Armut, Tristesse und Seelenkälte

Zu den wichtigsten Exportgütern der ehemals sozialistischen Länder im Osten Europas zählen junge Frauen. In Julya Rabinowichs drittem Roman begibt sich die Erzählerin Diana immer wieder für Wochen auf den Strich in Westeuropa. Der Buchtitel "Die Erdfresserin" verrät, dass es ihr dabei nicht gut ergeht.
Kalt ist das große Haus, in dem Diana mit Schwester und Mutter aufwächst. Kälte herrscht auch zwischen den Frauen, die sich nach dem vor Langem ohne Gründe verschwundenen Vater sehnen. Die Mutter wäscht täglich die Schwelle des Hauses für ihn. Sie versetzt Schmuck für Toilettenpapier und hofft, Diana möge Geld verdienen. Doch die Regisseurin findet am Theater keine Arbeit, und so reist sie mit einer Freundin, der Schauspielerin Nastja, regelmäßig in den Westen. Dianas Schwester wirft ihr das "Herumhuren" vor und ist zugleich auf das Geld angewiesen – für sich selbst, die Mutter und Dianas behinderten Sohn, der teure Medikamente benötigt.

Anfangs schildert Rabinowich, 1970 in Leningrad geboren und seit 1977 in Wien lebend, überzeugend Armut, Tristesse und Konflikte zwischen den drei Frauen. Moralische Einwände gegen die Prostitution hat Diana nicht. Dass sie sich verkauft, sieht sie als Beweis ihrer Kraft und Selbstständigkeit: Schließlich prostituiere sich das ganze Land "auf mannigfaltige und höchst legale Art und Weise".

Sexuelle Erlebnisse erzählt Rabinowich nicht. Diana geht vielmehr bald eine Affäre mit einem schwergewichtigen, einsamen Wiener Polizisten ein. Dem Abergläubischen lässt sie durch ihre als Wahrsagerin verkleidete Freundin Nastja soufflieren, was das Leben angenehm macht. Ein halbes Jahr lang herrschen geregelte, beinahe bürgerliche Verhältnisse, bis Leo erkrankt und stirbt. Diana verzweifelt und beginnt, Erde zu fressen.

Im zweiten Romanteil "Danach" erzählt Diana als Insassin eines Wiener Spitals von ihren Gesprächen mit einem Psychologen. Es sind, so zeigt sich jetzt, seine Fragen und Erkundigungen, die zusammen mit ersten knappen Antworten Dianas in kursiver Schrift über den Kapiteln des ersten Romanteils "Davor" stehen. (Das erinnert an andere Immigrantenromane der jüngsten Zeit, etwa von Irena Bržena und Michail Schischkin.) Diana genießt die Aufmerksamkeit und den Schutz vor der Abschiebung, bis sie die Nachricht erreicht, ihr Sohn sei in ein staatliches Pflegeheim gekommen, also in Gefahr. Sie flieht aus dem Spital, verirrt sich aber, frisst Erde und verfällt dem Wahnsinn.

An Dramatik fehlt es dem Buch ebenso wenig wie an starken, intensiven Szenen. Doch die Erzählerin bleibt blass. Dianas Theatererfahrung ist eine unglaubwürdige Behauptung, und charakterisiert wird die Heldin allein durch die Sehnsucht nach dem Vater sowie die Verachtung für alle anderen, schwach wirkenden Männer. Einen übermenschlich starken erzeugt Diana am Ende aus Erde: den Golem aus einem Buch ihres Vaters. Die jüdische Sagengestalt wird jedoch wieder zu Staub, und mit ihr büßt Dianas Schicksal Überzeugungskraft ein. Sie verliert nämlich ein wenig zu viel und zu Bedeutendes: den Vater, die Heimat, die Verbindung zur Erde, die Schöpfungskraft, das männliche Gegenüber. Von der "Erdfresserin" bleiben nur die auch sprachlich gelungenen Anfangsszenen haften.

Besprochen von Jörg Plath

Julya Rabinowich: "Die Erdfresserin"
Roman
Zsolnay Verlag, Wien 2012,
240 Seiten, 17,90 Euro
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