Fern vom Ararat
"Die jüngere Schwester der jüdischen Erde", "das gelobte Land am Rande der Welt". In solch poetischen Bildern beschreibt der russisch-jüdische Dichter Ossip Mandelstam seine Eindrücke einer Reise durch die Republik Armenien. Es ist der Blick eines verfolgten Dichters auf ein uraltes christliches Kulturvolk, das seinerseits verfolgt und Opfer eines Genozids geworden war.
Mit der Verhaftung von über 200 armenischen Intellektuellen am 24. April 1915 im damaligen Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, setzte eine gezielte und geplante Tötungsmaschinerie ein, der nur wenige entkamen. Auch 100 Jahre danach will die Türkei das Geschehen nicht als Völkermord anerkennen. Eine schwärende Wunde für die in der Diaspora lebenden Armenier: "Es gibt kein Familientreffen, keine Feier, wo dieses Thema nicht zur Sprache käme", sagt Mihran Dabag, Gründer des Instituts für Genozid- und Diasporaforschung in Bochum und selbst armenischer Herkunft, "Armenier teilen ihre Geschichte in vor dem Verbrechen und nach dem Verbrechen".
In einer "Langen Nacht" über armenische Erinnerungswelten kommen Armenier aus Deutschland wie auch aus Frankreich zu Wort, dem Land mit der größten armenischen Diaspora in Europa. Ganz unterschiedliche Lebensläufe, die doch alle eines gemeinsam haben: die über Generationen wachgehaltene Erinnerung an das Schicksal ihres Volkes. Wie es sich anfühlt, in Deutschland auf türkische Nationalisten und Genozid-Leugner zu treffen, darüber sprechen junge deutsche Armenier. Noch immer vermissen sie hierzulande klare Worte zur Mitschuld des Kaiserreichs am Völkermord.
"Die Geschichte der Armenier ist insofern einzigartig, als dass es kein Volk auf der Welt gibt, das sich so lange gegen eine Leugnung wehren muss." So sieht es Madlen Vartian, die stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Armenier in Deutschland. Die 33-Jährige hat selbst erst spät die Geschichte des Völkermords und die Geschichte ihrer Familie entdeckt. Jahrzehntelang herrschte Stillschweigen über das Schicksal der Armenier, die den Genozid 1915 in der osmanischen Türkei überlebt hatten. Die Öffentlichkeit interessierte sich nicht für die Erinnerungen von Menschen, die als Flüchtlinge insbesondere in Frankreich und den USA Aufnahme gefunden hatten. Ihre Erinnerungen sind vor allem in den Familien bewahrt worden, auch wenn vieles ungesagt blieb, die Überlebenden wollten ihre Kinder schützen.
Doch auch das Ungesagte, auch das Nicht-Erzählte gehört zum Erbe der heutigen Generation. Viele Nachkommen von Überlebenden sind mit dem unbestimmten Gefühl aufgewachsen, dass etwas Furchtbares geschehen war. In allen Familien, erklärt Mihran Dabag, Gründer des Instituts für Genozid- und Diasporaforschung in Bochum und Sohn von Überlebenden, sei das unverarbeitete Trauma weitergegeben worden. Wie Madlen Vartian engagieren sich junge Armenier daher heute für Aufklärung und die Anerkennung des Völkermords, erst dann könne die eigentliche Aufarbeitung und die Überwindung des Traumas beginnen. Noch immer bestreiten ja die Regierenden der Türkei den Völkermord, obwohl die Fakten längst dokumentiert sind. Die "Lange Nacht über Erinnerungswelten in der armenischen Diaspora" bringt die Stimmen deutscher und französischer Armenierinnen und Armenier zu Gehör, die von den oft verschlungenen Pfaden der Erinnerung berichten, vom Leben und Überleben ihrer Familien und ihrem Zorn über das Schweigen und Wegsehen.
Ganz unterschiedliche Berichte und Stimmen, unterscheiden sich doch die Lebenswelten der Diaspora in Deutschland und Frankreich gewaltig. Anders als Deutschland hat Frankreich vor Jahrzehnten den Genozid offiziell anerkannt.
Das ist man "seinen" Armeniern schuldig: mit etwa 500.000 Menschen hat Frankreich die größte armenische Diaspora Europas. Das Land der Menschenrechte ist für sie zur zweiten Heimat geworden - mit Marseille als heimlicher Hauptstadt. Hier kamen in den 1920er Jahren die Schiffe mit den traumatisierten Flüchtlingen an. Und sie waren keineswegs allen Franzosen willkommen. Vielmehr sandte der amtierende Bürgermeister von Marseille dramatische Hilferufe an die Regierung in Paris. Man sei überfordert mit diesen Massen, wetterte er, mit den abertausend Menschen, die Krankheiten und Elend mitbrächten. "Es war ein hartes Brot, das Brot des Armeniers im Frankreich jener Jahre", sagt der 1944 in Marseille geborene Journalist und Schriftsteller Jean Kéhayan. Auch er ein Nachgeborener, begab sich Kéhayan 2001 auf eine Reise durch Anatolien. Das erst öffnete ihm die Augen für den Verlust und den Schmerz, den seine Eltern, die als Waisen in Marseille gestrandet waren, erlitten hatten. "Eine Reise ins Geburtsland meines Vaters", eindrücklich schildert Kéhayan hier seine Fassungslosigkeit angesichts der brutalen Spurentilgung in einem Gebiet, das über tausend Jahre von Armeniern bevölkert gewesen war. Die Namen aller für die Ausführung des Genozids Verantwortlichen hat der Historiker Raymond Kévorkian in detektivischer Spurensuche herausgefunden: rechtzeitig zum 100. Gedenktag erschien seine monumentale Dokumentation. Darüber berichtet er in der Langen Nacht. Die Zeit des Duldens und Stillschweigens ist nun endgültig vorbei. "Dir wurde jedes Wort gegeben", heißt ein Gedicht von Krikor Beledian:
Als Leihgabe
Jener wortlosen Wächter aller Worte
Damit Du sie ihnen zurück gibst
Mit den Gezeiten deiner Stimme -
Trenne die wahre Finsternis von Dunkelheit
Den Atem vom Flüstern
Erinnere Hingabe, Atemlosigkeit,
Zittern,
Beben,
erinnere das Lebendige [...]
Jener wortlosen Wächter aller Worte
Damit Du sie ihnen zurück gibst
Mit den Gezeiten deiner Stimme -
Trenne die wahre Finsternis von Dunkelheit
Den Atem vom Flüstern
Erinnere Hingabe, Atemlosigkeit,
Zittern,
Beben,
erinnere das Lebendige [...]
Am Ende dieser Langen Nacht steht ein Wunsch, der alle Armenier in der Diaspora vereint: endlich Anerkennung ihres Leidens, damit die dreitausendjährige Geschichte dieses christlichen Kulturvolkes nicht verloren geht über das Trauma des Genozids.
Ruth Jung
Links:
Association pour la Recherche et l'Archivage de la Mémoire Arménienne
Institut für Diaspora- und Genozidforschung - Forschungen zu Strukturen kollektiver Gewalt, zu Ursachen und Prozessen von Völkermord, zu generationenübergreifenden Nachfolgen von Verfolgung und Völkermord.:
Der Genozid an den Armeniern - Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung
Auszüge aus dem Manuskript:
"Ja, es ist so, dass ich überlebt habe. Und dass wir die Erinnerungen noch lange mit uns trugen. Was auch passiert ist, trotz allem, wir waren nachher frei. Sicherlich habe ich viel geweint, besonders wenn ich an meinen Vater dachte. Aber man soll sich nicht gehen lassen. Du musst dich immer beherrschen. Ich habe Französisch gelernt, ohne eine Schule besucht zu haben. Wo auch immer ich hingegangen bin, habe ich es geschafft, mein Leben zu bestreiten. Ich habe nie von fremdem Geld leben müssen. Der Himmel hat die Erde einmal gefragt: ‚Ich habe Sterne und Planeten und dies und jenes. Und was hast du?’ Die Erde hat lange überlegt: ‚Ich habe das Meer, die Menschen, die Vögel und außerdem jeweils die Eigenschaften von ihnen.’ Der Himmel hat gesagt: ‚Ich komme nach unten und du sollst etwas nach oben kommen, so dass wir zusammen einen Horizont bilden.’ [...] So ist das aber auch, wenn man Armenier ist. Weil wir Armenier sind, haben wir diese Religion, haben wir unsere Geschichte, müssen wir uns damit abfinden und damit leben."
Yüghaper Eftian, geboren 1901 in Zeytun. Als einzige Überlebende ihrer Familie kam sie 1920 nach dem Völkermord an den Armeniern als Flüchtling nach Frankreich.
Jahrzehntelang herrschte Stillschweigen über das Schicksal der Armenier, die den Genozid 1915 in der osmanischen Türkei überlebt hatten. Die Öffentlichkeit interessierte sich nicht für die Erinnerungen von Menschen, die als Flüchtlinge insbesondere in Frankreich, den USA und Kanada Aufnahme gefunden hatten.
Ihre Erinnerungen sind vor allem in den Familien bewahrt worden, auch wenn dort vieles ungesagt blieb. Doch auch das Ungesagte schuf eine Form von Wissen, auch das Nicht-Erzählen von persönlichen Erlebnissen gehört zum Familienerbe. So wuchsen viele Nachkommen der Überlebenden mit dem unbestimmten Gefühl auf, dass etwas Furchtbares geschehen war. Und viele entdeckten erst spät ihre Wurzeln. Heute gibt es unter Armeniern weltweit ein Bewusstsein, das alle vereint, es ist das Wissen darum, dass das armenische Volk hätte ausgelöscht werden sollen. Und doch, so sagen Armenier: Wir leben! Wir erinnern und verlangen endlich Anerkennung! Die fortgesetzte Leugnung des Genozids hat dazu geführt, dass auch die jahrtausendealte Geschichte dieses uralten christlichen Kulturvolkes in Vergessenheit zu geraten droht.
Sie waren die letzten Zeugen des Völkermords an den Armeniern: Forscher haben fünf Frauen und zwei Männer befragt, die die Todesmärsche 1915/16 überlebten. Jetzt erscheint ihr erschütternder Bericht.
Mihran Dabag, Kristin Platt
Verlust und Vermächtnis.
Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich.
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2015:
Dabag und Platt haben diese Berichte, die im Rahmen eines Oral-History-Projekts aufgezeichnet wurden, erst jetzt - nach dem Tod von Aram Güreghian, Schuschanig Gambarian, Khoren Margossian, Aghavni Vartanian, Yüghaper Eftian, Hripsime Condakdijan und Zepure Medsbakian - veröffentlicht. Gedruckt wurde das Buch mit Unterstützung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", die sich laut Satzung nicht nur für die Opfer des Nationalsozialismus engagiert, sondern auch für die Anliegen von Minderheiten über Deutschlands Grenzen hinaus. Mehr
Verlust und Vermächtnis.
Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich.
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2015:
Dabag und Platt haben diese Berichte, die im Rahmen eines Oral-History-Projekts aufgezeichnet wurden, erst jetzt - nach dem Tod von Aram Güreghian, Schuschanig Gambarian, Khoren Margossian, Aghavni Vartanian, Yüghaper Eftian, Hripsime Condakdijan und Zepure Medsbakian - veröffentlicht. Gedruckt wurde das Buch mit Unterstützung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", die sich laut Satzung nicht nur für die Opfer des Nationalsozialismus engagiert, sondern auch für die Anliegen von Minderheiten über Deutschlands Grenzen hinaus. Mehr
Madlen Vartian: "Mein Name ist Madlen Vartian, ich bin Rechtsanwältin, 33 Jahre alt, bin in Deutschland geboren und aufgewachsen und bin seit meiner Pubertät in der Armenischen Gemeinde tätig, zunächst in Köln in der kleinen Kirchengemeinde.
Ich habe ganz gezielt meine Oma gefragt, meine Oma hat mir partout keine Antwort gegeben, denn bei uns in der Familie und wie ich dann später erfahren habe auch in vielen anderen armenischen Familien, haben die Erwachsenen auf Armenisch oder in kurdischer Sprache miteinander gesprochen, wenn sie die damaligen Ereignisse in Erinnerung gerufen haben. Ich hab’s in Erinnerung: die Erwachsenen sitzen am Tisch, trinken ihren Café, unterhalten sich und die Kinder spielen Lego oder sind in jedem Fall im gleichen Raum und bekommen so’n bisschen wieder immer was von diesen Geschichten mit, so Fragmente hat man dann als Kind, also in meiner Erinnerung hab ich nur diese Fragmente irgendwelcher Geschichten gehabt, keine Ahnung, dass der eine dort verbuddelt worden ist, dass er mit halbzersägtem Kopf dann ausgebuddelt worden sei, dass meine Oma während des Spielens als Kind auf Schädel gestoßen sei, dass ihre Mutter ne Hebamme gewesen sei, die eine gewisse medizinische Bildung hatte, die sie sich selbst angeeignet hatte beispielsweise, und diese Geschichten spielten halt eine ganz große Rolle.
Als Kind weiss man sie gar nicht einzuordnen, man weiss nur, da ist was passiert, aber hört nicht genau hin. Und irgendwann hab ich nachgefragt und zwar während der Pubertät, was ist hier passiert, was ist da passiert, wer war überhaupt mein Uropa, wie hieß er überhaupt. Mit Mühe und Not haben die mir dann gesagt, dein Uropa hieß Sarkis, er war Priester, am Fuße des Nimrod-Berges haben wir sehr große Ländereien gehabt und dein Opa hat als Vier- oder Fünfjähriger auf dem Schoß, und das ist die einzige Erinnerung, die mein Opa weitergegeben hat, wie er nämlich als Vier, Fünfjähriger auf dem Schoß seines Vaters saß, der ihm dann das armenische Alphabet beigebracht habe, das "ayb-bên-gim", und dieses Bild ist für mich eine Art Vermächtnis. Ich hab nichts geerbt, mein Vater hat nichts geerbt, ich werde auch nichts erben möglicherweise, was jetzt von meinem Opa stammt, aber das ist so ein Vermächtnis, dass er auf dem Schoß seines Vaters, das ist für mich das Sinnbild des Genozids: ich hab dieses Erbe verloren. Ich kann meinen Uropa nicht fragen, er ist ermordet worden und es gibt nichts, was mein Uropa meinem Opa weitergeben konnte, weil er erst fünf war und das einzige, was er hat, ist diese Erinnerung."
Die RechtsanwältinMadlen Vartian wollte ihren türkischen Namen Gülbeyaz ablegen, doch die Kölner Stadtverwaltung untersagte es zunächst. Mit Hilfe eines Psychologen und Gutachters, der über Traumata bei Holocaust-Überlebenden forscht, konnte sich Madlen Vartian dennoch durchsetzen. "An meinem Namen klebte Blut"
Jean Kéhayan wurde durch den Bestseller Rue du Prolétaire rouge, Die Straße des roten Proletariers bekannt. Erst spät begann Kéhayan, sich armenischen Themen zu widmen, etwa in L'Apatrie, Staatenlos, jenem Buch über die Geschichte seiner Eltern. Sein Vater Setrak war über eine protestantische Hilfsorganisation nach Frankreich gelangt, wo er bei einer Zusammenführung armenischer Waisen im heiratsfähigen Alter Güldéné kennenlernte, die Kéhayans Mutter werden sollte. Von deren unglaublicher Rettung erfuhr der Sohn erst viel später.
Jean Kéhayan: Meine Mutter war zusammen mit ihrem ganzen Dorf auf dem Todesmarsch unterwegs in Richtung Deir ez-Zor in der Syrischen Wüste. Sie war noch ein Baby, und es gab auf diesem Marsch weder Milch noch Wasser, es gab überhaupt nichts. So begann sie, wie alle Babies, zu schreien. Sie störte den Fortgang der Karawane nach Deir ez-Zor. Da rissen sie die türkischen Gendarmen aus den Armen meiner Großmutter, wickelten sie in ein Tuch und begruben sie unter den Steinen am Wegesrand. Es kam dann bald darauf ein Fahrzeug mit Amerikanern, die Verletzte einsammeln wollten, an diesem Haufen aus Sand und Steinen vorbei. Sie hörten Schreie, begannen zu graben und retteten auf diese Weise meine Mutter.
Natürlich hat sie mir das nicht selbst erzählt. Aber als ich schon älter war, wollte ich mehr darüber wissen. Ich machte damals eine Serie von Reportagen für die Zeitung "Libération", und kam über die Register eines Waisenhauses in Aleppo schliesslich zu einer alten Dame in Istanbul, die sich sehr gut an diese Geschichte erinnerte und mir ausführlich erzählte, wie meine Mutter von amerikanischen Missionaren gerettet wurde. Zunächst war sie von einer kurdischen Familie in Anatolien aufgenommen worden, und als sie alt genug war, hat man sie an ein Waisenhaus übergeben. Dort hat man ihr beigebracht zu weben, das war alles, was sie dort machen konnte. Und so bin ich geboren worden, gezeugt von zwei wie durch ein Wunder geretteten Menschen.
Jean Kéhayan est un journaliste et écrivain français d'origine arménienne, né à Marseille en 1944. Mehr bei Wikipedia (Franz.)
Zu Frankreich hatten Armenier schon lange ein besonderes Verhältnis. Vor dem Ersten Weltkrieg war es für sie das Land der Großen Revolution, die Heimat der Menschenrechte, symbolisiert durch Victor Hugos Roman "Les Misérables", Die Elenden. Dessen Held Gavroche gab sogar einer armenischen Zeitung den Namen. Paris spielte eine wichtige Rolle für armenische Eliten. Im 19. Jahrhundert schickten die Wohlhabenden ihre Kinder auf französische Universitäten, besonders nach Paris und Montpellier.
"Frankreich nahm einen außergewöhnlichen Platz in der armenischen Vorstellungswelt ein, es hatte armenische Träume genährt, bevor es sie enttäuschte", schreibt die Pariser Historikerin Anahide Ter Minassian. Enttäuscht wurden nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem Genozid die Hoffnungen auf eine armenische Heimstatt in Kilikien. In jenem Gebiet in Südost-Anatolien um Adana, wo sich bis zum 14. Jahrhundert das letzte armenische Königreich befunden hatte; nach dem Ersten Weltkrieg stand das Gebiet unter französischer Mandatshoheit. 150.000 Armenier, Überlebende der Deportation in die syrische Wüste, wurden Anfang 1919 in Kilikien angesiedelt. Unter dem Schutz Frankreichs nahm das Leben wieder seinen Lauf. Schulen wurden gegründet, das Handwerk lebte auf, der zerstörte Hafen von Mersin wurde instandgesetzt. Freilich war auf den Schutz der Mandatsmacht kein Verlass, deren Engagement blieb halbherzig und die militärische Präsenz erwies sich als völlig unzureichend. Unter dem Druck der türkischen Truppen von Mustafa Kemal wichen die Franzosen zurück, im Oktober 1921 gaben sie Kilikien auf. Die Mitgliedsstaaten des Völkerbunds akzeptierten ein gewisses Kontingent an Flüchtlingen, Frankreich erwies sich dabei als großzügig.
Anahid Ter Minassian: "Der Umstand, dass Frankreich Mandatsmacht in Syrien und im Libanon war, wo sich die zahlenstärkste Gruppe von armenischen Überlebenden befand, schuf eine 'humanitäre Pflicht'. Aber die Aufnahme der armenischen Migranten in den 1920er Jahren hatte vor allem mit Frankreichs Bedarf an Arbeitern nach den Verlusten des Krieges zu tun."
Anahide Ter Minassian, née en 1933, est une historienne française d'origine arménienne. Agrégée d'histoire, elle enseigne actuellement à l'École des hautes études en sciences sociales. Mehr bei Wikipedia (Franz.)
Der 2002 verstorbene Henri Verneuil, einer der erfolgreichsten Regisseure des französischen Unterhaltungskinos, der unter anderem mit Fernandel, Jean Gabin und Jean-Paul Belmondo gedreht hat, hieß eigentlich Achod Malakian. In seinem Erinnerungsbuch Mayrig erzählt er von seiner Kindheit als kleiner Armenier in Marseille. Er beschreibt die Angst vor dem mächtigen Beamten, der über Wohl oder Wehe der Familie zu entscheiden hatte.
"In der Hand hatte er einen mächtigen Stempel, den er über unseren Pässen in der Schwebe hielt, während er unsere Ähnlichkeit mit den Fotos prüfte. Davon, ob dieser Stempel zuschlug, hing unser Bleibendürfen ab.
Und der Stempel schlug zu.
Meine Augen verfolgten seinen Fall bis hinunter auf den Pass. Nichts! Kein Siegel wurde sichtbar. Der Mann geriet in Rage. Er schlug nochmals zu, zweimal, dreimal. Die immer heftiger werdenden Schläge hallten in meinem Kopf wider, und jedes Mal musste ich die Augen zukneifen.
Sein Stempelkissen war eingetrocknet.
Im Durcheinander seiner Schublade fand er eine frischere Dose. Diesmal wurde die Schrift auf dem Pass sichtbar: ein Wort, von einem Rechteck umrahmt.
Lesen konnte ich dieses Wort erst später: Staatenlos."
Und der Stempel schlug zu.
Meine Augen verfolgten seinen Fall bis hinunter auf den Pass. Nichts! Kein Siegel wurde sichtbar. Der Mann geriet in Rage. Er schlug nochmals zu, zweimal, dreimal. Die immer heftiger werdenden Schläge hallten in meinem Kopf wider, und jedes Mal musste ich die Augen zukneifen.
Sein Stempelkissen war eingetrocknet.
Im Durcheinander seiner Schublade fand er eine frischere Dose. Diesmal wurde die Schrift auf dem Pass sichtbar: ein Wort, von einem Rechteck umrahmt.
Lesen konnte ich dieses Wort erst später: Staatenlos."
Henri Verneuil bei Wikipedia
Die Sprache ist es, die sie zusammenhält. Und die Kirche ist die verbindende Kraft. Wenn man die Kirche betritt, hat man den Eindruck, Armenien zu betreten, den Heiligen Grund der Armenier. Die Kirche vereinigte auch untereinander zerstrittene Landsleute, sie war die Hüterin von Sprache und Kultur. In der Kirche fanden die Kurse für die Kleinen statt, es entstand eine große Zahl von Vereinen zur Kinderbetreuung, wie etwa die Pfadfinder. Über die Sprache bildete sich die Identität, und stets bemühte sich die Gemeinschaft darum, ihren Fortbestand sicherzustellen.
Aus der Konfrontation von armenischen Traditionen mit französischen Realitäten bildete sich eine eigene Identität der Diaspora heraus. Und so ist die Diaspora nicht die gleiche in Marseille, Beirut, Toronto, Los Angeles, Köln, Berlin oder Buenos Aires, vielmehr entwickeln sich je eigene Gemeinschaften. Henri Verneuil brachte es in seiner Antrittsrede in der "Académie des Beaux Arts" im Dezember 2000 für sich auf den Punkt:
Henri Verneuil "Ich bleibe immer Armenier. Aber französischer als mich, das gibt es nicht!"
Oder wie es Charles Aznavour ausdrückte: "Ich bin hundert Prozent Franzose und hundert Prozent Armenier!"
Seit 100 Jahren warten Armenier vergebens auf die Anerkennung ihres Leids.
Seit 100 Jahren hoffen sie vergebens darauf, dass sich die heutige Regierung der Türkei zu den Verbrechen des Jungtürkischen Komitees bekennt. Und seit 100 Jahren auch warten Armenier auf deutliche Worte seitens der deutschen Politik. Denn das Deutsche Kaiserreich trug große Mitverantwortung, ja eine Mitschuld an dem Geschehen. Hohe Militärs des Kaiserreichs waren an den Gewalttaten beteiligt.
Über die Vorgänge war die internationale Öffentlichkeit wohl informiert: allein die New York Times berichtete 1915 in über einhundertfünfzig Artikeln über die Deportationen und Massaker. Schon im Mai 1915 hatten die Regierungen der Entente-Mächte in einer gemeinsamen Note an die Osmanische Regierung protestiert gegen "crimes against humanity, Verbrechen gegen die Menschheit". Doch es galt die Weisung des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg, er hatte jedwedes Ansinnen die Deportation und Mißhandlung der armenischen Bevölkerung öffentlich zu machen strikt untersagt.
Auf entsprechende Berichte des Kaiserlichen Botschafters Graf Wolff-Metternich aus Konstantinopel antwortete der Reichskanzler im Dezember 1915: "Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während eines laufenden Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch sehr brauchen."
Botschafter Graf Wolff-Metternich wurde abberufen. Schon im Oktober 1915 waren Richtlinien für deutsche Journalisten erlassen worden, die jede Berichterstattung über die Gräuel verboten.
Die größte armenische Diaspora Europas, die in Frankreich, ist aus der Katastrophe selbst entstanden. Viele derer, die dem Genozid entkommen konnten, wurden nach Frankreich gebracht. In Deutschland ist die Diaspora aus der sogenannten Gastarbeiterschaft nach 1945 hervorgegangen.
Minu Nikpay, die in Istanbul geboren wurde, lebt seit 1965 in Köln. Sie ist Vorsitzende der größten Armenischen Gemeinde Deutschlands, der Kölner Gemeinde, die sie mit aufgebaut hat. 1991 wurde die Diözese der Armenisch-Apostolischen Kirche von Erzbischof Karekin Bekdjian in Köln gegründet.
Karekin Bekdjian war zuvor zwei Jahrzehnte lang als Priester in Marseille tätig.
Minu Nikpay: "Ich bin eine der Mitgründerinnen dieser Gemeinde, ich war damals im Jugendausschuß und das waren damals ungefähr 80, 90 Familien, die gerade mal aus der Türkei hierher gekommen sind. Also die größte Zahl der armenischen Einwanderer nach in Deutschland, die kommt aus der Türkei, aus dem inneren Anatolien. Das war natürlich in den 50er-, 60er-Jahren war das für die eine Chance, endlich mal in ein christliches Land zu gehen und dort frei ihr Christentum ausüben zu dürfen. Und bei sehr vielen war das der Grund, dass sie aus der Türkei ausgewandert sind. Und die sind ausgewandert, um hier zu bleiben, nicht mehr zurückzukehren. Natürlich kam da ein anderer Teil, der aus wirtschaftlichen Gründen kam und hat gesagt, ich geh dort mal arbeiten und zehn Jahre, zwanzig Jahre, dann habe ich ein Kapital geschaffen und kann ich dann wieder zurück. Aber dann natürlich im Laufe der Jahre mit dieser ganzen Entwicklung haben die dann doch sich entschlossen, doch hier zu bleiben. Und dann kam in den 70er Jahren mit der Libanon-Krise, da kam eine ganz große Schar Armenier aus dem Libanon. Und dann kam in den 80er Jahren mit der Revolution im Iran, mit der Islamischen Revolution, da kam die nächste große Schar. Ja, und jetzt haben wir natürlich sehr viele Flüchtlinge aus Syrien, Irak, die gesamte armenische Communtiy hat sich dort aufgelöst.
Das Schicksal der Armenier wurde verschwiegen. Minu Nikpay, Vorsitzende der Armenischen Gemeinde in Köln
Der Historiker Mihran Dabag gründete mit der Sozialwissenschaftlerin Kristin Platt 1995 das Institut für Genozid und Diasporaforschung an der Ruhr Universität Bochum. Seine Vorträge zur Geschichte des Völkermords musste er anfangs sogar unter Polizeischutz halten. Mihran Dabag ist Sohn Überlebender und wurde 1944 in Diyarbakir geboren. Diyarbakir in Zentral-Anatolien gelegen, ist heute ein Symbol der Versöhnung von Kurden und Armeniern. Vor einigen Jahren ließ die kurdische Bürgermeisterin der Stadt die zerstörte armenische Kathedrale wieder aufbauen.
Mihran Dabag: "Natürlich, die Erfahrung motiviert. Das war auch keine schöne Kindheit in Diyarbakir, damals waren die Kurden auch sehr von der Vorstellung Muslime und Nicht-Muslime bestimmt. Ich musste auf das Kreuz immer spucken, um überhaupt auf der Straße weiter zu kommen. Die Erfahrung ist eine Möglichkeit zu denken und zu handeln. Aus dieser Erfahrung heraus haben wir beide, Kristin Platt und ich, dieses Institut gegründet, weil die Erfahrung selbst hat auch das Denken bestimmt und auch das Denken erweitert, indem wir nicht armenische Geschichte in diesem Institut als erstes Thema gemacht haben, sondern unterschiedliche Völkermorde und auch die Frage nach der gesellschaftlichen Konstitution gestellt und wo kollektive Gewalt überhaupt entstehen kann. Das waren die Fragen des Instituts, deswegen unsere Bücher heißen "Die Feindschaft", "Das Reden von Gewalt", "Struktur und kollektive Gewalt" und andere, weil wir diesen Zusammenhang sehen wollten und gesehen haben. Wir haben ganz engen Kontakt zu jüdischen Wissenschaftlern und wir haben dieses Problem der Frage der Singularität nicht. Wenn wir über Genozide sprechen, müssen wir über Unterschiede und Gemeinsamkeiten sprechen. Insofern bleibt für dieses Land Holocaust das Wichtigste und vielleicht nicht nur für dieses Land ein singuläres Ereignis, und das soll es auch bleiben, was Holocausterfahrung anbetrifft. Aber die Betrachtung, Integrierung anderer Erfahrungen relativiert nicht Holocaust, sondern erweitert. Also es geht zunächst mal nicht nur um armenische und türkische Kinder. Ich denke, wir müssen das 20.Jahrhundert aufrichtig aufarbeiten und das ist auch sehr wichtig, was Holocaust anbetrifft. Nämlich Holocaust wird erst dann sozusagen auch jetzt verstanden, das heißt die Wichtigkeit der Weitergabe dieser Erfahrung, wenn wir das kontextualisieren, um auch zu zeigen, Singularität bedeutet nicht, dass sich das nicht wiederholt. Und es hat sich wiederholt, nicht so, wie wir das gekannt haben, aber wir haben Erfahrung von Ruanda, wir haben Kambodscha, wir haben Darfur Und was die Türkische und Armenische anbetrifft, muss gerade dieses Thema besonderer Weise Berücksichtigung finden, damit sage ich mal so krass nicht in dem Schulhof der türkische Schüler dem Mitschüler sagen kann ‚du Nazi’, dass man etwas reflektierter mit der eigenen Geschichte umgehen kann und auch etwas differenzierter denken kann."
Prof. Dr. Mihran Dabag : Geboren 1944 in Diyarbakir (Türkei). Beginn des Studiums der Vergleichenden Sprachwissenschaften und Philosophie in Bonn (1964); Wechsel zum Studium der Philosophie an die Ruhr-Universität Bochum (1966). Mehr
Franz Werfels tausend Seiten umfassender Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" erschien Ende 1933 in Wien. Über Jahre hatte sich der in Prag geborene jüdische Schriftsteller mit den Vorgängen beschäftigt, um, wie er sagte, "das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen" zu entreißen. Der Roman erzählt die Geschichte des erfolgreichen armenischen Widerstands, der im Dorf Yoghonoluk, am Fuße des Musa Dagh an der syrischen Mittelmeerküste gelegen, organisiert wurde. Anfang August 1915 verschanzten sich auf dem Berg rund 5.000 Armenier aus den umliegenden Dörfern, die, wie zuvor ihre Landsleute im Osten Anatoliens, auf Todesmärsche in die syrische Wüste "verschickt" werden sollten. Werfels Roman ist eine bittere Anklage gegen Nationalismus und Rassenwahn. Als Hitler im Januar 1933 an die Macht kam, schrieb Werfel noch an seinem Roman, den er selbst sein Hauptwerk nannte. Ahnungsvoll heißt es in einem Brief an seine Eltern:
"Durch die Ereignisse hat es eine symbolische Aktualität bekommen: Unterdrückung, Vernichtung von Minoritäten durch den Nationalismus. Meine Arbeits-Versunkenheit ist der Grund, warum ich die gewiß niederschmetternden Umstände mit einer Art abgeklärter Ruhe betrachte. Ich will meine Kraft lieber an ein Werk verzetteln, als an ein leeres Wehgeschrei. Was geschehen wird, das wird geschehen, ich habe das Armenierschicksal, und da bekommt man andere Perspektiven."
Auf Vortragsreisen in Deutschland las Franz Werfel ein Kapitel aus dem damals
noch unfertigen Roman. Es ist das 5. Kapitel des Ersten Buches, das sich auf die historisch belegte Überlieferung eines Gesprächs zwischen dem türkischen Kriegsminister Enver Pascha und Johannes Lepsius stützt. Lepsius war als protestantischer Theologe und Orientalist im Osmanischen Reich tätig. Als Reaktion auf die Massaker unter dem letzten Sultan Abdul Hamid 1895, 96, bei denen 300.000 Armenier ermordet worden waren, hatte Lepsius das Armenische Hilfswerk gegründet. Während des Völkermords verfasste er einen "Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei", den er trotz Zensur im Juli 1916 an 20.000 Adressaten sandte. Niemand sollte sagen können, er habe nichts gewusst.
Taniel Varoujan:Heimkehr
Ein kleines Haus dort unten ist mein eigen
am See gelegen, am verlassenen Ufer.
Immer offen steht seine Türe
und angezündet bleibt verborgen dort meine Lampe.
Nun ist es ein Toter, den sie dort heraus getragen
ein lebloser Körper - und meine Seele ist es, die von dort verbannt....
Auf der Schwelle, seit damals, unbeweglich
immerfort klagend meine Katze.
Heimgekehrt, vielleicht eines Tages, werde ich dort
meine Lampe auf immer erlöscht finden - meine tote Lampe...
Und dann, wenn meine zitternde Hand die Türe geschlossen,
werde ich mein Weinen einweben in das Klagen meiner Katze.
Ein kleines Haus dort unten ist mein eigen
am See gelegen, am verlassenen Ufer.
Immer offen steht seine Türe
und angezündet bleibt verborgen dort meine Lampe.
Nun ist es ein Toter, den sie dort heraus getragen
ein lebloser Körper - und meine Seele ist es, die von dort verbannt....
Auf der Schwelle, seit damals, unbeweglich
immerfort klagend meine Katze.
Heimgekehrt, vielleicht eines Tages, werde ich dort
meine Lampe auf immer erlöscht finden - meine tote Lampe...
Und dann, wenn meine zitternde Hand die Türe geschlossen,
werde ich mein Weinen einweben in das Klagen meiner Katze.
"Was ich erzählt habe von meinem Großvater auf dem Musa Dagh, diese Armenier waren ja umzingelt von der Osmanischen Armee und sie wurde angeführt von einem deutschen Offizier. Ja, das gab es da. Es gab ein Wissen darum und es gab auch ne aktive Beteiligung. "Ich erinnere mich und ich verlange", ja, das war eine weltweite Initiative jetzt anläßlich des hundersten Jahrestages des Völkermordes, dass armenische Gemeinden oder auch Einzelpersonnen auf der ganzen Welt eben Initiativen vorangetrieben haben, um die Anerkennung zu fordern." Jeannette Ehrmann ist 34 Jahre alt und lebt in Frankfurt am Main. Von ihrer in der Türkei aufgewachsenen armenischen Mutter erfuhr sie, was es bedeutet, die eigene Herkunft verleugnen zu müssen.
Jeannette Ehrmann "Wie können Ereignisse erinnert werden, für die es keinen international anerkannten Namen gibt? Wie ist unter diesen Bedingungen eine für die Heilung des Traumas notwendige Anerkennung und eine Versöhnung möglich? Wie kann eines Genozides gedacht werden, der für die Nachfahren der Opfer geschehen und für die Nachfahren der Täter nicht geschehen ist? Wie können die Toten betrauert werden, die im kollektiven Gedächtnis der Menschheit nicht zählen?"
"Als die Massaker und die Todesmärsche begannen, war mein Großvater fünfzehn Jahre alt und lebte im armenischen Dorf Vakıflı in der Provinz Antiochia. Um sich vor der drohenden Vernichtung in Sicherheit zu bringen, flüchtete er im Sommer 1915 mit den viertausend Bewohnern der umliegenden sieben armenischen Dörfer auf den Mosesberg. Nur mit einfachen Waffen und Proviant ausgestattet verteidigten sich Männer und Frauen, Alte und Junge dort gegen den vom deutschen Offizier Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg angeführten Angriff der osmanischen Armee."
"Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer. Die Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod."
Berthold Brecht
Minu Nikpay: "Dass die Türkei sich nicht entwickeln wird, das will ich überhaupt nicht sagen, weil irgendwann werden sie sich entwickeln, jeder Mensch, jedes Land, jede Nation entwickelt sich. Allerdings die Zeit ist noch nicht reif dafür, die Zeit ist nicht reif, solange in der Türkei das gesamte Bildungs- und Schulungssystem diese Sache in sich nicht aufnimmt und die Kinder damit konfrontiert oder erzieht, die richtige Geschichte erzählt, genauso wie diese Geschichtsverarbeitung, die in Deutschland gemacht wurde. Deutschland hat ja auch seine Schuld nicht von heute auf morgen anerkannt, das hat vierzig Jahre gedauert. Und mit Schuld an dieser Nichtentwicklung ist zum sehr großen Teil Deutschland, weil Deutschland war Mittäter, Mitanseher, Mittäter, also Mittäter vielleicht nicht in dem Sinne, dass sie die Armenier genommen und umgebracht hätten, aber die haben die Augen verschlossen, die haben gewusst. Die ganzen Archive vom Bundesaußenministerium sind voll. Die erste Sendung vom Ralph Giordano, der das gemacht hat, der hat also mit sämtlichen Angaben der Archivmaterialien, der hat das alles auf den Punkt gebracht. Nicht nur er, es gibt auch türkische Schriftsteller, wie Taner Akçam, wie zig andere, die eine wahnsinnig gute Archivarbeit geleistet haben: die wussten das, es sind Depeschen über Depeschen über Depeschen Tag und Nacht nach der Reichsregierung geschickt worden, aber es hing in Deutschland eine Nachrichtensperre. Wir haben auch hier in Köln mal recherchiert, zum Beispiel der Kölner Stadtanzeiger, es gibt ein Schriftstück vom Heer, der es absolut verbietet über die Armenier-Gräueltaten zu berichten."
In der türkischen Zivilgesellschaft zerbricht allmählich das über Armenien verhängte Tabu. Zu verdanken ist dies mutigen Journalisten und Intellektuellen wie Hrant Dink, der seine Aufklärungsarbeit 2007 mit dem Leben bezahlte. Doch auch die Ermordung eines kritischen Journalisten kann diesen Aufbruch nicht mehr aufhalten. Das gilt auch für manche in Deutschland lebende Türken, so für den in Köln aktiven Schriftsteller Doğan Akhanli:
Dogan Akhanli: "Ich heiße Dogan Akhanli, ich komme aus der Türkei. Ende 1991 bin ich nach Deutschland gekommen und abgesehen der Erzählungen aus meiner Kindheit wusste ich über die Dimension der Massenmord an den Armeniern gar nichts. Ich hab kein einzige Bücher früher gelesen. Ich wusste nur, dass in meinem Gebiet eine lokale Massaker stattgefunden hat, aber ich wusste nicht, dass diese Massaker keine lokale Massaker war, sondern eine zentralisierte Gewalttat, nämlich ein genozidale Gewalttat."
In seinem 2015 in vielen Städten aufgeführten Theaterstück "Annes Schweigen" erzählt Doğan Akhanli die Geschichte einer Armenierin, deren Tochter erst auf dem Sterbebett der Mutter deren wirkliche Herkunft erfährt. Anne heißt auf Türkisch Mama, und diese Mutter verschwieg zeitlebens ihre Herkunft. "Annes Schweigen" ist ein eindringliches Stück über die Qual lebenslanger Selbstverleugnung und die Folgen der aufgezwungenen Geschichtslüge.
Dogan Akhanli - seine Website und bei Wikipedia
Madlen Vartian: "Die Geschichte der Armenier ist insofern einzigartig, dass es kein Volk auf der Welt gibt, das sich so lange gegen eine Leugnung wehren muss. Deswegen sehe ich mich in der Position nicht mehr des Opfers, auch wenn ich von der Historie her Opfer bin, sondern ich hab mich in eine Position des Widerstands positioniert: Widerstand gegen das Vergessen, gegen die Leugnung, gegen die Lüge, gegen die Denunziation. Und der Eintritt für etwas, nämlich für die Wahrheit, demzufolge auch für eine gerechtere Zukunft, einfach für sich selbst, für die eigenen Kinder, aber auch für die Gemeinschaft und ich glaube, langfristig ist es auch sehr sehr wichtig für das türkische Volk selbst. Weil sie in der Leugnung nach wie vor diese Gewaltpolitik nicht konfrontiert und daher in einem Zustand lebt, der überhaupt nicht zukunftsfähig ist, auch wenn sie es gerne so hätten, aber eine Leugnung ist nie zukunftsgewandt, sondern sie ist immer rückwärtsgewandt."
Georgi Ambarzumjan: Welche Folgen es hat, wenn Armenier in Deutschland auf türkische Nachbarn treffen,
die den Genozid leugnen, und welche Verantwortung Deutschland dabei zukommt, darüber spricht der in Armenien geborene und in Deutschland aufgewachsene 27-jährige Georgi Ambarzumjam. Er hat Jura studiert und ist aktiv im Zentralrat der Armenier in Deutschland.
Literatur:
Armenity. The national pavillon of the Republic of Armenia, Island of San Lazzaro; Katalog 56. Esposizione Internationale d’Arte; Biennale di Venezia 2015
Taner Akçam: Armenien und der Völkermord : Die Istanbuler Prozess und die türkische Nationalbewegung. Hamburger Edition, Hamburg 2004.
Grigoris Balakian: Armenian Golgotha. Vintage Books, New York 2010.
Krikor Beledian: Seuils. Autobiographie; Édition Paranthèses 2011
Lydie Belmonte: La petite Arménie : Histoire de la communauté
arménienne à Marseille. Jeanne Laffitte, Marseille 2004.
Mihran Dabag, Kristin Platt: Verlust und Vermächtnis. Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2015:
Eines der wichtigsten Bücher zum Thema, weil hier zum ersten Mal die ergreifenden Erinnerungsberichte von Überlebenden zu lesen sind. Dazu eine Einführung, ein Glossar und Kartenmaterial; so werden die mörderischen Wege, dieses endlose "Gehen und Gehen" erinnert.
Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Ch.Links Verlag, Berlin 2015
Wolfgang Gust (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes; Verlag Zu Klampen, Springe 2005.
Eine unschätzbar wertvolle Pionierarbeit über die Verstrickungen (und die Mitschuld) des Deutschen Kaiserreichs, die noch immer nicht aufgearbeitet ist.
Corry Guttstadt (Hg.): Wege ohne Heimkehr. Die Armenier, der Erste Weltkrieg und die Folgen. Eine literarische Anthologie; Assoziation A, Berlin 2014.
Ein sehr anschaulich gestaltetes Lesebuch mit Gedichten, Erinnerungen, Textauszügen, das sich auch an ein größeres Publikum richtet.
Jean Kéhayan: L'apatrie. Edition Parenthèses, Marseille 2000.
Anahide Ter Minassian, Houri Vartjabédian (Hg.): Nos terres d’enfance - L’Arménie des souvenirs;Édition Paranthèses, Marseille 2010
Raymond Kévorkian et Yves Ternon: Mémorial du génocide des Arméniens; Seuil, Paris 2014
Hans-Lukas Kieser (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah; Zürich 2002
Yves Ternon: Tabu Armenien; Frankfurt 1991
Artem Ohandjanian: Armenien. Der verschwiegene Völkermord; Böhlau Verlag, Wien 1989
Ossip Mandelstam: Armenien, Armenien!. Prosa, Notizbuch, Gedichte 1930-1933; hg. und übersetzt von Ralph Dutli, Amman Verlag, Zürich 194
Pinar Selek: Weil sie Armenier sind. Orlanda, Berlin 2015.
Daniel Varoujan: CHANTS PAЇENS et autres poèmes; Orphée La Différence, Paris
Henri Verneuil: Meine Mutter Mairig. Scherz, München 1988.
Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh; Fischer Taschenbuch, Frankfurt 2015
Taner Akçam: Armenien und der Völkermord : Die Istanbuler Prozess und die türkische Nationalbewegung. Hamburger Edition, Hamburg 2004.
Grigoris Balakian: Armenian Golgotha. Vintage Books, New York 2010.
Krikor Beledian: Seuils. Autobiographie; Édition Paranthèses 2011
Lydie Belmonte: La petite Arménie : Histoire de la communauté
arménienne à Marseille. Jeanne Laffitte, Marseille 2004.
Mihran Dabag, Kristin Platt: Verlust und Vermächtnis. Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2015:
Eines der wichtigsten Bücher zum Thema, weil hier zum ersten Mal die ergreifenden Erinnerungsberichte von Überlebenden zu lesen sind. Dazu eine Einführung, ein Glossar und Kartenmaterial; so werden die mörderischen Wege, dieses endlose "Gehen und Gehen" erinnert.
Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Ch.Links Verlag, Berlin 2015
Wolfgang Gust (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes; Verlag Zu Klampen, Springe 2005.
Eine unschätzbar wertvolle Pionierarbeit über die Verstrickungen (und die Mitschuld) des Deutschen Kaiserreichs, die noch immer nicht aufgearbeitet ist.
Corry Guttstadt (Hg.): Wege ohne Heimkehr. Die Armenier, der Erste Weltkrieg und die Folgen. Eine literarische Anthologie; Assoziation A, Berlin 2014.
Ein sehr anschaulich gestaltetes Lesebuch mit Gedichten, Erinnerungen, Textauszügen, das sich auch an ein größeres Publikum richtet.
Jean Kéhayan: L'apatrie. Edition Parenthèses, Marseille 2000.
Anahide Ter Minassian, Houri Vartjabédian (Hg.): Nos terres d’enfance - L’Arménie des souvenirs;Édition Paranthèses, Marseille 2010
Raymond Kévorkian et Yves Ternon: Mémorial du génocide des Arméniens; Seuil, Paris 2014
Hans-Lukas Kieser (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah; Zürich 2002
Yves Ternon: Tabu Armenien; Frankfurt 1991
Artem Ohandjanian: Armenien. Der verschwiegene Völkermord; Böhlau Verlag, Wien 1989
Ossip Mandelstam: Armenien, Armenien!. Prosa, Notizbuch, Gedichte 1930-1933; hg. und übersetzt von Ralph Dutli, Amman Verlag, Zürich 194
Pinar Selek: Weil sie Armenier sind. Orlanda, Berlin 2015.
Daniel Varoujan: CHANTS PAЇENS et autres poèmes; Orphée La Différence, Paris
Henri Verneuil: Meine Mutter Mairig. Scherz, München 1988.
Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh; Fischer Taschenbuch, Frankfurt 2015
Elif Shafak
Der Bastard von Istanbul
Übersetzung: Gräbener-Müller, Juliane . .
2015 Kein & Aber
Elif Shafaks großer Familienepos über die Türkei heute und vor 100 Jahren
Im heutigen Istanbul teilt die neunzehnjährige Asya Kazanci ihr Zuhause mit ihrer Großfamilie, einer bunten Ansammlung eigenwilliger Charaktere. Als Armanoush, Asyas armenisch-amerikanische Cousine, die Familie besucht, geraten jedoch die Grundmauern des Hauses ins Wanken. Denn sie hat keine Scheu, sich dem Familiengeheimnis zu widmen, das eng mit einem der dunkelsten Kapitel des Landes verbunden ist.
Musik:
Tigran Hamasyan: Luys i Luis - Armenien Sharakans an Contos, ECM-Records 2015.
Levon Eskenian "Komitas"- ECM-Records
Anouar Brahem Trio: Astrakan Café, ECM-Records
Charles Aznavour: Ils sont tombés
Makar Yekmalyan: Les chants de la Liturgie Armenienne
Astghik Beglaryan: Heritage, Piano, Solaris Records
Sowie das Lamento aus dem Morgenland Festival Osnabrück 2015
(aus einem Bericht von DeutschlandRadio Kultur; das Eröffnungskonzert wurde gesendet am 5.August 2015):
Der Bastard von Istanbul
Übersetzung: Gräbener-Müller, Juliane . .
2015 Kein & Aber
Elif Shafaks großer Familienepos über die Türkei heute und vor 100 Jahren
Im heutigen Istanbul teilt die neunzehnjährige Asya Kazanci ihr Zuhause mit ihrer Großfamilie, einer bunten Ansammlung eigenwilliger Charaktere. Als Armanoush, Asyas armenisch-amerikanische Cousine, die Familie besucht, geraten jedoch die Grundmauern des Hauses ins Wanken. Denn sie hat keine Scheu, sich dem Familiengeheimnis zu widmen, das eng mit einem der dunkelsten Kapitel des Landes verbunden ist.
Musik:
Tigran Hamasyan: Luys i Luis - Armenien Sharakans an Contos, ECM-Records 2015.
Levon Eskenian "Komitas"- ECM-Records
Anouar Brahem Trio: Astrakan Café, ECM-Records
Charles Aznavour: Ils sont tombés
Makar Yekmalyan: Les chants de la Liturgie Armenienne
Astghik Beglaryan: Heritage, Piano, Solaris Records
Sowie das Lamento aus dem Morgenland Festival Osnabrück 2015
(aus einem Bericht von DeutschlandRadio Kultur; das Eröffnungskonzert wurde gesendet am 5.August 2015):
"Das Gurdjieff-Ensemble" schafft mit diesen Klangfarben, der hohen Qualität seiner Darbietungen und der künstlerisch hochwertigen Aufbereitung der Kompositionen eine Atmosphäre von zeitloser und anspruchsvoller Schönheit. Die Klangwelten, die dabei entstehen, sind sicher auch nostalgisch und rufen Erinnerungen daran hervor, was hätte geschehen können, wenn der "Orient" - das "Morgenland" - nicht in einen Kreislauf schlimmster Gewalttaten versunken wäre. Diese Gewalttaten dauern spätestens seit dem Völkermord an den Armeniern bis heute unvermindert an und haben schon unzählige Menschenleben und mit ihnen auch zahllose Lieder, Musikstücke und andere Kulturgüter zerstört.
Kein Land Europas und des Nahen Ostens kann von sich behaupten, an dieser andauernden Tragödie unschuldig zu sein. Der Abend endet nicht zuletzt deshalb mit einem Lamento - zu zwei Musikern des Gurdjieff-Ensembles gesellt sich für dieses auf Armenisch, Kurdisch und Arabisch gesungene Klagelied der aus seiner syrischen Heimat geflohene armenische Sänger Ibrahim Keivo. Er ist einer der größten Lieblinge des Morgenlandfestivals Osnabrück. Er beklagt in diesem aufwühlenden Gesang nicht nur die vielen Toten seiner Familie und seines Volkes vor einhundert Jahren, sondern auch den Verlust seiner eigenen Heimat. Schmerz ist kein adäquates Wort für die Gefühle, die Ibrahim Kevo hier zum Ausdruck bringt und die sich auch den Menschen in der ausverkauften Marienkirche in Osnabrück direkt vermittelt haben. Weinen allein reicht nicht, um diese Gefühle zu verkraften.
Gurdjieff-Ensemble:
Emmanuel Hovhannisyan, Duduk, Zurna
Norayr Gapoyan, Duduk, Bass-Duduk
Avag Margaryan, Blul
Armen Ayvazyan, Kamancha
Aram Nikoghosyan, Ud
Meri Vardanyan, Kanun
Vladimir Papikyan, Santur, Gesang, Dap
Davit Avagyan, Tar
Mesrop Khalatyan, Dap, Dhol
Arrangements und Leitung: Levon Eskenian
Lamento
Ibrahim Keivo, Gesang, Bouzouki
Avag Margaryan, Blul
Emmanuel Hovhannisyan, Duduk
Siehe auch: Lange Nacht über Ostanatolien