Realpolitik steht über Moral und Verantwortung
Fast einstimmig hat der Bundestag den Völkermord an den Armeniern als solchen anerkannt. Eine überfällige Entscheidung, meint Kemal Hür – doch die Abwesenheit der Kanzlerin und zweier SPD-Minister zeige einen unrühmlichen Mangel an Mut gegenüber der Türkei.
Die Entscheidung war überfällig. Ein ganzes Jahrhundert musste vergehen, bis Deutschland die fast vollständige Vernichtung der Armenier sowie der Aramäer und Pontus-Griechen endlich als das anerkannte, was es war: Ein Völkermord. Der Resolution stimmten alle Fraktionen zu – bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung.
Eine Gruppe von armenischen Besuchern hielt nach der Abstimmung im Bundestag Plakate hoch und bedankte sich beim Parlament. Zwei ältere Armenierinnen weinten vor Erleichterung. Jetzt könnten sie endlich mit der Aufarbeitung beginnen, sagten sie unter Tränen.
Türkische und islamische Verbände wurden im Vorfeld nicht müde, gegen die Resolution Stimmung zu machen. Genozid-Leugner aus ihren Reihen schrieben Protest- und Drohbriefe an die Abgeordneten. Ein immer wiederkehrendes Argument lautete, die Resolution würde die Aufarbeitungsbemühungen ins Stocken bringen. Ein scheinheiliger Grund, denn die Türkei hat sich nie um Aufarbeitung bemüht.
Im Gegenteil: Sie tabuisierte den Genozid und bestrafte jeden, der diesen Begriff verwendete. Heute noch kehrt sie die historischen Fakten um und behauptet, die Armenier hätten die Türken massakriert. Die Reaktion auf den Beschluss war erwartbar: Die Türkei zog ihren Botschafter zurück und bestellte den deutschen Botschafter ein. Eine unrühmliche Haltung der türkischen Regierung.
Merkel, Gabriel, Steinmeier nahmen nicht teil
Doch das Verhalten der deutschen Regierung war nicht viel besser. Die Bundeskanzlerin blieb der Debatte und Abstimmung genauso fern wie der Vizekanzler und der Außenminister. Angela Merkel zog es vor, zu einem Kongress zum Thema digitale Bildung zu gehen. Ihr Vize Sigmar Gabriel hielt lieber eine Rede vor Vertretern der Bauindustrie. Außenminister Steinmeier, der die Resolution von Anfang an verhindern wollte, flog nach Lateinamerika. Sie hatten nicht das Interesse und den Mut, hinter dem Beschluss des Bundestages zu stehen und diesen mit ihrer Anwesenheit zu stärken.
Der Grund dafür dürfte darin liegen, die Türkei als Verbündete in der Flüchtlingsfrage nicht zu verärgern. Dieses Verhalten erinnert an die viel zitierte Aussage des deutschen Reichskanzlers, Theobald von Bethmann-Hollweg, der während des Ersten Weltkrieges von seinem Botschafter in Konstantinopel über die Vertreibung und Vernichtung der Armenier unterrichtet wurde und darauf antwortete: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber die Armenier zugrunde gehen oder nicht."
Der Bundestag verweist in seinem Beschluss an die Mitschuld des Deutschen Kaiserreiches, das nichts unternahm, um den Genozid zu verhindern. Die Bundesregierung aber zeigte mit ihrer bewussten Abwesenheit, dass sich an der deutschen Haltung auch nach einem Jahrhundert nichts geändert hat. Realpolitische Interessen stehen für die Regierung über einer Moral und historischen Verantwortung. Vor hundert Jahren genauso wie heute. Eine unrühmliche Haltung.