Armin Nassehi: „Kritik der großen Geste“

So funktioniert Transformation nicht

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Buchcover mit der Aufschrift: Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken
© Verlag C.H. Beck

Nassehi, Armin

Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenkenC.H. Beck Verlag, München 2024

224 Seiten

18,00 Euro

Von Martin Tschechne |
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Es könnte alles viel besser sein, wenn alle nur endlich einsichtig wären. Diese Formel funktioniert nach Ansicht des Soziologen Armin Nassehi nicht bei der Krisenbewältigung. Man kann nicht gegen die Gesellschaft transformieren.
Wir müssen etwas tun! Der Krieg in der Ukraine, das fortgesetzte Morden in Gaza. Die Zumutungen der Energiewende, das Klima, die Migration. Der Rechtsruck in Europa, dazu die beängstigend erfolgreichen Attacken auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den USA. So kann es doch nicht weitergehen! Wir alle sind gefordert.
Es sind solche Rufe nach Transformation, weit ausholende, große Gesten, denen der Soziologe Armin Nassehi seine Analyse widmet, eine Analyse, die ganz grundsätzlich Mechanik und Konsequenzen des gesellschaftlichen Diskurses seziert. Dass der Autor damit selbst Teil und Ausdruck dieses Diskurses ist, nimmt er sportlich: Da war etwas, das gesagt werden musste.

Die Kosten der Trägheit

„Trägheit ist nicht einfach ein Programm, eine Marotte oder ein abzulegender Charakterzug, sondern ein struktureller Schutzmechanismus, der freilich auch Kosten hat. Die Krisendiagnosen jedenfalls sagen, dass schnell etwas getan werden müsste, und zwar von ‚uns allen‘. Klassisch lässt es sich am Dauerthema Klimawandel beobachten, dessen disruptive Dringlichkeits- und Katastrophensemantik sich selbst routinisiert hat.
Um es klar zu sagen: Die Dringlichkeit ist sehr hoch und wird immer höher – aber dringlich-schnelle Veränderungen erzeugt das nicht, eher Abwehrreaktionen, die man moralisch kritisieren kann, aber wenigstens begreifen sollte.“

Die Macht der Routinen

Nassehi äußert sich in der eher persönlichen Form eines Essays; seine Argumentation folgt dennoch den Linien einer Sozialwissenschaft, die ihre Unabhängigkeit entschieden verteidigt. Er verweist auf die kühle Kybernetik der Systemtheorie und auf einen Begriff von Kommunikation, dem zufolge nicht die gute Absicht zählt, sondern das, was beim Empfänger ankommt und Wirkung erzeugt.
Was seine Analyse hingegen zutage fördert, sind Rituale und Gesten, Vereinfachung bis zum Selbstbetrug und schnelle Losungen, die zumindest aber marktfähig sind – für den Soziologen zusammengefasst im Titel eines Bestsellers, den er offenbar für exemplarisch hält in seiner Leichtfertigkeit: „Alles könnte anders sein“.
Anders nämlich dann, wenn wir nur brav Fahrrad fahren, gegen Rechtsruck und Fremdenfeindlichkeit auf die Straße gehen und nicht mehr so viel Fleisch essen. Nein, sagt Nassehi und formuliert zum moralischen Schaulaufen auf dem Buchmarkt und in den Feuilletons eine Antithese. Er nennt sie „engagierte Distanziertheit“.
„Es könnte keineswegs alles anders sein. Als Sozialwissenschaftler kann man, nein, muss man wissen, wie stabil, wie manchmal kaum auszuhalten stabil und erwartbar sich Praktiken und Routinen darstellen, wie widerständig vor allem die bewährten Alltagsroutinen, die kulturellen Chiffren und Überzeugungen, wie schwer aufklärbar Einstellungen sind und wie mächtig die Gewohnheit ist.

Aufrufe zum Engagement statt zur Erkenntnis

Aufrütteln also. Raus aus der Wohlfühlecke. Gemeinsamkeit demonstrieren. Genau da aber meldet Nassehi seine Zweifel an. Die rhetorische Figur des „Wir“ – als Appell wie als beschwörende Selbstvergewisserung – signalisiert für ihn nur scheinbar die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Tatsächlich verwischt sie Zuständigkeiten und Kompetenzen. Wenn alle angesprochen sind, muss keiner sich gemeint fühlen; die Folgen sind: mal Wurschtigkeit, mal Alarmismus.
„Der Grundfehler besteht nach meinem Dafürhalten darin, dass die ständige Aufforderung zum Engagement und die ständige Aufklärung über die Mechanismen und die Folgen von Krisen, Transformationsdruck und Neujustierungen aus dem Blick geraten lässt, dass es weniger ein Engagementproblem als ein Erkenntnisproblem gibt. Üblicherweise wird das Gegenteil behauptet.“

Gesellschaftliche Debatte folgt nicht den Regeln der Logik

Sicher, räumt der Autor ein: Die Ursachen etwa der Klimakrise seien erkannt, physikalisch und ökonomisch. Der Einfluss des Menschen: bestens dokumentiert. Auch die Wurzeln politischer Konflikte ließen sich aus historischer, sozialer, auch mal aus psychologischer Analyse rekonstruieren. Putin greift an, weil… ; Menschen verlassen ihre Heimat, wenn … – woran es dagegen fehle, sei ein Sinn für die Eigendynamik des Diskurses, für die Vielheit seiner Teilnehmer, schließlich für seine schillernde Komplexität, die in den Abstraktionen von Schrift und Sprache nur sehr unzulänglich abgebildet werden kann.
Nassehi konstatiert eine strukturelle Unzulänglichkeit. Aber woher sollen wir alle – da ist es wieder, das „Wir“ – woher sollen wir es auch besser wissen?

Ein heilsamer Schock

„Der Regierungsstil von Angela Merkel basierte auf der Vermeidung von Diskurs. Die Kommunikationsform der überraschungslosen Anschlüsse, der Dämpfung von Amplituden, der Wetten aufs Erwartbare hat nicht nur politisch stattgefunden, sondern auch ökonomisch. Paradigmatisch dafür ist die Automobilindustrie, die noch an der Optimierung des Diesels festgehalten hat, als klar war, dass es damit bald aus sein wird.“
Der Effekt der Lektüre ist ein heilsamer Schock. Die gesellschaftliche Debatte bildet die Realität nicht ab. Sie folgt eigenen Gesetzen und Ritualen, Vermarktungszwängen, einer eigenen Semantik. Das führt zu paradoxen Effekten: Verweigerung, Ablehnung, gelernte Hilflosigkeit. Keine schlechte Erklärung dafür, warum der Ruf nach einfachen Lösungen plötzlich so laut ist.
Die Bahn, die Brücken, die verschleppte Digitalisierung, der Zustand des Bildungssystems: Könnte doch wirklich alles besser sein. Aber: Danke, Frau Merkel? Danke, Herr Scholz, Herr Habeck? Das wäre eindeutig unterkomplex. Was Armin Nassehi also beisteuert, ist eine Mahnung: Der Diskurs, so sagt er, bestimmt den Lauf der öffentlichen Angelegenheiten. Und nicht umgekehrt.
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