Abgehängt in West-Virginia
In McDowell County in West Virginia türmen sich die Probleme: Jedes zweite Kind wächst ohne Eltern auf, die Gemeinde hat eine der höchsten Kriminalitätsraten im Land, die prozentual höchste Anzahl an Drogensüchtigen, schwangeren Teenagern, an Fettleibigen und Gefängnisinsassen. Dennoch haben einige Bewohner den Glauben an die Zukunft nicht verloren.
Jean Battlos Auto ist betagt. "Wie ich selbst", witzelt sie, eine Dame in den 70-ern, mit grauem Wuschelkopf und verschmitztem Lächeln. Sie rollt auf ein Stoppschild zu - das einzige in Downtown Welch, hält an, guckt links, rechts, noch mal links - und das Ganze zur Sicherheit noch einmal von vorn. Weit und breit ist kein anderes Auto zu sehen. Ein bisschen Gas gegeben, ganz sanft, nur mit der Fußspitze, dann kriecht der Wagen in Zeitlupentempo über die Kreuzung. Auf ihrem Schoß balanciert Jean Battlo ein Buch.
Ihr Buch: "Pictorial History of McDowell County, from rural farms to coal kingdom", die Bildergeschichte von McDowell, einem Landkreises in West Virginia, von ländlichen Farmen bis zur Herrschaft der Kohle. Das Foto auf dem Titel zeigt die Hauptstraße in Welch, der größten Stadt im Kreis, die McDowell Street. Der Verkehr auf dem Bild fließt in eine Richtung. Oder besser: er staut sich. Zu beiden Seiten der Straße hohe Häuser, dazwischen spannt sich eine Leuchtreklame: "Theatres" - Kinos. Auf den Bürgersteigen: Menschen. Beim Plausch auf einem Bänkchen, beim Window Shopping, beim Überqueren der Straße.
Jean Battlo: "Da drüben, das war eine der Banken auf dem Bild, die Merchants and Miners Bank. Jetzt ist da ein Gutachter drin, schon eine ganze Weile. Meist ist geschlossen, das Geschäft läuft wohl nicht gut."
An dem Gebäude bröckeln die Ziegel, die Seitenwände sind russschwarz und übersät von kraterförmigen Löchern - als hätte sich jemand mit der Abrissbirne daran zu schaffen gemacht.
"Zwei, drei Läden sind hier noch offen - mehr nicht. Die kleine Boutique da, manchmal ist sie auf. Gegenüber war Murphy's, ein großes Warenhaus. Jemand hat das Gebäude vor einem Jahr gekauft, mit großen Plänen, aber noch ist nichts draus geworden."
Drinnen stapelt sich Schutt, die Scheiben sind eingeschlagen
Die Schaufensterscheiben von Murphy's sind halb blind, drinnen stapelt sich Schutt. Daneben eine ehemalige Anwaltskanzlei, ein Haus weiter war mal ein Restaurant. Die Scheiben sind eingeschlagen. Niemand hat sich die Mühe gemacht, sie mit Brettern zu vernageln oder wenigstens die Scherben wegzuräumen.
"Ziemlich tot hier, nicht wahr. Aber was will man machen? Das hier war ein Hotel, das erste Haus am Platz. Mit moderner Inneneinrichtung, wie in einer Großstadt. Vor zehn, 15 Jahren hat es drinnen gebrannt. Ein paar Leute hatten Meth aufgekocht, Methamphetamin, und das Feuer hat auf das ganze Gebäude überbegriffen."
Das Hotel wurde nie wieder aufgebaut, wozu auch? Übernachtungsgäste kommen selten, und wenn, dann sind es Handwerker auf Montage. Ihnen stehen zwei einfache Motels am Stadtrand zur Verfügung, zwei sehr einfache, präzisiert Jean Battlo. Wenn die wenigen Zimmer nicht von Einheimischen belegt sind, die nach einem Fall von häuslicher Gewalt von der Polizei umquartiert worden sind oder sonst wie ihr Heim verloren haben.
Ein paar Blöcke weiter ein neunstöckiger Plattenbau. Überm Eingang ein Plakat mit roter Schrift auf weißem Grund: "Now leasing – under new management." Auf dem Parkplatz eine Sitzgruppe, bestehend aus einem zerschlissenen Sofa und zwei Campingstühlen. Darauf vier Männer und zwei Frauen, alle in Kapuzenpullis, ein paar Six packs mit Bier vor sich.
"Das ist ein Block mit Sozialwohnungen. Und die Typen davor: Ich möchte nicht sagen, dass sie auf Drogen sind, denn vielleicht tue ich ihnen Unrecht. Manchmal frage ich mich, was ich machen würde, wenn mir das Leben so wenig zu bieten hätte. Wie die Figur in einem meiner Bücher: Was macht man, wenn man nichts zu tun hat? Diese Typen sitzen halt da."
Jean Battlo ist die gute Seele von McDowell County. Die studierte Historikerin hat an der High School in Welch fast 30 Jahre Englisch und Geschichte unterrichtet. Sie betreibt eine Werkstatt und einen Laden für Kunsthandwerk. Und hat ein gutes Dutzend Bücher geschrieben. Neben der Bildergeschichte des Landkreises auch ein Theaterstück, die Tragikomödie "Business as usual". Darin schildert sie den Niedergang der Kohleindustrie am Beispiel einer Familie. In den Minen West Virginias waren nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als 100.000 Menschen beschäftigt - damals ein Zwölftel der Bevölkerung des Staates. In "Business as usual" verliert ein Kumpel seinen Job, weil seine Zeche schließt. Nach vielen Irrungen und Wirrungen eröffnet er ein Bestattungsunternehmen. Weil: "Sterben tun die Menschen immer." "Hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt, das Stück", sagt Jean Battlo während sie ihren Wagen auf den Parkplatz des Sterling Drive-In steuert.
Die Dollar sind in die Kassen von Konzernen geflossen
Im Sterling scheint die Zeit stehen geblieben zu sein: Die Kunstlederbänke sind orangefarben, die Tische hellblau. 50er-Jahre Retro, sollte man meinen. Stimmt aber nicht, sagt Jean Battlo, im Sterling hat es immer so ausgesehen. Sie schlägt ihr Buch auf. Die ersten Bilder zeigen eine unberührte Landschaft, bewaldete Hügel, verwunschene Täler. Dann die ersten Zechen: Förderbänder, die von einer Anhöhe zur anderen reichen. Frühe Camps der Kumpel, die sich über die Jahre zu Städten wie Welch ausgewachsen haben.
"Die Vorkommen hier sind ähnlich groß wie im Ruhrgebiet in Deutschland. Im Jahr 1947 wurde in diesem Kreis mehr Kohle gefördert, als in jedem anderen auf der Welt."
"Billion-Dollar-Coalfield" wurden die Vorkommen ehrfurchtsvoll genannt. Aber das Problem war schon damals, dass die Milliarden, die hier verdient wurden, in die Kassen von Konzernen geflossen sind, die anderswo ihren Hauptsitz hatten. Auch davon erzählen die Bilder in Jean Battlos Buch: die müden Augen der Menschen, die abgekämpften Gesichtszüge, die ärmlichen Hütten, in denen sie gelebt haben.
"Im Wahlkampf 1960 ist John F Kennedy hier durch gekommen, hier hatte er die Idee für seine Sozialgesetzgebung, die Johnson dann als 'Krieg gegen die Armut' umgesetzt hat."
Als bedingungslosen Krieg gegen die Armut, um genau zu sein. Mit den 1964 eingeführten Food Stamps, Essensmarken, als einer Art von Sozialhilfe. Und 1965 mit Medicare und Medicaid, den Krankenversicherungen für Bedürftige. Die ersten Empfänger der Essensmarken überhaupt waren die Muncys in Welch, eine Familien mit 15 Kindern. Georgia, eine der Töchter ist heute die Frau des Sheriffs. Und Charles, einer der Söhne, sitzt am Nebentisch, flüstert Jean Battlo. Sie blättert eine Seite in ihrem Buch um:
"Auf diesem Bild, das ist einer ihrer Enkel. Kennedy hält ihn auf dem Arm."
50 Jahre sind seit Inkrafttreten der Sozialgesetze vergangen. 50 Jahre, in denen die Armut im Land alles andere als besiegt worden ist. Heute wie damals gilt jeder sechste US-Amerikaner nach offiziellen Statistiken als arm: Dem Haushalt, in dem er lebt, stehen weniger als 23.850 Dollar im Jahr zur Verfügung. Und in McDowell, dem Landkreis, in dem der Kampf gegen die Armut begann, lässt sich wie in einem Brennglas beobachten, welche sozialen Verwerfungen dauerhafte Verelendung nach sich zieht. McDowell hat bezogen auf die Bevölkerungszahl die meisten Drogentoten im ganzen Land, die meisten Fettleibigen, Gefängnisinsassen und schwangeren Teenager.
Die Arbeitslosenquote liegt nur deshalb bei elf Prozent, weil sich zwei von fünf Erwerbsfähigen gar nicht erst bei den Arbeitsämtern melden. Jeder dritte Jugendliche verlässt die Schule ohne Abschluss, jedes zweite Kind wächst weder bei der biologischen Mutter noch beim biologischen Vater auf. Und weil Medien in Zyklen denken, stürzen sie sich zur Zeit auf McDowell. Der rechte Krawallsender Fox sieht am Beispiel McDowell bestätigt, dass Sozialhilfe zu mehr Armut führt und schleunigst abgeschafft werden sollte. Linke Sender wie MSNBC fordern dagegen eine Ausweitung des Sozialsystems. Doch so einfach ist das nicht, sagt Jean Battlo und bittet Charles Muncy an ihren Tisch. Charles ist Kumpel in Kurzarbeit.
Charles Muncy: "Dieses Jahr haben wir vielleicht 90 Tage gearbeitet. Vor zehn Jahren hatte Kohle eine Art Zwischenhoch, alles lief gut. Aber seit Oktober letzten Jahres geht es nur noch bergab. Es heißt, dass es wieder besser wird aber das glaube ich nicht. Ich glaube es nicht."
Sieben seiner 14 Geschwister verließen McDowell
Charles Muncy erhält Kurzarbeitsgeld. Noch, denn die Bezugsdauer läuft in ein paar Tagen ab. Charles ist einer von 3.500 Kumpel in ganz West Virginia, die wenigsten noch Arbeit haben, in McDowell mögen es noch ein paar Hundert sein. Natürlich hat er versucht der Arbeit hinterher zu ziehen, hat zeitweise im Nachbarstaat Virginia gelebt. Wie viele seiner ehemaligen Kollegen: In den letzten 50 Jahren ist die Bevölkerungszahl in McDowell von 100.000 auf etwas mehr als 20.000 geschrumpft. Aber Charles ist zurückgekommen. Wegen der Familie, wie er sagt.
"Und wegen des Geldes. Ich bin ausgebildeter Klimatechniker, Klempner und Schweißer. Aber damals war die Bezahlung unter Tage so gut, dass ich zurück in die Minen gegangen bin. Als Kumpel habe ich 75, 80.000 Dollar im Jahr verdient. Kaum war ich wieder eingestiegen, kam die erste Krise. Leute wurden entlassen und haben sich andere Jobs gesucht. Nun gibt's keine anderen Jobs mehr. Ich habe so viele Ausbildungen, aber ich finde keine Arbeit."
Jean Battlos räuspert sich. Das ist ein typischer Fall, sagt sie.
"Die Leute hier, sie wollen nicht weg. Das ist ihre Heimat, jeder kennt jeden. Sie fühlen eine Verbundenheit, wie in einer großen Familie. Die Hauptfigur in meinem Theaterstück ist auch so: Er will nicht weg, er ist Mitte 50 und Bergarbeiter in dritter Generation. Am Ende erkennt er, dass alle weg sind, die etwas ändern könnten. Und dass diejenigen, die geblieben sind, nicht wissen, was sie tun sollen."
Charles nickt: Das ist das Problem. Sieben seiner 14 Geschwister haben McDowell verlassen. Nicht dass ihr Leben einfach wäre, wo ist es das schon in diesen Zeiten. Aber sie bleiben verschont von den Problemen in McDowell. Und sie leben wenigstens in halbwegs gesicherten finanziellen Verhältnissen. Charles nicht. Die beiden Kinder besuchen eine Berufsschule in Roanoke, Virginia, zweieinhalb Autostunden entfernt. Auch seine Frau hat sich dort eingeschrieben und lässt sich zur Hilfslehrerin ausbilden. Dort teilen sich die drei eine winzige Studentenwohnung, mehr können sich die Muncys nicht leisten.
"Irgendwann werden auch wir weggehen, das ist jedenfalls der Plan. Wo wir wohnen, das war mal eine nette Gegend. Aber jetzt ist es nur noch schrecklich, wegen der Drogen und allem, was damit zusammen hängt. Da leben nur noch Junkies. Sie prügeln sich, ständig kommen Leute vorbei, um Drogen zu kaufen. Früher hast du dort kaum mal einen Fremden gesehen, heute siehst du keinen mehr, den du kennst."
Jean Battlos Werkstatt in Kimball, einem kleinen Nest am Highway 52. Die Straße folgt dem Verlauf des Elkhorn Creeks, ein Bach, der sich durch ein klaustrophobisch enges Tal schlängelt. An den Hügel kleben bescheidene Häuser. In ihrer Werkstatt stellt Jean Battlo Skulpturen aus Kohlestaub her: Katzen und Hunde, flammende Herzen und Engel. Oder besser: Sie lässt herstellen. Denn die eigentliche Arbeit erledigen Jennifer Dylan und Cody Lee Hall. Sie: gertenschlank mit langen, brünetten Haaren und randloser Brille, er: füllig, mit Ziegenbart und Pottschnitt. Die beiden sind ein Paar, einer weicht kaum eine Sekunde von der Seite des anderen, beide suchen ständig Körperkontakt: eine flüchtige Berührung hier, ein Kuss da. Seit einem halben Jahr arbeiten sie für Jean Battlo, Jennifer hatte einfach auf Verdacht angefragt.
Jean Battlo: "Wer hier durch fährt und die ganzen Leute sieht, hält sie für Penner. Aber auf die meisten trifft das nicht zu. Oft klopfen Leute an meine Tür und fragen, ob ich etwas für sie zu tun hätte, irgendetwas, um ein bisschen Geld zu verdienen."
Jennifer hat Oxycodon geschluckt, Crack, Koks und Heroin genommen
Deshalb hat sie vor ein paar Jahren die Werkstatt aufgemacht. Platz ist genug, im Erdgeschoss ihres Wohnhauses, und die Investition ist überschaubar. Zwei lange Stahltische, eine Schleifmaschine und ein Ofen zum Brennen der Figuren, mehr braucht es nicht. Das Zimmer zur Straße vorne hat sie zum Verkaufsraum ausgebaut, damit Durchreisende rein schauen können. Das Gros der Skulpturen aber vertreibt sie in Tamarack, einem Einkaufzentrum für Kunsthandwerk oben an der 64, der einzigen Autobahn, die durch West Virginia führt. Mit Jennifer, findet Jean Battlo, hat sie einen Glücksgriff getan.
"Ich habe immer gewusst, dass es hier wunderbare, talentierte Menschen gibt, die nie eine Chance gekriegt haben, wie Jennifer. Mit ein bisschen Führung hätte sie den Schulabschluss locker machen können."
In Jennifers Leben ist so ziemlich alles schief gelaufen: als Kind hin und her geschoben zwischen dem Vater, der nach North Carolina gezogen war, und der Mutter, die nicht aus McDowell hinaus gekommen ist. Die Schule abgebrochen. Mit 17 selbst Mutter geworden, mit 18 noch einmal. Mit 19 geheiratet, ihrem Ex-Mann, einem Tunichtgut, wie Jean Battlo bestätigt, ins Ofacala Hollow gefolgt, in eine dieser bewohnten Furchen zwischen den Hügeln. Dort ist es mit den Drogen komplett aus dem Ruder gelaufen.
Jennifer: "Ich habe alles genommen: Crack, Koks, Heroin. Einen Tag Trips geworfen, am nächsten gekokst, dann gedrückt. Alles außer Meth. Ein Freund war daran gestorben, vielleicht habe ich deshalb einen Bogen um Meth gemacht. Drogen kriegst du hier an jeder Ecke. Du fährst tanken und jemand spricht dich an: 'Hast Du was? Willst Du was?'"
Auch Schmerzmittel wie Oxycodon hat Jennifer geschluckt, in Mengen. Ihre Mutter ist chronisch krank, der Arzt in der Klinik in Bluefield verschreibt ihr Vorratspackungen, damit sie die weite Anfahrt nicht alle paar Wochen auf sich nehmen muss. Das ist normal in McDowell, sagt Jennifer, so kommen die Pillen in Umlauf.
"Wie ich von den Drogen losgekommen bin? Ich habe mich bei meiner Mutter im Dachgeschoss eingesperrt. Alle wollten, dass ich eine Therapie mache, aber ich hatte schon immer meinen eigenen Kopf. Es war furchtbar, ich konnte nicht schlafen, habe geschwitzt, hatte Schüttelfrost und Albträume. Aber hey, es hat funktioniert. Es hat echt funktioniert."
Seit sechs Jahren ist Jennifer clean. Und kämpft darum, die Fäden ihres Lebens nicht aus den Händen zu verlieren. Sie macht ihren Schulabschluss nach, versorgt ihre Mutter und hat ihre Tochter aus allen Scherereien herausgehalten. Bislang, Jennifer klopft auf die hölzerne Tischplatte. Ihr Sohn ist 15, ein kritisches Alter. Er lebt beim Vater, und dass es ihm ähnlich wie ihr ergehen könnte, bereitet Jennifer schlaflose Nächte. Mit Cody Lee hat sie so etwas wie eine Familie aufgebaut. Ohne eigenen Hausstand zwar, aber immerhin. Auch Cody Lees Leben ist kompliziert. Sein leiblicher Vater hat sich nicht um ihn gekümmert, sein Stiefvater, ein Alkoholiker, ist gestorben als Cody Lee 12 war, seine Mutter drei Jahre später - an einer Überdosis Oxycodon. Das Glück der beiden ist fragil, vielleicht klammern sie sich deshalb so aneinander.
Cody Lee: "Ich gucke nicht groß in die Zukunft, ich lebe von Tag zu Tag und hoffe, dass alles gut geht."
Jennifer: "Aber dieser Job hier, der ist super, so ungewöhnlich. Früher habe ich nur in Lebensmittelläden gearbeitet. Das ist etwas ganz Neues."
Rußbedeckte Böden, abgestorbene Bäume, erodierte Hügel
Unterwegs mit Jean Battlo zu einem Straßenfest in War. Man kann sich dem Städtchen im Kreis McDowell statistisch annähern: Laut letztem Zensus aus dem Jahr 2010 leben dort 862 Menschen, das Durchschnittsseinkommen eines Haushalts beträgt 16.012 Dollar. Das liegt weit unterhalb der Armutsgrenze und ein Viertel unter dem Rest der Gemeinde. Ein Drittel aller Haushalte sind Non-Family, dort leben Menschen zusammen, die weder miteinander verwandt noch liiert sind, ein weiteres Drittel besteht aus Singles. Familiäre Strukturen sind in War also nur noch vereinzelt zu finden. Vor zwei Jahres hat War es landsweit in die Schlagzeilen geschafft. Durch einen Raubmord. Das Opfer war Bürgermeister Tom Hatcher, die mutmaßlichen Täter seine Schwiegertochter und deren Bruder, zwei Junkies in Geldnöten. Jean Battlo seufzt. Tom Hatcher war ein guter Freund. Und in War ...
Jean Battlo: "For some reason War is a major drug place."
... ist aus irgendwelchen Gründen die Drogenproblematik noch viel schlimmer als anderswo in McDowell.
Jean Battlo fährt durch ein grünes Tal. Durch die Blätter und Farne schimmern rußbedeckte Böden, abgestorbene Bäume und erodierte Hügel. Stichstraßen zweigen ab. Sie führen in Hollows, kleine Senken, in den ein paar wenige Häuser dicht an dicht stehen. Die Fenster sind verrammelt, die Vorgärten voller Müll. Hier haust die absolute Hoffnungslosigkeit.
Schließlich War, benannt nach dem War Creek, wie es auf einer Tafel am Ortseingang heißt. Der Name des Bachs soll auf eine Schlacht zweier verfeindeter Indianerstämme zurückgehen.
In War sieht es aus wie auf einem Kriegsschauplatz. Die wenigen Häuser sind ausnahmslos beschädigt. Mal fehlt ein Fenster, mal eine Tür, mal hängen lose Sparren herab, mal klafft ein Loch in der Außenwand. Es riecht faulig, irgendwo kocht wohl jemand Meth auf. Menschen in allen Stadien des Verfalls schieben sich über die Hauptstraße: grotesk übergewichtige und spindeldürre, zahnlose und an den Gliedmaßen amputierte, die einen mit flackernden Augen, die anderen den Blick starr auf den Boden gerichtet.
Auf einer improvisierten Bühne eine Bluegrass-Band. Sie spielt "My Clinch Mountain home", ein Lied über die Liebe zur Heimat in den Bergen. Ein paar Leute tanzen, Flatfooting, eine Art rhythmischen Watschelgang. Auf einer Bank zwei Männer. Der eine in grauem Hemd mit weißem Stehkragen. Father Mike, stellt Jean Battlo vor, der Pastor der katholischen Gemeinde von Welch. Der andere ist unrasiert und bis zum Hals tätowiert, die speckige Baseballkappe hat er sich tief ins Gesicht gezogen. Er heißt James Richards und sagt zur Begrüßung, dass er eigentlich gar nicht hier sein sollte.
James: "Ständig renn ich hier in Freunde von früher. Es ist so leicht wieder in den alten Mist rein gezogen zu werden - besonders wenn du Geld hast. Dann sind sie alle da: Komm, lass uns doch ne Kiste Bier holen. Oder was anderes."
Wie Jennifer Dylan kommt auch James aus einer zerrütteten Familie. Nur noch etwas schlimmer: Sein Vater sitzt lebenslang im Gefängnis, sein Bruder für zehn Jahre. Auch er selbst hat schon Haftstrafen verbüßt, wegen Diebstahl und Drogen. Wie Charles Muncy war er eigentlich schon weg und ist zurückgekommen, weil die Minen Kumpel gesucht haben. Jetzt ist er arbeitslos, seine Freundin schwanger.
"Ich mache Kleinkram, Zimmern oder Sachen auf dem Bau, damit komme ich gerade so über die Runden. Meine Freundin hat Krankenschwester gelernt, jetzt muss sie ein Praktikum machen, unbezahlt. Wir gucken, dass wir Geld für Benzin zusammenkratzen, damit sie überhaupt dort hinkommt. Werden wir schon irgendwie schaffen."
Ein junger Mann winkt ihm von weitem zu, die dünnen Beine in hautengen Stretch-Jeans, ein ärmelloses T-Shirt über dem ausgemergelten Körper. "Ich muss los", stammelt James. Father Mike drückt ihm seine Visitenkarte in die Hand: "Rufen Sie mich an, wenn Sie Probleme haben."
Gefühl der Verlassenheit und Verlorenheit
Ein Viertelstunde später bei S'Bros, dem einzigen Lokal in War. Jean Battlo trinkt einen Kaffee, Father Mike stochert in seinem Hühnersandwich herum. Begegnungen wie mit James sind für ihn Teil seiner Aufgabe.
Father Mike: "Wenn man mich fragt, was ich hier mache, dann antworte ich: rum fahren und mit Leuten reden. Ich rede mit meiner Frisöse, den Drogensüchtigen, den Dealern. Ich fahre hoch in die Hollows, halte an, rede und höre zu."
Father Mike ist Jesuit. Und seit knapp einem Jahr in McDowell. Jean Battlo schüttelt den Kopf.
Jean Battlo: "Um ehrlich zu sein: Manchmal denke ich, dass es nicht lohnt, hier nach Lösungen zu suchen. Aber in meinem Herzen weiß ich, das man es trotzdem versuchen muss, auch wenn es schwer ist. Wir brauchen Anführer. Oder besser gesagt: Menschen mit Visionen. Hier kann sich doch kaum einer eine Zukunft für uns vorstellen."
Father Mike: "Richtig, in McDowell fehlen Führungsfiguren. Aber ein Problem ist auch, dass die Leute das einfach so akzeptieren. Und das wiederum trägt zur kollektiven Verzweiflung und Depression bei. Im Grunde bräuchte es jemanden von außen , aber zusammen mit einer Person von hier, die das Vertrauen der Leute hat."
Und dann reden sie. Über die Geschichte von McDowell und das Gefühl der Verlassenheit und Verlorenheit, das tief in den Menschen verankert ist. Über die staatlichen, kirchlichen und privaten Hilfsprogramme und warum sie verpuffen. Über die gescheiterten Versuche, Industrien anzusiedeln. Im Grunde müsste man es anders angehen, sinniert Father Mike: über kleine, lokale Kooperationen eine moderne Form von Subsistenzwirtschaft aufbauen und diese Einheiten später vernetzen. Jean Battlo nickt. Womöglich haben sich hier zwei gefunden, die McDowell aus der Abwärtsspirale hinausführen - es zumindest versuchen.
"Ich recherchiere seit über 20 Jahren Stories in den USA, auch an sozialen Brennpunkten, aber was ich in West-Virginia erlebt habe, hat mich schockiert. McDowell ist einer der ärmsten Landkreise im eigentlich reichsten Land der Welt, und die Lebensbedingungen der Menschen dort sind schlicht und einfach ein Skandal."