Armut in Detroit

Unternehmerin gibt Obdachlosen eine Chance

Ein Obdachloser schläft am 13. Januar 2007 auf der Straße in San Francisco, Kalifornien, USA.
In den USA ist Obdachlosigkeit ein großes Problem - allein in Detroit sind rund 20.000 Menschen obdachlos. © picture-alliance/ dpa/ epa Arleen Ng
Von Nadine Wojcik |
Mit ihrem Unternehmen "The Empowerment Plan" holt die 23-jährige Detroiterin Veronika Scott Obdachlose von der Straße und gibt ihnen Jobs. Im Zentrum der Organisation steht die Produktion einer Jacke, die sich zum Schlafsack umfunktionieren lässt. Sechs Frauen hat Scott mithilfe von Spenden zu Näherinnen ausbilden lassen. Sie nähen den für Obdachlose kostenlosen Wandel-Mantel.
Veronika Scott breitet einen großen, weißen Daunenmantel auf einem Werktisch aus. Sie öffnet die Reiß- und Kreppverschlüsse und klappt einen unteren Zusatz aus, versteckt im Innenfutter. Der Mantel verwandelt sich in einen Schlafsack.
Veronika Scott: "… und jetzt kann man hineinschlüpfen. Man braucht nur noch die Ärmel nach innen ziehen – dadurch gibt es eine Luftzirkulation im Mantel, damit man nicht schwitzt. Und man hat gleichzeitig auch ein Kopfkissen."
Viele Prototypen hat es gebraucht, bis Veronika Scott mit diesem wandelbaren Mantel zufrieden war. Obwohl: Zufrieden ist sie auch weiterhin nicht – ständig macht sie neue Entwürfe, sucht nach noch leichterer Handhabung, nach besseren Textilen. Ihr Mantel – das ist nicht nur ihre bisher größte Herausforderung. Es ist ihr persönlicher Beitrag für die zerfallende Stadt Detroit.
Veronika Scott ist in einem Vorort von Detroit geboren. Einer von unzähligen rund um die einst prosperierende Motorcity. Beschauliche, friedliche Kleinstädte, dominiert von einer weißen Mittelschicht. Und das genaue Gegenteil von Detroit Downtown, das die Vorstädter meiden, so gut es geht: zu gefährlich, zu viel Kriminalität, zu viele Obdachlose. Veronika Scott ist trotzdem in die Stadt gezogen, fühlt sich hier von einer kreativen Freiheit angezogen.
Veronika Scott: "In Detroit herrscht gerade eine ganz besondere Atmosphäre. Die Stadt zieht derzeit viele Künstler und Musiker an. Wo auf dieser Welt könnte ich mit meinen 23 Jahren in einer bezahlbaren Fabriketage wohnen? Detroit fühlt sich an wie der Wilde Westen. Jeder kann hier seinen Platz finden.“
"Deine Mäntel sind uns egal. Wir brauchen Jobs!"
Veronika hat ihren Platz in einer großen, umgebauten Fabriketage gefunden. Hier schneidern sechs Frauen an ihrem Mantel. Richtig glauben kann das Veronika an manchen Tagen bis heute nicht. Ihr Mantel war zunächst nur ein Entwurf im Rahmen ihres Produktdesignstudiums. Damals war sie 20 und wollte ihre Studienarbeit den vielen Obdachlosen der Stadt zu widmen. Sie besuchte über ein halbes Jahr lang eines der härtesten Obdachlosenheime von Detroit und entwickelte gemeinsam mit den Bewohnerinnen den Mantel.
"Und als mein Prototyp fertig war, fragten mich die Frauen: Ja, und wann wird das jetzt Realität? Wann kriegen wir jetzt unseren Mantel? Und ich hatte keine Ahnung, was ich ihnen sagen sollte. Ich war ja schließlich Studentin, das war nur eine Studienarbeit für mein Portfolio."

Und dann fing eine der Frauen an, Veronika zu beschimpfen:
"Ich wollte gerade gehen und eine Frau schrie mich an: Deine Mäntel sind uns eigentlich vollkommen egal. Wir brauchen Jobs – das ist was zählt! Und ich merkte sofort: Sie hat Recht. Ein Mantel ist nur ein Mantel, der hält dich zwar warm, aber wirklich ändern wird er nichts. Eine Arbeitsstelle hingegen kann diesen obdachlosen Frauen wirklich helfen.“
Nachträglich empfindet sie diesen Moment, als die größte Freiheit, die sie bislang gespürt hat. Veronika, die damals noch bei ihren Großeltern wohnt und als Studentin selbst kaum Geld hat, sucht nach Finanzierung für ihr Projekt und findet in kürzester Zeit den Textilhersteller Carhartt. Er unterstützt sie mit Nähmaschinen, Materialien und Textilien. Über eine improvisierte Internetseite sammelt sie zusätzlich Spenden und nur wenige Wochen später steht ihr Projekt “The Empowerment Plan”: Sie stellt obdachlose Frauen ein, die ihren Mantel nähen und damit gleichzeitig als Näherinnen ausgebildet werden.
Einsatz für Obdachlose statt eines schicken Lebens in New York
Ihre erste Mitarbeiterin war Alisha. In einem Obdachlosenheim sah sie Veronikas Aushang mit dem Jobangebot, bewarb sich und bekam die Stelle.
Alisha: "Ich danke Gott, dass Veronika mir diese Chance gegeben hat, dass sie ein Herz hat. Dass sie erst Anfang 20 ist, spielt für mich überhaupt keine Rolle. Ein Job ist alles, was ich wollte und ich bin unendlich dankbar.“
Mit ihrem ersten Lohn konnte Alisha endlich eine eigene Wohnung finden und sich wieder um ihre zwei Söhne kümmern. Diese Erfolgsgeschichten sind es, die Veronika Scott antreiben. Bei den Vorstellungsgesprächen gibt sie jeder Bewerberin eine Chance, mittlerweile hat sie auch vorbestrafte Frauen angestellt.
Veronika Scott: "Während der Bewerbungsverfahren gibt es wirklich erstaunliche Momente. Eine Frau fing einmal am Telefon an zu weinen, nur weil ich sie zurückgerufen hatte. Es ging noch nicht mal um eine Jobzusage, ich wollte einfach nur einen Termin mit ihr ausmachen. Und sie fing an zu weinen, weil sie seit langer Zeit endlich wieder eine Chance auf ein Vorstellungsgespräch bekommen hatte.“
Bis zu 25 Mäntel nähen die Frauen in der Woche. Der “Empowerment Plan” ist komplett über Spenden finanziert – und daher spendet Veronika wiederum die Mäntel an Hilfsorganisationen in ganz USA, die diese dann an Hilfsbedürftige verteilen. Nie hätte Veronika gedacht, dass ihre Karriere sie in die Wohltätigkeit führen würde. Noch vor wenigen Jahren hatte sie von einem schicken Leben in New York City geträumt, mit einer gut bezahlten Stelle als Produktdesignerin. Ihr Talent, ihre Energie und ihr Wille haben sie in eine ganz andere Richtung getrieben.
Veronika Scott: "Ich bin eine ganz andere Person geworden. Nie hätte ich mir ausgemalt, dass ich eine eigene Organisation auf die Beine stellen würde. Besonders nicht als Kunststudentin – ich hatte gar nicht gedacht, dass ich so was überhaupt kann. Aber durch den 'Empowerment Plan' habe ich gelernt, dass es tausende von verschiedenen Möglichkeiten gibt, kreativ zu sein.“
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