Armut und Gesundheit

Wenn Krebs zum finanziellen Risiko wird

Eine Person mit Glatze aufgrund einer Chemotherapie guckt von der Kamera weg. Der Hintergrund ist hell gehalten.
Eine schwere Erkrankung wie Krebs kann bei Menschen mit niedrigem Einkommen schnell zu Überschuldung führen. © Getty Images / FatCamera
Menschen, die schwer erkranken, haben meist Verdienstausfälle und Mehrkosten. Immer mehr Menschen in Deutschland enden dadurch in der Überschuldung. Die Aufklärungs- und Unterstützungsmaßnahmen reichen nicht aus.
Während der Fokus von Public Health in der Vergangenheit auf Themen wie Hygiene und gesundheitsschädlichem Verhalten wie Rauchen oder Alkoholismus lag, befassen sich Forschende heute zunehmend mit dem Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit.
Besonders bei schwerwiegenden Erkrankungen wie Krebs zeigt sich: Wer arm ist, hat stärker unter der Krankheit und ihren Folgen zu leiden.

Worin besteht der Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit?

Ein niedriger sozioökonomischer Status stellt einen Risikofaktor für schwere Erkrankungen dar und hat Auswirkungen auf die Sterblichkeit. Jens Hoebel, Sozialepidemiologe am Robert Koch-Institut, hat im Hinblick darauf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ausgewertet. Dabei werden seit 1984 regelmäßig dieselben Menschen in etwa 15.000 Haushalten zu Einkommen, Bildung und Zufriedenheit befragt.
Das Ergebnis: 13 Prozent der Frauen und 27 Prozent der Männer, die über ein niedriges Einkommen verfügen (also weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben), sterben mit unter 65 Jahren. Unter Personen mit hohem Einkommen sind es nur etwa acht Prozent der Frauen und 14 Prozent der Männer. Das bedeutet: Männer mit niedrigem Einkommen leben im Durchschnitt etwa achteinhalb Jahre kürzer als Männer mit hohen Einkommen, bei Frauen liegt dieser Unterschied bei etwa viereinhalb Jahren.

Was sind die Ursachen dafür?

Mehrere Studien haben gezeigt, dass Armut zu einem höheren Krebsrisiko führt und umgekehrt eine Krebserkrankung in die Armut führen kann. Anders als früher angenommen, stellt eine Krebserkrankung „auch in unseren westeuropäischen, hochentwickelten Sozialsystemen ein soziales und ökonomisches Risiko für die Patienten dar“, sagt Gesundheitsökonom Michael Schlander.
Welche Auswirkungen eine schwere Erkrankung wie Krebs auf das gesamte Leben der Betroffenen Auswirkungen hat, darauf gebe es allerdings keine einfachen Antworten. Neben dem sozioökonomischen Status spielen dabei auch der Beschäftigungsstatus, das Gesundheitsverhalten, die Häufigkeit von Risikofaktoren wie Rauchen oder Bewegungsmangel, bestimmte Ernährungsgewohnheiten und medizinische Sachverhalte wie Adipositas eine Rolle. Dazu kommen Umweltbelastungen am Wohnort, krankmachende Stoffe am Arbeitsplatz, chronischer Stress im Beruf oder finanzielle Sorgen im Alltag, so Jens Hoebel.

Mit welchen finanziellen Folgen haben Krebspatienten zu kämpfen?

Wer als Angestellter eine Krebsdiagnose bekommt und über mehrere Monate oder Jahre behandelt werden muss, bekommt vom Arbeitgeber noch sechs Wochen lang das volle Gehalt bezahlt und erhält danach maximal 78 Wochen lang Krankengeld. Das Krankengeld beträgt 70 Prozent des Bruttoeinkommens. Danach folgt Arbeitslosengeld und schließlich die Erwerbsminderungsrente, die weniger als die Hälfte des ursprünglichen Einkommens darstellt. Das sind erhebliche Einkommensverluste, die einkommensschwache Menschen nicht ausgleichen können.
Rund 80 Prozent der Krebspatientinnen und -patienten sind auch noch durch Zuzahlungen für Medikamente und Mehrkosten durch den krankheitsbedingten Ausfall betroffen. Diese bedeuten im Durchschnitt mehrere hundert Euro monatlich für Zuzahlungen und weitere ca. 700 Euro monatlich für Mehrausgaben (Fahrten, Ernährungsumstellung und weiteres.)

Was bedeutet „finanzielle Toxizität“?

In den USA sind viele Menschen entweder gar nicht oder unvollständig krankenversichert. Zuzahlungen für teure Krebsmedikamente können sie sich nicht leisten oder sie bekommen sie nicht erstattet. Die Folgen können so weitreichend sein, dass chronisch Erkrankte und ihre Familien in die Privatinsolvenz rutschen – eine Schuldenfalle, die mehrere Generationen betreffen kann. In den USA gibt es dafür den Begriff der financial toxicity oder „finanzielle Toxizität“.
Auch hierzulande kann eine Krebserkrankung mittlerweile die finanzielle Sicherheit der Betroffenen bedrohen. Die OECI, die Organisation der europäischen Krebsforschungszentren, verwendet dafür allerdings den Begriff socioeconomic impact oder „sozioökonomische Konsequenzen“. Dieser Begriff umfasst alle Auswirkungen, die eine Erkrankung auf die Patienten hat. Denn auch die subjektive Belastung durch finanzielle Sorgen zählt heute als relevanter Faktor. Die Angst vor einer finanziellen Schieflage schränkt die Lebensqualität ein. Auch dies ist quasi eine Nebenwirkung einer Krebserkrankung.

Warum hat sich die Situation verschärft?

Schon im Rahmen einer Studie aus dem Jahr 2019 hat das Robert Koch-Institut festgestellt: Die Schere zwischen der Altersarmut einkommensschwacher Menschen und dem wachsenden Wohlstand einkommensstarker Menschen im Alter wird größer, und die Strukturen haben sich verfestigt. Die soziale Mobilität nach oben, also die Aufstiegsmöglichkeiten, nehmen angesichts von galoppierender Inflation und steigenden Preisen immer weiter ab.
Zu den gefährdeten Gruppen gehören heute neben den klassischen Geringverdienern auch junge Selbständige, Teilzeitarbeitende, Alleinstehende und Alleinerziehende. Kleinselbständige, die selber nicht mit entsprechenden Versicherungen vorgesorgt haben, können im Falle einer schweren Erkrankung schon nach sechs Wochen ganz ohne Unterstützung dastehen. Laut der Heidelberger Medizinethikerin Eva Winkler ist der Beratungsbedarf beim Sozialdienst in Kommunen und Krankenhäusern stark angestiegen.

Welche Lösungsansätze gibt es?

Eva Winkler plädiert für den Ausbau von Krebsberatungsstellen und den Sozialen Diensten. Selektives Screening und rechtzeitiges Beraten seien immer notwendiger. Da Krebs inzwischen eine chronische Erkrankung ist, mit der viele Menschen 30 Jahre und mehr leben, rückt die soziale Teilhabe mit flexiblen Arbeitsmodellen immer mehr in den Mittelpunkt. Statt „alles oder nichts“ wären laut Winkler Modelle wie Teilzeitarbeit und ein Wiedereinstieg ins Berufsleben die richtige Wahl.
Das Krankentagegeld müsste so lang gezahlt werden, wie die Akutbehandlung dauert und nicht schon nach 78 Wochen enden, fordert Winkler. Dies sei besonders wichtig angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten, die vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen treffen.

Was heißt "Health in all policies"?

Laut dem Sozialepidemiologen Jens Hoebel, erreichen Maßnahmen, bei denen es um gesunde Ernährung, mehr Bewegung oder Aufklärung zu Gesundheitsthemen geht, sozial benachteiligte Gruppen weniger. Dieses „Präventionsdilemma“, von dem in der Forschung gesprochen wird, könne die Ungleichheit verfestigen oder gar verstärken.
Hoebel plädiert deshalb dafür, dort anzusetzen, wo die Menschen leben und arbeiten: „Also zum Beispiel stadtplanerisch Grün- und Erholungsflächen vermehrt auch in sozial benachteiligten Stadtquartieren zu schaffen oder gesundes Essen in Kitas und Schulen bereitzustellen, auch Arbeitsschutzmaßnahmen, die vor krankmachenden Einflüssen schützen, sowohl körperlich als auch psychisch gesehen.“
Die Weltgesundheitsorganisation WHO verfolgt seit Jahren das Ziel, „die gesunde Wahl für alle Bevölkerungsgruppen zur einfachen Wahl zu machen“. Gesundheit wird nicht allein von Gesundheitsaufklärung oder medizinischer Versorgung geprägt, sondern auch durch die Umstände, in denen wir aufwachsen, lernen, arbeiten und alt werden. Die Weltgesundheitsorganisation nennt das Health in all policies (HiAP). Das heißt, alle Lebens- und Arbeitsverhältnisse so zu gestalten, dass eine Teilhabe für alle und damit auch eine Chancengleichheit bei der Gesundheit ermöglicht wird. Das zu garantieren sei die Aufgabe aller Politikbereiche, so Hoebel.

Mehr zum Thema Armut