Es sprachen: Katharina Pütter, Sabine Falkenberg
Technik: Ralf Perz
Regie: Roman Neumann
Redaktion: Martin Hartwig
Eine Frau für fünf Euro
30:09 Minuten
Sex gegen Geld kostet in Deutschland manchmal weniger als eine Schachtel Zigaretten. Armutsprostitution betrifft vor allem Frauen aus Osteuropa, die oft unter Zwang ihren Körper verkaufen. Wenige von ihnen schaffen den Absprung in ein normales Leben.
"Sie haben mich in den dritten Stock des Hauses gebracht", erzählt Dana.
"Dann hat der Mann mir alle Dokumente abgenommen, meinen Ausweis und sagte dann, ich müsse jetzt hier arbeiten. Er sagte, wenn du deine Kinder bald wieder sehen möchtest, dann musst du diese Arbeit jetzt machen. Ich kannte niemanden, ich konnte kein Wort Deutsch und ich hatte kein Geld mehr, mein letztes Geld hatte ich für die Fahrt ausgegeben, 100 Euro.
Als ich sah, wo ich gelandet war, habe ich nur noch geweint. Ich habe die ganze Zeit geweint. Ich hatte sehr große Angst, denn ich hatte so etwas zuvor noch nie gesehen, ich kannte solche Orte nur aus Filmen. Ich wollte nur noch sterben, ich dachte daran, mich aus dem dritten Stock zu werfen. Ich wollte, dass alles vorbei ist. Ich wusste, dass ich so nicht weiterleben könnte, ich fühlte mich unendlich schmutzig."
Dana ist nicht gesprungen. Sie musste an ihre drei Kinder denken. Die leben bei der Großmutter in Bulgarien. Eigentlich wollte sie in Mannheim als Reinigungskraft arbeiten. Bekannte aus ihrem Dorf hatten ihr eine Stelle in einem Hotel versprochen. Als alleinerziehende Mutter von drei Kindern ohne Schulabschluss war das für sie ein Versprechen auf eine bessere Zukunft.
Doch statt einer Stelle als Reinigungskraft erwartete Dana ein kleines abgedunkeltes Zimmer in einer Bordell in Mannheim. Eine Frau brachte ihr Reizwäsche und drückte ihr eine Preisliste in die Hand.
"Als der erste Kunde kam, gab ich ihm die Liste in die Hand", sagt Dana. "Auf der Liste standen die Preise für eine halbe Stunde, eine Stunde. Als ich dem Mann die Liste zeigte, fing er an zu lachen. Er lachte und er konnte sehen, dass ich große Angst hatte, ich habe am ganzen Körper gezittert. Ohne irgendetwas zu machen, warf er mir, ich weiß es nicht mehr genau, 30 oder 50 Euro aufs Bett und ging, ohne etwas zu machen."
Monate ohne Kontakt zur Außenwelt
Die anderen Freier, die kamen, hatten weniger Mitleid mit der ängstlichen Frau, die kein Wort Deutsch sprach. Dana ließ viel über sich ergehen, darüber reden möchte sie nicht.
Das alles spielte sich in einem Bordell in der Mannheimer Lupinenstraße ab, der offiziellen Rotlichtmeile der Stadt. Monatelang hatte Dana keinen Kontakt zur Außenwelt, musste Männern zur Verfügung stehen und den Großteil des Geldes abgeben. Für das Zimmer knöpfte man ihr täglich 155 Euro ab.
Alle Frauen, denen sie dort begegnete hatten ähnliche Schicksale, manche von ihnen wussten vorher, dass sie im Bordell arbeiten sollten, doch keine ahnte unter welchen Bedingungen.
"Es gab viele Frauen die in der gleichen Situation waren wie ich", sagt Dana. "Einige von ihnen konnten fliehen. Andere haben es nicht geschafft, ihre Zuhälter haben es verhindert. Wenn einer Verdacht schöpfte, wurde die Frau gleich in ein anderes Land gebracht."
Eine Folge der EU-Osterweiterung
Es ist nicht einfach, mit den Frauen ins Gespräch zu kommen, wenn man kein Freier ist. Nur wenige, die es rausgeschafft haben, wollen öffentlich über ihre Erlebnisse reden. Die Bedrohung und Diskriminierung sind allgegenwärtig.
Sie kommen aus Rumänien, Bulgarien, Ungarn und führen ein Schattenleben mitten unter uns. Frauen aus Osteuropa sind seit der EU-Osterweiterung die Billigware auf dem deutschen Prostitutionsmarkt. Kaum ein Bordell oder Straßenstrich, an dem sie nicht anzutreffen sind.
Experten sprechen von über 150.000 Frauen aus Osteuropa, die in Deutschland Sex als Dienstleistung anbieten. Die Zahlen schwanken stark, verlässliche Statistiken gibt es bisher nicht. Die Mehrheit dieser Frauen sind Armutsprostituierte.
Wer kein Bordellzimmer bezahlen kann, landet auf der Straße. Viele sind obdachlos, erzählt Gerhard Schönborn, Streetworker in Berlin.
"Den meisten Frauen geht es ganz miserabel", sagt er. "Schlafen tun sie in Kellern, Dachböden, Durchfahrten, manchmal im Hausflur und es gibt so ein paar Ecken, wo man sich hin verziehen kann. Ein altes Parkdeck, wo ganz viele der Frauen schlafen, da sind Matratzenlager versteckt, da gehen sie auch mit den Männern hin. Ich war dort, ich kannte die Stelle selbst nicht, mir hat sie eine Frau gezeigt – alles voller Kondome, Spritzen."
Gesetzlicher Schutz greift nur für eine Minderheit
Das Prostitutionsschutzgesetz von 2017 hilft diesen Frauen nicht, im Gegenteil. Es hat Deutschland zu einem Paradies für Bordellbetreiber und Zuhälter gemacht. Es gibt keine Pflicht zur Krankenversicherung und die Betreiber haben ein Weisungsrecht gegenüber den Frauen, dürfen etwa Kleidung und Arbeitszeiten bestimmen. Auch Wuchermieten, durch die viele in Abhängigkeit geraten, werden nicht verhindert.
Die Frauen sind oft völlig schutzlos und haben praktisch keine Lobby. Denn die "Pro-Prostitutionslobby", die gerne von Sex-Arbeiterinnen redet, vertritt die Interessen der Betreiber und der Minderheit der Prostituierten, die diesen Beruf vielleicht wirklich frei gewählt hat und davon menschenwürdig leben kann.
Die Lupinenstraße mit ihren kleinen Gründerzeitbauten war schon zur vorletzten Jahrhundertwende eine Bordellstraße. In den Seitenstraßen sind die Protz-Schlitten der Zuhälter geparkt, kaum ein Auto unter 100.000 Euro. In den Schaufenstern sitzen die Frauen zur Ansicht. Die meisten sind zugereist, nur eine stammt aus Deutschland. Sie sprechen kaum oder sehr gebrochen Deutsch, man redet Rumänisch, Bulgarisch.
Die Zimmer, in denen die Frauen sich anbieten müssen, sind schlicht: billige Plüschoptik, einfache Betten mit bunten Laken. Auf kleinen Regalen liegen persönliche Habseligkeiten, Kuscheltiere, Schmink-Utensilien und Nagellack. Obwohl das Prostitutionsschutzgesetzt verbietet, dass Prostituierte an ihrem "Arbeitsplatz" auch leben müssen, ist das hier die Regel.
Bordellzimmer ohne Dusche und Toilette
Viele der Häuser sind kaum oder nur dürftig saniert, haben teilweise bei 40 Zimmern nur eine Gemeinschaftsdusche und Toilette.
"Es hat dort nicht jede eine Dusche" erzählt Dana. "Im Flur gibt es eine Toilette und eine Dusche. Viele Mädchen haben mir erzählt, dass sie sich nicht nach jedem Gast waschen, weil sie dann zu viel Zeit verlieren würden, sie reinigen sich mit nassen Taschentüchern oder nutzen schnell das Waschbecken. Ich habe immer geduscht. Ich war dort genau acht Monate. Im Oktober kam ich da an und am 27.Juni war ich da raus. Am 27.Juni war ich dann bei 'Amalie' in der Schutzwohnung."
Amalie, benannt nach der Frauenrechtlerin Amalie Struve, die im 19. Jahrhundert aktiv war, ist ein Projekt in der Neckarstadt-West, das sich um Frauen kümmert, die raus wollen aus der Prostitution. Gegründet hat es die 35-jährige Sozialarbeiterin Julia Wege.
Die Idee entstand im Rahmen einer Recherche für die Uni. Für ihre Masterarbeit wollte sie sich ein Bild von der Situation der Frauen in Ihrem Stadtteil machen. Die Einblicke, die sie dabei in die Lebenswelt der Frauen bekam, ließen sie nicht mehr los.
"Mich hat schockiert, dass hier viele Frauen der Prostitution nachgehen", sagt Julia Wege, "dass sie im illegalen Bereich tätig sind, dass sie gezwungen werden, auch von ihren eigenen Familien, von ihren eigenen Partnern, dass sie keine Krankenversicherung haben, dass sie reihenweise Abtreibungen vornehmen, dass sie bis zur Geburt weiter arbeiten, dass sie verzweifelt sind, dass sie nicht wissen, wohin sie gehen können. Und das waren für mich viele Aspekte, wo ich sage, ich muss hier handeln."
Hilfsprojekt gegen Widerstand der Stadtverwaltung
Gegen den Widerstand der Stadtverwaltung und mit großer Unterstützung freiwilliger Helfer gründete die Sozialarbeiterin vor fünf Jahren das Projekt Amalie. Heute gehört es zur Diakonie. Weil der Bedarf groß ist und das Geld nicht reicht, finanziert Julia Wege vieles durch Spenden.
Unweit der Bordellstraße bietet Amalie in seinen lichtdurchfluteten Räumen den Frauen aus der Prostitution einen Ort, an dem sie für ein paar Stunden durchatmen können. Hier können Sie duschen, Wäsche waschen, gemeinsam kochen. Ein kleines bisschen Normalität jenseits der Prostitution.
"Ich hab mir überlegt: Wie leben sie, wie arbeiten sie, wie fühlen sie sich, was haben sie für Möglichkeiten", sagt Julia Wege.
"Was für ein Leben führen die überhaupt und wie kann meine Hilfe aussehen, die ich hier anbiete mit Amalie. Viele Beratungsstellen auch in anderen Projekten bieten einfach Räumlichkeiten an: Dass man ein Büro hat, Tisch, zwei Stühle mit dabei hat, und das war's schon. Aber ich habe gemerkt, dass die Frauen einfach mehr brauchen. Es braucht einfach eine gemütliche Atmosphäre, dass man hier auch nicht nur in die Beratungsstelle kommt, sondern sich vielleicht auch wirklich über Stunden aufhalten möchte, dass es ein freies Angebot ist.
Dass man hier zum Beispiel gemeinsam Kochen kann, dass man durch das Kochen ins Gespräch kommen kann, dass man hier duschen kann, dass wir ein Wohnprojekt haben, dass wir einen Ausstieg ermöglichen. Wo sollen sie auch hingehen, die leben oft auf der Straße, haben keine gesicherten Verhältnisse, wo sie leben, wo sie jederzeit hingehen können. Viele sind alleine hier in Deutschland, haben ihre Familie nicht da. Und da war es uns wichtig, dass wir den Frauen auch vielleicht so ein Stück Zuhause geben."
"Ich lege mein Schicksal in Gottes Hand"
Ivelina kommt seit der Eröffnung regelmäßig ins Amalie. Nach der Trennung von ihrem Mann, der sie fast täglich verprügelte, musste auch sie ihre drei Kinder alleine durchbringen. Auf der Suche nach Alternativen zum Überleben landete sie zunächst auf einem bulgarischen Straßenstrich. Vor zehn Jahren dann kam sie in die Neckarstadt, wollte schnell Geld verdienen und wieder zurück in die Heimat.
Heute ist Ivelina ganz unten in dem Milieu angekommen. Es lief nicht gut für sie. Sie bietet ihren Körper in den Hinterzimmern einschlägig bekannter Cafés auf der Mittelstraße an. Manchmal bekommt sie zehn, manchmal auch nur fünf Euro. Den Großteil davon schickt sie nach Bulgarien zu ihren Kindern.
"Ich muss mich um meine Kinder kümmern", sagt sie, "bis sie eines Tages groß sind und auf eigenen Beinen stehen. Wenn sie mich dann bei sich haben wollen, würde ich gerne mit ihnen leben. Wenn sie mich nicht wollen, dann soll ihnen ihr Weg offen sein, was soll ich noch sagen. Das ist alles sehr schwer für mich, ich wäre so gerne bei meinen Kindern, würde sie gerne in den Arm nehmen und küssen. Sie warten immer auf mich. Jede Woche lüge ich sie aufs Neue an, sage, dass ich kommen würde, diese oder nächste Woche. Ich muss Geld verdienen, ich kann sie doch nicht ohne Unterstützung lassen. Ich lege mein Schicksal in Gottes Hand."
So wie Ivelina geht es vielen Frauen aus Bulgarien, Rumänien, Ungarn. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Im Gegensatz zu den Prostitutionsbefürwortern haben sie keine Lobby. Ihre Lebenswelten bleiben verschlossen. Nur wenige Menschen wagen den Blick in das Milieu.
Frauen ohne Lobby und Krankenversicherung
Julia Wege hat sich die Arbeitsstätten der Frauen angesehen. Und täglich kommen neue dazu, mal mit zerschlagenem Gesicht, mal mit unerträglichen Schmerzen im Unterleib.
"Wir können gar nicht erahnen, in welcher Welt die Frauen leben", sagt sie. "Ich kann es nicht pauschal über alle Frauen sagen, aber die Frauen, die jetzt zu uns in die Beratungsstelle kommen, zu mir in die Beratung, wir kriegen vielleicht zehn Prozent mit, aber ich glaube, ein Riesenteil ist für uns gar nicht begreifbar, in welcher Lebenswelt sie überhaupt zu Hause sind."
"Wir dürfen ja nicht vergessen", sagt Elke Krystek, "hier zu uns kommen ja Frauen, die nicht in der Glamourwelt der Prostitution leben, die ihre Tausende im Monat verdienen, sondern die gerade so mit ihren Ausgaben, die immens sind, über die Runden kommen und vielleicht noch ihre Familien in den Heimatländern versorgen können."
Dr. Krystek arbeitet ehrenamtlich für Julia Wege. Jede Woche gibt es eine kostenlose Arztsprechstunde. Der Andrang ist groß, denn keine der Frauen hat eine Krankenversicherung: Eine gesetzliche gibt es für Prostituierte nicht, eine private kann sich kaum eine leisten.
"Zumeist haben sie Eltern und Geschwister zu versorgen", sagt Elke Krystek, "vielleicht noch Kinder und dann wird alles sehr knapp. Dann können sie auch nicht mehr zu einem Arzt mit Privatrechnung gehen. Wir wissen was das alles kostet und dann hängen sie in der Luft."
In einem Raum, gerade mal so groß, dass ein gynäkologischer Behandlungsstuhl reinpasst, bieten drei Gynäkologen im Wechsel eine minimale Grundversorgung an. Der Umgang mit den Frauen ist in vieler Hinsicht nicht leicht.
"Die größte Hürde ist aber, dass die Frauen oft kein Deutsch sprechen, dass wir keine professionellen Übersetzerinnen haben", sagt Elke Krystek. "Übersetzer würden die Frauen nicht akzeptieren. Und das macht es sehr schwer und wenn man sich mal vorstellt, dass eine gute Anamnese mindestens 50 Prozent der Diagnosestellung ausmacht, dann kann man sich vorstellen, dass das eine wahnsinnig schwierige Situation ist, in der wir hier unsere Arbeit machen."
Körperliche und seelische Ausnahmesituation
Aber auch psychisch sind die Frauen oft in einem Zustand, in dem es schwer ist, mit Ihnen umzugehen.
"Es ist nicht immer einfach, mit diesen Frauen umzugehen", sagt Elke Krystek. "Nicht weil die bösartig sind, sie sind schwierig, weil sie auch in einer schwierigen Lebenssituation sind. Sie befinden sich in einer absoluten Ausnahmesituation. Das ist nicht ein Job, wie Lehrerin oder Putzfrau oder im Krankenhaus zu jobben. Das ist eine ganz besondere Auswahl an Dienstleistungen, die von den Frauen auch oft gar nicht erwünscht sind, sondern die sie einfach zum Überleben machen müssen.
Und da kommen eben bestimmte Situationen dazu: Dass sie sich ausgeliefert fühlen und dass sie auch zum Teil mit uns nicht zufrieden sind. Wobei wir natürlich entsetzt sind, weil wir denken, wir machen das alles ehrenamtlich, und jetzt kriegen wir noch eins auf den Kopf, jetzt werden wir noch kritisiert. Aber das muss man verstehen. Die Frauen sind oft am Anschlag. Psychisch, mental, Heimweh, ihre Heimat ist nicht hier, die Sprache verstehen sie nicht. Sie werden ausgenutzt, sie fühlen sich schmutzig, dreckig, psychisch alleingelassen."
Einer der härtesten Straßenstriche Deutschlands
Sichtbar wird diese psychische und physische Belastung, wenn man sich auf einen Straßenstrich begibt. Auf der Kurfürstenstraße in Berlin haben die Frauen aus Osteuropa die einheimischen Prostituierten fast komplett verdrängt. Der bundesweit bekannte Drogenstrich ist regelmäßig in den Schlagzeilen, weil es hier besonders rau und billig zugeht.
Die Frauen stehen hier rund um die Uhr am Straßenrand, einigen sieht man die Sucht stark an. Ausgemergelte Gesichter, leere Blicke. Daneben immer wieder auffällig junge Frauen, die bulgarisch oder rumänisch sprechen. Gerhard Schönborn ist Streetworker und arbeitet seit 15 Jahren hier auf einem der härtesten Straßenstriche des Landes.
"Also vor 15 Jahren war das ein klassischer Drogenstrich", sagt er.
"Die meisten, ich sage mal 80 bis 90 Prozent der Frauen, die hier standen, haben das wegen Heroin gemacht, muss man sagen. Das hat sich auch verändert, weil inzwischen so ein Mischkonsum stattfindet. Die Frauen nehmen alles, was sie kriegen: Crystal Meth, Rohypnol, Heroin, Kokain. Alles, was sie irgendwie kriegen, was betäubt, aufputscht, was ihren Körper irgendwie dämmt oder das auch aushalten lässt.
Der klassische Drogenstrich war es eben früher, und mit den EU-Osterweiterung hat sich das verändert, dass vor allem osteuropäische Frauen hier sind. Und da gibt es, sage ich mal, zwei Gruppen, die man aber nicht so auseinanderhalten kann. Die Armutsprostitution und dann die Frauen mit Zuhälter oder die auch hierher verschleppt worden sind. Aber ich sage, die kann man nicht so genau trennen, weil die Übergänge fließend sind."
Problematische Definition von Freiwilligkeit
Annemarie Schoß vom Verein Sisters sieht vor allem ein großes Problem darin, wie die vermeintliche "Freiwilligkeit" der Frauen in der Prostitution definiert wird.
"Ist halt immer die Frage, was man als freiwillig definiert", sagt sie.
"Wenn man sich die meisten Frauen in der Prostitution anguckt, findet man entweder Armut, Geldnot, irgendwas in der Vergangenheit. Armut vor allem auch im Herkunftsland. Die meisten Frauen kommen ja aus Rumänien, Bulgarien, also aus ärmlicheren Ländern. Außerdem findet man auch Drogenabhängigkeit, Alkoholabhängigkeit, aber auch Missbrauch in der Kindheit oder Vernachlässigung. Das findet man bei den meisten Frauen."
Drogen, nehmen, was man kriegen kann, um das alles zu ertragen. Wer wissen möchte, was sich hinter den sogenannten "Dienstleistungen" verbirgt, die die Frauen hier für ein paar Euro anbieten, dem empfiehlt Schönborn, sich mal in Freierforen umzuschauen. Kuschelsex sei da eher die absolute Ausnahme, meint er.
"Auf den Seiten finden sich dann Abkürzungsverzeichnisse, für diese ganzen Praktiken", sagt er. "Mit ein, zwei Buchstaben, wird sozusagen alles immer beschrieben, weil das ist überall vereinheitlicht und dann sieht man diese Abkürzungsverzeichnisse. Und ich meine auch die Kategorien der Frauen, wie sie eingeteilt werden. Dann heißt es eben, das sind sozusagen 'die Besseren', 'Zigeunerschlampen geht gar nicht'. Und an unterster Stelle, das findet man dann auch als Abkürzung, ich glaube es ist KE 'Kohleneimer'. Das sind dann also schwarze, dunkelhäutige Frauen. Das ist dann da die letzte Kategorie. So ein gelebter Rassismus ist da in diesen ganzen Zitaten immer mit drin."
Freier nutzen die Notlage der Frauen gezielt
Besonders die Frauen, die von Armutsprostitution betroffen sind, lassen oft Unvorstellbares über sich ergehen.
"Es gibt auch die Freier, die genau das wollen", sagt Annika Kleist. "Die wollen die Frauen in den Notsituationen. Die wollen die, weil sie da die Preise drücken können, weil sie da alles bekommen, was sie für extreme Vorstellungen haben. Es ist wirklich verstörend."
Für die Frauen in der Armutsprostitution ist Gewalt Alltag. In all seinen Ausprägungen.
"Die erzählen entweder so im Gespräch", sagt Gerhard Schönborn, "oder wenn sie in Extremsituationen waren, dass sie aus dem Auto rausgeschmissen worden sind, dass sie beklaut worden sind, vergewaltigt worden sind, dann kommen die auch hier rein und sagen: Ich bin gerade vergewaltigt worden. Dann fragen wir nach, ob sie ein Autokennzeichen haben, oder so. Und dann sagen sie: Nein, ich kann den nicht anzeigen, dann kann ich ja nicht mehr hier stehen."
In den Räumen des Cafés "Neustart" auf der Kurfürstenstraße Nummer 40 erfährt man fast täglich von solchen und ähnlichen Fällen. Gerhard Schönborn arbeitet mittendrin. Durch die Schaufester hat man den Straßenstrich im Blick. Autos schleichen an den Frauen vorbei, die sich zwischen den parkenden Fahrzeugen, unter Laternen oder an Bauzäunen mit dem Gesicht zu den Vorbeifahrenden platziert haben.
Ihre Gesichter, sind mal ernst, mal abwesend, fröhlich wirkt hier keine. Den Frauen ginge es schlecht, sagt er, sehr schlecht. Doch das interessiere die Freier nicht. Der Sex mit einer Frau hier kostet oft weniger als ein Mittagessen, die Nachfrage ist groß.
"Manchmal könnte ich auch am liebsten rausrennen und jemanden aus dem Auto zerren oder so", sagt Gerhard Schönborn. "Oder wenn einer kommt und eine hochschwangere Frau mitnimmt, die im neunten Monat ist. Dann steigt auch in mir so ein Aggressionspotenzial auf und so ein gewisser Hass, auch auf diese Männer. Was die mit den Frauen machen und wie diese ihnen ausgeliefert sind."
Träumen vom Ausstieg und einem normalen Leben
Für viele der Frauen vom Armutsstrich ist das Café Neustart der einzige Ort, an dem sie über die Gewalterfahrungen sprechen können. Fast alle träumen von einem Ausstieg, einem normalen Leben, ohne Drogen und Freier. Doch die Hürden für Frauen, die aus Drittstaaten oder aus Osteuropa stammen, sind besonders hoch.
"Also die Frauen aus Südosteuropa haben keine Ansprüche hier, keine sozialen", sagt Gerhard Schönborn. "Die kriegen keine Wohnung, die kriegen kein Harz IV, sie haben keine Krankenversicherung. Das heißt, sie können auch nicht entgiften, wenn sie jetzt Drogen nehmen. Eigentlich ist man da machtlos, und da müssten halt Hilfen greifen, die es nicht gibt."
Es gibt nur sehr wenige Angebote für Frauen, die durch alle anderen Hilferaster fallen. Obwohl die Frauen aus Drittstaaten und Osteuropa den größten Anteil der in Deutschland arbeitenden Prostituierten ausmachen, gibt es gerade mal eine Handvoll Schutzwohnungen.
Eine dieser Wohnungen wird vom Verein Sisters angeboten. Der Verein finanziert sich allein aus Spenden. Fast alle Mitglieder arbeiten ehrenamtlich.
"Wir haben dann gemerkt", sagt Annika Kleist, "als wir an unsere Grenzen gestoßen sind, dass wir uns wieder zurückziehen müssen aus der aufsuchenden Arbeit. Also es ist ja klar, wenn wir in Kontakt gehen, kommen die Frauen auch zu uns und möchten aussteigen. Und die Nachfrage nach Ausstieg wurde immer größer, sodass wir gemerkt haben, wir müssen da jetzt irgendwie eine Grenze ziehen und aufhören, das aktiv anzugehen. Wir begleiten jetzt Frauen, wenn sie sich per E-Mail bei uns melden."
Genauso wie das Projekt Amalie in Mannheim versucht auch der Verein Sisters, ohne staatliche Unterstützung, aber mit viel ehrenamtlichem Engagement den Frauen Wege aus der Armutsprostitution zu ebnen. Wer sich an Sisters wendet, bekommt ganz unbürokratisch Hilfe.
"Und diese Wohnung wird eben finanziert durch unsere Mitgliederbeiträge und unsere Spenden", sagt Annemarie Schoß. "Deshalb ist unser Verein auch ziemlich einmalig oder einer von ganz wenigen, die wirklich da auch den Frauen raushelfen. Weil momentan ist in Deutschland das Problem, oder schon seit ein paar Jahren, dass Prostitution einfach als ein Job wie jeder andere anerkannt ist und dadurch viele Beratungsstellen, die den Frauen eigentlich helfen sollen, ihnen nicht wirklich helfen. Weil sie eben auch diese Einstellung haben, das ist doch ein normaler Job und wenn die Frau auf der Straße nicht glücklich ist, dann soll sie in irgendein Bordell gehen oder soll in den BDSM-Bereich gehen, oder wie auch immer. Aber die Prostitution an sich wird nicht als Problem gesehen. Und das behindert natürlich, den Frauen zu helfen, ihnen auch raus zu helfen und ihnen eine Alternative zu bieten."
"Hoffentlich lebt diese Frau noch"
Den Frauen eine Alternative zu bieten, ist nicht ungefährlich. Das bekam auch Julia Wege zu spüren. Dass sie den Frauen einen schnellen Ausstieg ermöglicht, hat sich schnell bei den Zuhältern im Viertel herumgesprochen. Für ihre Anschrift hat sie eine Auskunftssperre bei der zuständigen Meldebehörde durchgesetzt und auch so trifft sie immer wieder Vorsichtsmaßnahmen.
Einmal wäre die Situation fast eskaliert, ein Zuhälter stand vor der Tür, wollte nicht zulassen, dass seine Prostituierte das Milieu verlässt.
"Wir waren wahnsinnig verzweifelt", erzählt Julia Wege, "und haben mit der Kriminalpolizei hier Stunden telefoniert, um die irgendwo hinbringen zu können. Dass sie da ein, zwei Nächte schläft. Und das war so schockierend für mich, weil keiner diese Frau aufnehmen wollte, auch Frauenhäuser belegt waren. Und wir haben sie auf gut Glück in einem Hotel untergebracht. Da dachte ich tatsächlich am nächsten Morgen, hoffentlich lebt diese Frau noch."
Die Frau hat überlebt. Wo sie heute ist, weiß Julia Wege nicht. In den letzten fünf Jahren hat Julia Wege mit ihrem kleinen Projekt und einer Zufluchtswohnung 90 Frauen den Ausstieg aus der Prostitution ermöglicht. In all den Jahren, sagt sie, sei ihr keine einzige Frau begegnet, die ihren Körper freiwillig anbietet. Alle waren von Zwang und Armut betroffen.
Aber es sind nicht nur die mangelnden Beratungsangebote, die den Frauen einen Ausstieg erschweren. Besonders, wenn Zuhälter im Spiel sind, wird es sehr gefährlich.
Frauen unter dem Zwang ihrer Zuhälter
"Besonders belastend oder schockierend für mich war, Frauen zu erleben, die schwanger geworden sind, die weitergearbeitet haben, die über ihre Schwangerschaft nicht erzählen durften", sagt Julia Wege. "Die unter Schmerzen dann hierher gekommen sind und die nicht erzählen konnten, wo sie arbeiten, woher sie kommen, wo wir Geburten mit begleitet haben.
Wenige Tage später haben sie dann wieder gearbeitet. Und nicht aus dem Grund, weil Prostitution in Deutschland eine so lukrative Tätigkeit ist, sondern weil das Elend so groß ist, dass sie einfach wie eine Maschine wie ein Roboter weiterarbeiten müssen."
Viele der Kinder, die so auf die Welt kommen, werden zur Adoption freigegeben. Gerade Frauen, die unter dem Zwang eines Zuhälters stehen, sehen oft keine Alternative.
"Die Tatsache ist, also grundsätzlich kann ein Zuhälter immer nur angeklagt werden, wenn eine Frau aussagt", sagt Gerhard Schönborn. "Und ein Zuhälter muss nichts befürchten, wenn er seine Frauen im Griff hat."
Auch Freier haben nichts zu befürchten.
Dass Frauen teils verängstigt oder mit offensichtlichen Blessuren am Körper anschaffen gehen, dass Dritte das Geld der Frauen kassieren und dass unzählige Frauen kaum Deutsch sprechen - all das zeigt: Bei den Gesetzen in Deutschland gibt es großen Nachbesserungsbedarf. Vor allem der Opferschutz ist mangelhaft bisweilen nicht vorhanden.
"Und da gibt es ja dann genügend Drohkulisse", sagt Gerhard Schönborn. "Oft werden die Frauen gefilmt, also wenn sie aus Rumänien kommen. In Rumänien ist Prostitution verboten. Dann gibt es Fotos und Filme und die werden dann der Familie geschickt. Oder Drohungen wie, ich weiß wo deine Kinder sind oder deine Familie wohnt oder direkt gegen Frau: Wenn sie gegen ihn aussagen würde, dass sie da ihres Lebens nicht froh wird. Also die wenigsten Frauen ringen sich dazu durch, ihren Zuhälter anzuzeigen."
Verlässliche Studie zur Situation der Prostituierten nötig
Deshalb wünscht sich Gerhard Schönborn vor allem eines für die Frauen: Niedrigschwellige Angebote, bei denen man sie nicht nach einer Kostenübernahme fragt. Denn solange die Frauen aus Drittstaaten und Osteuropa keinen Anspruch auf gesetzliche Hilfsleistungen haben, sind sie Zuhältern und Menschenhändlern ausgeliefert.
Experten und Hilfsorganisationen kennen das Problem schon lange. Es sei endlich an der Zeit, so Schönborn, eine verlässliche Studie zur Situation der Prostituierten in Deutschland zu erarbeiten. Und er ist sich sicher, ein Großteil der Frauen aus der Armutsprostitution würde jede echte Chance nutzen.
"Die wünschen sich eine Wohnung, eine Arbeit und manchmal auch einen Mann", sagt Gerhard Schönborn. "Viele haben auch schon die schlechten Erfahrungen mit Männern gemacht. Aber sie wollen einfach eine Arbeit, manche sagen Verkäuferin oder Floristin, irgendwas sehr einfaches und eine Wohnung. Also nicht eine Villa mit Swimmingpool oder sowas, sondern eigentlich wollen sie ein normales Leben, wie andere Menschen hier in der Stadt auch."