmekraftwerke in Armenien, ein Mobilfunkanbieter und ein großer Versicherer gehören russischen Staatskonzernen. Wird Russland also seinen Einfluss nutzen, um die Demokratisierung Armeniens zu verhindern?
"Russland will die Gelder nicht verlieren. Es ist bereit, jeden beliebigen Typen zum Partner zu machen, solange die Wirtschaftsbeziehungen und die Kontrolle über die Finanzströme erhalten bleiben. Das hat auch Paschinjan verstanden."
Armeniens neuer Regierungschef Paschinjan hat von Anfang an erklärt, er wolle keinen Bruch mit Russland. Reformen würden nicht automatisch Westintegration bedeuten. Um das zu unterstreichen, ist Paschinjan seitdem in Russland ein Dauergast. Und auch Armen Sarksjan, der Präsident Armeniens, bemüht sich, jede Art von geostrategischer Festlegung zu vermeiden:
"Ich würde gern daran erinnern, dass ich der Präsident Armeniens bin. Ich bin nicht pro westlich oder pro östlich, ich bin pro armenisch, und meine Rolle ist, sicher zu stellen, dass es da Respekt für meine Nation gibt und für die Entscheidungen, die wir hier treffen."
Armenien ist Teil der Eurasischen Wirtschaftsunion. Das ist eine Art Alternativprojekt zur EU. Mitglieder sind Russland, Kasachstan, Weißrussland, Kirgistan und eben Armenien. Auf der anderen Seite hat Armenien Ende letzten Jahres ein Abkommen über eine vertiefte Partnerschaft mit der EU unterzeichnet. Deutschland steht deshalb weit oben auf der Liste seiner Reiseziele, sagt Präsident Sarksjan – ein Schwerpunkt wird das Werben um Investoren, die sich vorstellen können, von diesem "Brückenland" aus zu agieren:
"Aus dieser Perspektive ist Armenien die einzige Brücke zwischen der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion. Besonders in den schwierigen Tagen, in denen es mehr Barrieren gibt als offene Straßen, kann so eine kleine Brücke sehr nützlich sein. Auf der anderen Seite, der politischen Seite, wird Armenien die Balance zwischen Europa und Russland halten und gute Beziehungen unterhalten. Ich glaube, man sollte verstehen, dass wir nach guten Beziehungen mit all unseren Nachbarn anstreben."
Konfliktpunkt: Berg-Karabach
Da gibt es allerdings einen großen Konfliktpunkt, den auch die Reformer nur schwer werden lösen können: Berg-Karabach.
Stepanakert, die Hauptstadt von Berg-Karabach. Hinter mir liegen fünf Stunden Autofahrt von Eriwan. Hier wohnen Armenier. Völkerrechtlich gehört Karabach zu Aserbaidschan. Die Region hat sich aber für unabhängig erklärt – was niemand anerkennt, nicht mal das Mutterland Armenien. Es ist früh morgens. Händler stellen Kisten mit frischen Aprikosen auf die Straße. Die Luft ist frisch. Immer mal wieder verirren sich Touristen hierher. Doch so einfach durch den Wald zu laufen, geht hier nicht, denn in Karabach liegen Minen und nicht explodierte Geschosse. Und an der Grenze belauern sich armenische und aserbaidschanische Soldaten in Schützengräben.
Karabach ist komplett von Armenien abhängig, und deshalb hat man die Umbrüche in Armenien hier mit ziemlicher Sorge verfolgt, sagt der sogenannte Außenminister von Karabach, Masis Mayilan:
"Als in diesem Jahr im April diese Bewegung in Armenien gestartet ist, die Nikol Pashinjan an die Macht gebracht hat, haben wir gesehen, wie die Aserbaidschaner militärisches Equipment und Truppen an der Kontaktlinie zusammengezogen haben. Und wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass, wenn es irgendeine instabile Situation in Armenien gegeben hätte, Aserbaidschan mit Sicherheit wieder einmal versucht hätte, die Aggression gegen Karabach zu erneuern."
"Je stärker Armenien, desto sicherer Karabach"
In Karabach regiert noch die alte Clique, die lange mit den korrupten Eliten in Armenien gemeinsame Sache gemacht hat. Mayilian ist aber bereits umgeschwenkt auf die Linie der neuen Machthaber in Eriwan.
"Je stärker Armenien ist, desto sicherer ist Karabach. Diese Bewegung wird auf jeden Fall Armenien stärken und als Resultat wird Karabach sicherer sein."
Ich war bereits mehrfach an der Frontlinie, habe den Konflikt aus der Nähe betrachtet. Doch diesmal gehe das nicht, sagt die Armee, es sei zu gefährlich. Sniper, Heckenschützen, würden regelmäßig auf ihre Soldaten schießen und es gäbe Tote.
Zuletzt eskalierte der Krieg 2016 für wenige Tage, es gab mehr als 100 Tote. In Armenien existieren russische Militärbasen mit mehreren tausend Grenzsoldaten. Erst 2012 haben beide Staaten den entsprechenden Vertrag verlängert. Aber Russland spielt ein doppeltes Spiel. Es hat zugleich Waffen an Aserbaidschan geliefert. Senor Hasratyan, Oberst in der Armee von Karabach:
"In den Beziehungen zwischen Russland und Aserbaidschan können wir die russische Führung nicht beeinflussen. Die verkaufen Militärausrüstung, und es ist ihre Sache. Grundsätzlich erwarten wir solche Entwicklungen nicht nur von der russischen Seite, sondern auch von anderen Seiten. Die bewaffneten Kräfte von Karabach sind aber bereit, sich jedem dieser Schritte und Aggressionen entgegen zu stellen, wie wir das auch in der Zeit von 1992 bis 1994 gemacht haben."
Damals eroberten Armenier die Enklave Berg-Karabach, obwohl sie der Armee Aserbaidschans eigentlich unterlegen waren. Mittlerweile ist ein bisschen etwas vom Reformgeist nach Karabach hinübergeschwappt. Anfang Juni demonstrierten auch hier mehrere hundert Bürger für Veränderungen.
Strategisch muss die Führung Armeniens derzeit also mehr als einen Balanceakt bewältigen.
Hoffnung auf eine gute Zukunft
Abends in Eriwan, der Platz der Republik. Vor Kurzem standen hier noch die Demonstranten. Fontänen plätschern im Takt der Musik. Überall Händler mit Luftballons, Zuckerwatte, Bier und Brause. Hier treffe ich Mariam Nasarjan. Sie ist 17 Jahre alt, trägt lila Haare und einen Ring mit einem Symbol der feministischen Bewegung am Finger.
"Vor ein paar Wochen dachten wir noch, dass wir hier keine Zukunft haben, dass wir nichts ändern können und hier nicht hingehören. Dass wir vielleicht unser Land verlassen müssen. Und das war sehr traurig. Wir wollen nicht weg. Das ist unser Ort zum Leben. Und jetzt hoffe ich und glaube, dass sich was ändert. Dass wir hier bleiben können, dass wir eine Zukunft haben."
Sie geht noch zur Schule, möchte Sprachen studieren, Englisch und Französisch. Derzeit engagiert sie sich, wo sie kann. Bei den Demonstrationen war sie Tag und Nacht auf den Beinen, wie so viele.
"Es ist viel Arbeit zu erledigen. Und natürlich erwarte ich nicht, dass morgen alles so ist, wie ich es will. Das ist nicht realistisch. Ich hoffe, dass meine Enkel an einem Ort leben, der ihr zu Hause ist. Wir sind nicht die Ukraine oder jemand anderes. Wir sind Armenien. Und wir haben Paschinjan. Ich glaube wirklich an ihn."