Frau Lonn wird arm
Renate Lonn aus Hagen-Wehringhausen wird im Alter arm sein. Das weiß sie jetzt schon, mit Mitte 50. Ihr Rentenanspruch ist minimal, denn sie hat sieben Jahre lang ihre demente Mutter gepflegt, rund um die Uhr. Die ist nun mit 92 Jahren gestorben und Renate Lonn muss ihr Leben neu ordnen.
Die Sonne scheint auf den winzigen Balkon im vierten Stock. Renate Lonn muss schnell aus dem Haus, zum Friedhof. Aber sie tritt noch eben nach draußen und kümmert sich um die Blumen. Mit einer winzigen Gießkanne verteilt sie Wasser in den Balkonkästen. Sie hat noch was vor mit den fleißigen Lieschen und dem Männertreu.
"Oben auf dem Friedhof, wenn da der Erdhügel drauf ist, habe ich alle Freiheiten zu gestalten. Ich werde jetzt diese Balkonpflanzen Stückchen für Stückchen da rauf tragen. Es waren ja Mutters Blumen, die habe ich für sie gekauft."
Vor wenigen Tagen ist die Mutter gestorben. Es ist ungewohnt und traurig, dass sie plötzlich nicht mehr da ist. Viele Jahre lang hat die 92-jährige Dame von ihrem Pflegebett im Wohnzimmer aus auf diese Blumen, auf diesen Balkon geschaut. Ob sie sie noch wahrgenommen hat? Renate Lonn weiß es nicht genau; dabei hat sie sie am besten gekannt. Sie hat ihre Mutter gepflegt, betreut, beschäftigt, rund um die Uhr.
"Wir haben uns gestritten, miteinander gelacht, dass sie flott bleibt im Kopf, da habe ich sie gefordert. Mutter war ja fronto-temporal dementiell erkrankt im letzten Stadium und das sind jetzt sieben Jahre – und Fremde konnten sich mit ihr gar nicht so unterhalten, da hab ich immer ein bisschen den Mediator gemacht. Weil ich ja wusste, wo ich sie locken kann oder auch nicht. Und dann auch ihr Charakter, dann hatte sie ja auch einfach keine Lust!"
Elise und Renate Lonn, Mutter und Tochter. Sie waren immer zusammen in den letzten sieben Jahre. Und manchmal war es schwer. Besonders für Renate.
Renate Lonn muss gehen. Sie lässt den Anrufbeantworter anspringen. Da ist noch der alte Spruch darauf; der mit ihrer Mutter.
In vier Tagen ist die Beerdigung. Sie kennt bereits den Friedhof, nun will sie eine Grabstelle aussuchen.
Renate Lonn: Mitte fünfzig, mittelgroß, mit hennagefärbtem Pilzkopf. Im dritten Stock zaudert sie kurz; sie will das Fenster im Hausflur schließen; das zieht bis oben in die Wohnung. Aber dann läuft sie weiter; das Fenster kann offen bleiben; oben liegt ja die Mutter nicht mehr, die sich erkälten könnte.
Elise Lonn hatte drei Kinder, war geschieden und lange krank. Sie bekommt Gebärmutterhalskrebs, als ihre Tochter Renate das erste Studium zur Dolmetscherin fast abschließt. Renate Lonn schmeißt die Uni und wird Sekretärin in Hagen, in der Nähe der Mutter.
Dann stirbt einer der beiden Söhne, ihr Lieblingssohn. Elise Lonn erkrankt körperlich und seelisch. Sie stürzt ständig, verletzt sich die Wirbelsäule, bekommt Krampfanfälle. Die Demenz wird immer schlimmer. Der zweite Sohn zieht sich immer mehr zurück, die Tochter rückt näher. Renate Lonn ist mittlerweile wieder Studentin und gibt auch ihr zweites Studium auf, Italienisch und Kunstgeschichte. Stattdessen zieht sie zu ihrer Mutter.
Renate ist jetzt unten im Keller und rumort. Sie zerrt die große Mülltonne hervor und schleppt sie die Treppen rauf. Es ist Montag, Müllabfuhrtag; zum ersten Mal ist die Tonne ganz leicht. Sonst war sie immer proppenvoll – der Pflegeabfall.
"Ich hatte ja immer die Unterlagen, diese Einmal-Unterlagen, die man immer hat; Pampers haben wir gar nicht mehr benutzt, weil das immer so Schwierigkeiten in den Leisten gegeben hat, und hier diese Wischtücher, Zewa-Wisch&Weg; Kleenexrollen; ach, da sammelt sich viel an."
Renate Lonn tritt aus dem schmucklosen, rot verklinkerten Mehrfamilienhaus aus den 60er-Jahren auf die Straße. Eine Bahnlinie führt direkt vorbei. Es ist laut. Alle paar Minuten zischt hier ein Zug oder eine S-Bahn vorbei. Wer kann, zieht weg. Aber Elise Lonn wohnte seit den 60er-Jahren hier. Sie wollte in ihrer Wohnung bleiben. Also zog Tochter Renate mit ein, um Wege und um Geld zu sparen. Die Pflege wurde immer aufwändiger, ein Fulltime-Job. An Arbeiten und Geld verdienen war nicht zu denken. Auch nicht an Studieren.
Auf dem Stadtfriedhof weht ein frischer Wind. Frau Lonn ist mit dem Friedhofsgärtner unterwegs, den Platz aussuchen, wo die Mutter liegen soll. Er ist diensteifrig, spricht übers Rasenmähen und über Mähkanten.
Renate Lonn blickt gedankenversunken auf die anscheinend so wichtigen Mähkanten. Im Geiste hält sie immer noch die sterbende Mutter in ihren Armen.
"Ich pflege Mutter seit sieben Jahren, ich pflege sie rund um die Uhr im Drei-, Vier-Schichten-Dienst, ich kann das gar keinem erklären, wenn du einen Menschen so intensiv pflegst – 92 und dann diese ganzen Krankheitsbilder und – ins Altenheim wollte sie nicht - und da habe ich mich durchgekämpft und ich bin froh, dass wir‘s zu Ende gekriegt habe."
Sie sucht nach einem Taschentuch. Renate Lonn ist nicht der Typ Frau, der weint oder viele Gefühle zeigt; sie versteckt sich hinter ihrem forschen Auftreten. Sie trägt praktische Halbschuhe, schwarze Männerhosen und einen beigefarbenen Trenchcoat, der bestimmt zehn, fünfzehn Jahre alt ist. Mode war nicht so wichtig die ganzen Jahre; Geld hatte sie sowieso keins. Wer über viele Jahre pflegt, wird arm; das wissen alle, die sich mit pflegenden Angehörigen beschäftigen. Es gibt Forschungsprojekte dazu, der Zustand wird in Talkshows angeprangert. Aber arm ist Frau Lonn trotzdem geworden.
Der Friedhofsgärtner wendet sich einem anderen wichtigen Thema zu: Gräber sacken ab, müssen aufgefüllt werden. Und das kostet irgendwann extra. Wissen die meisten nicht.
"Das machen wir grundsätzlich ein, zwei Mal kostenfrei."
"Wie oft müssen Sie´s machen?"
"Es wird im Laufe der Zeit sicherlich so alle drei vier Jahre gemacht werden müssen."
Die Folgekosten. Frau Lonn hat im Moment keinen Kopf dafür. Die Beerdigung der Mutter aber beschäftigt sie schon seit Jahren.
"Ich habe nur gewusst – Mutter muss würdig begraben werden. Ich muss jetzt einen Schritt nach dem anderen machen. Da guckste dir dann die Preise an, dann weißte nicht, was noch alles dazu kommt und dann kommt da dieses Gespräch beim Bestatter und ganz am Schluss die Addition. Dann denkste: Jo."
Renate hat seit Jahren kein Einkommen mehr, Elise nichts Erspartes. Einäschern wäre billiger, so ein gut gemeinter Ratschlag. Renate schüttelt den Kopf.
"Wenn meine Mutter nicht verbrannt werden wollte, wenn sie ihre Vorstellungen hatte: Sargträger, feierlich, die weißen Handschuhe, dann muss sie das haben. Das kriegt sie jetzt."
Noch einmal schnieft sie: Seit gestern weiß sie, dass ihr Bruder die Beerdigungskosten zahlt, 6500 Euro. Vielleicht eine Art Wiedergutmachung. Er hat sich ewig nicht um die Mutter und die Schwester gekümmert.
Renate Lonn geht jetzt zu einer sonnigen, offenen Stelle des Friedhofs; ringsum wachsen kleine Ahornbäume mit kreisrund geschnittenen Kronen. Sie hat sich entschieden: Hier soll die Mutter ihr Grab bekommen, mit Nachbarn links und rechts und am Kopfende; damit keiner achtlos über das Grab hinweg trampelt. Hier will sie die fleißigen Lieschen und das Männertreu vom Balkon einpflanzen. Ansonsten viel Wiese, es soll pflegeleicht sein. Das ist eine Vernunftentscheidung. Denn Renate Lonn muss sich demnächst um sich selbst kümmern.
Hagen-Wehringhausen ist ein bunter Stadtteil mit farbig gestrichenen Altbauten und kleinen Geschäften links und rechts an einer langen Straße. Frau Lonns Revier. Ein bis zwei Stunden am Tag hat sie die Mutter immer allein lassen können, um Besorgungen zu machen, um das Essen im Altenheim für sie abzuholen und um ein kleines bisschen zu plaudern.
Renate Lonn ist auf Stippvisite bei einer Freundin. Der einzigen, die ihr noch geblieben ist. Wer pflegt, ist ständig auf Abruf, wartet auf Pflegedienste, Ärzte, Therapeuten; wer pflegt, hat keine Zeit für eigene Verabredungen. Aber Brigitte Bohr hat den Kontakt zu Renate nicht abgebrochen. Sie führt einen kleinen Second-Hand-Laden in Wehringhausen. Jetzt sitzen die beiden in dem winzigen Hinterzimmer, das bis oben hin vollgestopft ist mit noch nicht gebügelten Pullovern, T-Shirts und Sommerröcken. Sie nippen an ihren kochend-heißen Instant-Kaffees und die Freundin reicht ein paar Zeitungsschnipsel herüber.
"Hier, hab schon mal angekreuzt. Ein paar Wohnungen."
"Siehste, das ist Brigitte, das ist mir schon fast zu schnell, da hyperventiliere ich dann schon halb, weil das so aufregend ist, aber der Vorteil ist, sie hört dann auch auf."
Sie sprechen schon lange über das heikle Thema: Was wird nach der Pflege? Ausruhen, umziehen oder auch endlich nach Italien auswandern, wo sie mal studiert hat; das wär doch was, meint Renate. Aber Brigitte ist pragmatisch. Der Gang zum Sozialamt; Hartz 4 anmelden – das ist der nächste Schritt.
"Ich kann doch jetzt nicht auf ein Amt gehen und mir also - da sitzen Leute rum, oh! Ich weiß es gibt auch andere, aber wo sind die? Sag mir mal einer, wo da jetzt einer ist, der eine Situation wie meine richtig checken kann. Ich könnte diese Nachfragen, diese stereotypen Nachfragen, die da jetzt kämen, das könnte ich jetzt gar nicht ertragen. Ich kann auch überhaupt nicht denken."
Erst einmal steht die Beerdigung an; die muss sie schaffen. Danach darf ihr die Freundin wieder zusetzen.
Seit einigen Jahren gibt es in den Städten und Gemeinden Pflegeberatungsstellen. Sie bieten flächendeckende Vernetzung und Information für pflegende Angehörige. Aber das Leben nach der Pflege ist in den Köpfen noch nicht angekommen. Es gibt weder einen Erholungs- noch einen Sozialfonds für langjährige Pflegende wie Frau Lonn.
Ein paar Tage später. Mutter ist gut und würdig beerdigt. Es waren sogar ein paar Gäste da und der Lieblingsenkel. Renate Lonn hat es geschafft, ein Riesenschritt - und ist bereits wieder in Aktion.
Heute ist Abholtag für die Pflegemöbel. Frau Lonn führt den ersten Abholer ins Pflegezimmer. Fein säuberlich hat sie hier alle Sachen aufgereiht, die sie im Laufe der Zeit für ihre Mutter beantragt und zum Teil erstritten hat. Ein Rollator, zwei Rollstühle, zwei Toilettenstühle; ein Hebelifter für die Badewanne, diverse Sitzkissen. Der Mann macht sich daran, das Bett abzubauen. Er muss sich durch den Fuhrpark kämpfen, die Bude steht voll. Frau Lonn dürfte hier wenig Platz gehabt haben all die Jahre. Mutter war wichtig, sonst nichts.
Es lichtet sich. Der Mann trägt die ersten Teile des Betts nach draußen. Die Krankenkasse will es schon bald dem nächsten Pflegefall in die Wohnung stellen. Mindestens 1,7 Millionen Menschen pflegen zuhause einen Angehörigen, alle brauchen Pflegemöbel. Und ambulantes Personal von den Pflegediensten. So wie Ralf Novy.
"Das hab ich auch doppelt – das hier? Nehme ich auch gerne ... usw."
Der hat wohl zum letzten Mal für Renate zwei Kisten Mineralwasser in den vierten Stock hochgeschleppt. Der wohlbeleibte, sympathische Mann gehört fast zur Familie, er steht Frau Lonn seit zweieinhalb Jahren zur Seite.
"Das war schon herausragend, ein Paradebeispiel für häusliche Pflege – das kann man schon so sagen. Ich habe das ja häufiger in meiner Pflege, da ist die Frau Lonn schon was Besonderes."
"Schön, dass das mal einer sagt."
Renate Lonn hat vier Pflegedienste ausprobiert; mit Ralf Novy ist sie vollauf zufrieden. Er leitet einen mobilen Pflegedienst mit 25 Festangestellten in Dortmund. Bei Mutter und Tochter Lonn hat er sich manchmal ein bisschen mehr Zeit gelassen. Er kam zweimal die Woche nach Hagen und hat erledigt, was gerade anfiel; manchmal die große Morgentoilette, aber manchmal hatte Renate das schon erledigt und er hat der alten Dame nur vorgelesen. Als professioneller Dienstleister bekommt Novy seine Arbeit bezahlt. Frau Lonn dagegen hat für ihre Rund-um-die-Uhr Betreuung gerade mal 300 Euro aus der Pflegeversicherung bekommen. Im Monat. "Finanzielle Anerkennung", heißt das im Gesetz.
Jetzt packt Renate Lonn weiter Windeln, Vorlagen und Pflegehandschuhe in einen großen Plastiksack. Alles original verpackt; zwei ganze Regale waren jahrelang im Kleiderschrank mit Pflegeutensilien blockiert. Novy soll die Sachen mitnehmen und an Kunden verteilen, die es nötig haben.
"Da kostet ein Beutel 21 Euro; da sind 30 Stück drin. Nur eine am Tag haut nicht hin, du machst bestimmt zwei, drei am Tag. Von der Krankenkasse gibt’s dafür 30 Euro pro Monat. Da kommst du in private Kosten, deshalb ist mir das auch wichtig, dass das jemand kriegt."
Die Mutter hatte zum Schluss Pflegestufe drei, die höchste. 1550 Euro an Pflegesachleistungen übernimmt die Kasse im Monat, für Demenz gibt es seit Kurzem einen Sonderzuschlag. Aber, so Pflegedienstleiter Novy, das reicht definitiv nicht, um morgens und abends jemanden kommen zu lassen.
"Also die Pflegekosten, die anfallenden, können von den Pflegesachleistungen nicht gedeckt werden. In der Regel nicht, das ist immer eine Zuzahlung von privat."
"Und wenn ich doch nur an diese ganzen Mittel denke, die nicht verschrieben werden, Tees, homöopathische Salben, was du alles brauchst, Vitaminspritzen, die du zwischendurch mal gibst – da hab ich mal gerechnet, 150 Euro pro Monat - ist noch knapp gerechnet."
Novy ist weg, für immer. Frau Lonn läuft den langen, schmalen Flur zurück ins Pflegezimmer. Jetzt, wo Platz ist, sieht man, dass die Wohnung herunter gewohnt ist. Dazu der Krach von draußen; sie will hier weg, sie muss hier weg, ein neues Leben beginnen. Aber mit welchem Geld? Sie stopft ihren uralten Laptop in eine Aktentasche. Sie hat sich für heute Mittag noch den Gang zum Jobcenter vorgenommen. Hartz IV anmelden.
Frau Lonn ist leichenblass und hat Schweißperlen auf der Stirn. Die Frau, die als Spartenleitungssekretärin in einem führenden Hagener Unternehmen zwölfeinhalb Jahre gearbeitet hat; die zwei Studien eigenständig finanziert und die sich seit Jahren in den Dienst ihrer Mutter gestellt hat, muss jetzt um Hilfe vom Staat anstehen. Dieser Gang fällt Renate, die doch eigentlich eine "Macherin" ist, unendlich schwer. Sie meldet sich im dritten Stock am Empfangstresen.
"Ich bin heute zum ersten Mal hier. Ich muss Hartz vier anmelden."
Die junge Frau aus dem Jobcenter nimmt ihre Daten auf.
"Weswegen sind Sie heute hier?"
"Ich muss Hartz vier anmelden."
"Was haben Sie gemacht, Sie haben ja von irgendwas gelebt."
"Gelebt ist gut; ich hab sieben Jahre lang meine Mutter gepflegt."
"Und die ist jetzt gestorben, oder? Ok, wir müssen ihren Lebenslauf aufnehmen, das ist nur wichtig für uns, weil wir natürlich versuchen, Sie so schnell wie möglich in Arbeit zu bringen, dass Sie gar nicht erst auf uns angewiesen sein müssen."
Frau Lonn verzieht das Gesicht. Sie ist überfordert von den Fragen und bricht zweimal in Tränen aus. Ein gesondertes Verfahren für Menschen aus der Pflege, die Hochleistungen erbracht haben und sich von heute auf morgen neu orientieren müssen, das gibt es nicht.
"Im Endeffekt wird sie hier behandelt wie jeder andere auch; da gibt‘s jetzt nicht andere Sätze oder andere Regeln. Sie wird genauso in die Vermittlung mit eingeschleust, muss die gleichen Nachweise bringen, ob sie wirklich Leistungen beziehen kann, ob sie wirklich hilfebedürftig ist - da wird kein Unterschied gemacht."
Dabei hat der Staat an ihr viel Geld gespart. Wäre die Mutter ins Heim gekommen, hätte das Sozialamt mehrere tausend Euro im Monat bezahlen müssen. Am Ende weiß sie, dass sie immerhin noch eine Zeitlang in der großen Wohnung bleiben kann. Die eigentlich für eine Hartz-IV-Empfängerin zu groß und viel zu teuer ist. In ein paar Tagen muss sie dann wiederkommen - ein Jobprofil erstellen. In der Altenpflege sind immer Stellen frei, auch für Leute in ihrem Alter.
"Oh, wenn sie mich ganz kaputt machen wollen – ich bin total ausgelaugt. Sie gehen dabei ja auch körperlich kaputt, ist doch ganz klar, die Knochen, die Gelenke, die Psyche. Natürlich kann ich das tipptopp. Aber das geht nicht, da habt ihr mich innerhalb kürzester Zeit da liegen."
Sie nimmt die Antragsformulare entgegen. Damit muss sie sich in Ruhe beschäftigen.
Frau Lonn sitzt in der Wohnung, im ehemaligen Pflegezimmer und schaut auf ihren Laptop. Sie hat ihre Mutter regelmäßig mit der Videokamera aufgenommen. Um den Verlauf der Demenz zu dokumentieren, aber auch für sich, für Momente wie diese. Gerade sieht sie in dem Clip ihre Mutter mit dem Rollator ins Wohnzimmer kommen; am Arm einer Krankengymnastin. Am Sofa bleibt sie stehen; man sieht deutlich, wie es im Kopf der alten Dame arbeitet. Schließlich dreht sie sich wie in Zeitlupe mit dem Rollator um, so dass sie sich hinsetzen kann.
Frau Lonn lächelt breit. Ihre Augen leuchten.
"Ich kann nicht sagen, dass es eine verlorene Zeit war, im Gegenteil. Es ist eine wunderbare Zeit gewesen. Die Probleme, die ich jetzt habe, die sind ja anderer Natur und ich bin der Meinung, das müsste gesellschaftlich geändert werden, hundertprozentig."
Pflegen macht arm. 70 Prozent aller Pflegefälle werden zuhause von Angehörigen versorgt. Meistens sind es die Frauen, die das machen, oftmals, nachdem sie die Kinder groß gezogen haben. Keine Zeit zum Geld-Verdienen. Die Pflegekasse zahlt zwar Rentenbeiträge für die Pflegeperson ein; aber was am Ende herauskommt, ist minimal.
"Wenn ich auf meine Rentenbescheide gucke, lache ich mich kaputt. Noch."
Renate Lonn ist in der Pflege arm geworden und es ist jetzt schon klar, dass sie arm bleiben wird. Was sich ändern müsste, das weiß sie auch.
"Warum bezahlt ihr die pflegenden Angehörigen nicht mit einem Gehalt zuhause, warum nicht? Dann setzt ihr noch einen ambulanten Dienst drauf, als Kontrolle, man muss ja kontrollieren, es gibt ja auch andere Leute; dann hätte man die Abgaben gezahlt und es wäre alles in trockenen Tüchern. Man käme sich nicht so klein vor, weil ich hab wirklich das Gefühl, dass ich ein bisschen bestraft werde jetzt dafür. Ich empfinde das als Strafe. Ich kann nur darauf setzen, dass sich was verändert in Deutschland."
Einige Tage später ist Frau Lonn ist wieder auf dem Friedhof, über der Schulter eine gelbe Plastiktasche. Männertreu und Fleißige Lieschen gucken blau und rot heraus. Sie streift sich ein paar Pflegehandschuhe über und setzt die vier Pflanzen mitten auf das Grab der Mutter. Der Verlust tut weh, aber jetzt beginnt ein neues Leben.
"In die Saune gehen erstmal; in der Sauna fällt ja schon viel ab, da schwitzt man viel raus. Ich möchte eine Kur machen, um mich auf Vordermann zu kriegen. Ich glaube, das ist auch erforderlich. Meer, bloß kein Gebirge. Meer, Horizont, Möwen, Luft, Sand; Gymnastik, Seidenmalerei. Alles, was der Kurbetrieb bietet und wahrscheinlich auch ein paar Gesprächsstunden."
Frau Lonn richtet sich auf und streift die Handschuhe ab. Sie wird noch wochenlang mit Anträgen beschäftigt sein, mit der Krankenkasse um ihre Kur kämpfen und sich für jede Wochenendreise beim Arbeitsamt abmelden müssen. Die Gedanken an die Zukunft quälen sie: Renate Lonn, 56 Jahre alt, hat niemanden, der sie einmal pflegen könnte.
"Es ist eine Strafe. Vielleicht muss ich dann erleben, wie es im Heim ist, ich habe keine Ahnung, ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht."
Sie dreht sich noch mal um, blickt zum Grab. Rote und blaue Farbkleckse inmitten der vertrockneten Beerdigungskränze. Männertreu und fleißige Lieschen. Dann lächelt sie.
Elin Rosteck: "Ich ziehe echt den Hut, mit wie viel Mut und Hingabe sich Renate Lonn ihrer Mutter zuwandte. Für null Euro und auch für null Anerkennung. Frau Lonn ist arm geworden über die Pflege, und ich weiß jetzt: das kann jedem passieren, mir auch."