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Philosoph über Armut und Würde
Flüchtiger Kontakt: Wer an den Rand gerät, an dem gleiten die meisten Blicke vorüber. © Unsplash / Tom Parsons
"Das Leid eines Mitmenschen darf mich nicht unberührt lassen"
25:53 Minuten
Armut ist nicht nur eine Frage des nackten Überlebens. Auch ein Mangel an sozialer oder kultureller Teilhabe mache Menschen arm, sagt der Philosoph Holger Zaborowski. Mehr noch: Ihr Ausschluss gefährde die Demokratie.
Was ein gutes Leben vom bloßen Überleben unterscheidet, diese Frage hat schon Aristoteles beschäftigt. Aber was Armut ausmacht und wie sie sich auswirkt auf das Leben einzelner Menschen und auf die Entwicklung einer Gesellschaft, das war für Philosophinnen und Philosophen lange Zeit kaum ein Thema. Im Grunde bestätige dieser blinde Fleck seines Fachs, dass wir auch im Alltag bis heute oft "keinen Blick haben für die Menschen, die am Rande stehen", sagt Holger Zaborowski, Professor für Philosophie an der Universität Erfurt.
Kaum ein Gedanke an die Gründe für Armut
Eine mögliche Ursache dafür, dass Armut von der Philosophie so wenig bedacht wurde, sieht Zaborowski darin, dass auch die Leiblichkeit des Menschen in der europäischen Denktradition keine große Rolle gespielt habe: "Wir haben über den Leib wenig nachgedacht, der von materieller Armut ja auch ganz stark getroffen sein kann."
Außerdem hätten viele Philosophinnen und Philosophen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung wohl selbst keine prägenden Erfahrungen mit Armut gemacht, sagt Zaborowski. "Daher brauchen wir immer wieder Ermahnungen, uns mit Menschen, die arm sind, und mit den Gründen für Armut auseinanderzusetzen und zu überlegen, wie man Armut beseitigen kann."
Aber was genau verstehen wir eigentlich unter Armut? Wenn Menschen das Nötigste zum nackten Überleben fehlt, handele es sich um "absolute Armut", so Zaborowski. Doch davon seien verschiedene Formen relativer Armut zu unterscheiden, die für die Betroffenen und für die Gemeinschaft ebenfalls gravierende Folgen haben.
Ausgeschlossen von gesellschaftlicher Teilhabe
Von seiner Wortgeschichte her bedeute "arm" ursprünglich: einsam, isoliert, verwaist. Das deute darauf hin, dass Menschen auch dann einen eklatanten Mangel erleiden, wenn sie keine Möglichkeit haben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Auch wenn Menschen vom Zugang zu Bildung abgeschnitten seien und ihre Potenziale dementsprechend nicht enfalten könnten, seien sie von einer spezifischen Form von Armut betroffen, betont Zaborowski.
Zur Würde des Menschen gehört es, sich an sozialen und kulturellen Fragen beteiligen zu können.
Die Philosophie begreift den Mangel seit Langem als eine menschliche Konstante – und als einen Ansporn, sich um Glück, Erfolg, Verbesserung zu bemühen. "Es ist konstitutiv für den Menschen, dass er als unvollkommenes Wesen zu Vollkommenheit strebt", sagt Zaborowski. Von dieser "Grundspannung" habe schon die Philosophie der Antike unser Leben bestimmt gesehen.
Individuelles Streben nach Macht und Wohlstand
All das sollte uns jedoch nicht vergessen lassen, dass Armut Menschen auch lähmen und ohnmächtig machen könne. In der heutigen Leistungsgesellschaft stehe "das individuelle Streben nach Macht oder Wohlstand sehr stark im Vordergrund", so Zaborowski. Gerade die politische Philosophie sei daher aufgerufen, an Traditionen anzuknüpfen, die demgegenüber die Gesellschaft als Ganze im Blick haben.
"Wir brauchen heute eine neue Hinwendung zum Gedanken des Gemeinwohls".
Das sei auch deshalb geboten, weil es "zu sozialen Spannungen, zu großen Ungerechtigkeiten, zur Entwicklung von Parallelgesellschaften" komme, wenn ein großer Teil der Gesellschaft an der politischen Entscheidungsfindung gar nicht mehr teilnehme. "Eine funktionierende Demokratie kann es nicht zulassen, dass Menschen aus dem gesellschaftlich-politischen Geschehen herausgedrängt werden", sagt Zaborowski. Die Demokratie habe deshalb "ein essenzielles Interesse daran, dass Armut beseitigt wird."
Steiniger Weg zu mehr Gerechtigkeit
Letzlich sei das eine Frage der Menschenwürde. "Wir sind als Menschen soziale, politische Wesen, und das Leid eines Mitmenschen darf mich nicht unberührt lassen. Das ist eine Grundhaltung, die uns kennzeichnen sollte", so der Philosoph. Seit einigen Jahren sei bereits zu beobachten, dass Armut in unserer Gesellschaft vererbt werde und dass es für die Betroffenen kaum möglich sei, sie aus eigener Kraft zu überwinden.
Die Coronapandemie habe diese Entwicklung eher noch verschärft. "Auf der einen Seite stellen wir fest, dass arme Menschen noch ärmer geworden sind, und jüngst konnten wir in der Zeitung lesen, dass die sehr reichen Menschen in der Pandemie noch reicher geworden sind." Gerade der Blick auf die wachsende Armut zeige, dass auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft noch viele ganz konkrete Aufgaben zu bewältigen sind – vom Zugang zu Bildung über mehr Lohngerechtigkeit bis zu der Frage, wen das Steuersystem zu Gewinnern und wen zu Verlierern macht.
(fka)