Buch „Machtübernahme“

Wie Widerstand gelingen kann

17:10 Minuten
Auf dem Cover des Buchs sind der Titel und der Name des Autors zu lesen. Eine Illustration zeigt einen Adler im Fallen.
© Droemer Knaur

Arne Semsrott

Machtübernahme: Was passiert, wenn Rechtsextremisten regieren. Eine Anleitung zum WiderstandDroemer, München 2024

240 Seiten

22,00 Euro

Von Christian Rabhansl |
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Was tun, wenn die AfD in Regierungsverantwortung kommt? Arne Semsrott fordert Gewerkschaften, Ämter, Justiz, Unternehmen und Medien auf, sich darauf vorzubereiten - und zeigt auf, wie demokratischer Widerstand aussehen könnte.
Sein Buch „Machtübernahme“ beginnt der Politologe und Demokratieaktivist Arne Semsrott mit einem fiktiven Szenario: ein Wahlabend in naher Zukunft. Es ist 18:03 Uhr, die Sektkorken knallen, denn die AfD ist stärkste Kraft. Sie kann nicht alleine regieren, aber ohne sie wird es schwierig. Die anderen Parteien reagieren geschockt, aber nicht überrascht. Die Themen der AfD – Migration, Abschiebungen und Genderverbot – hatten schließlich den Wahlkampf dominiert. Am Ende eines langen Abends spricht der CDU-Vorsitzende die Möglichkeit an, eine AfD-Minderheitsregierung zu tolerieren. Aus, wie Semsrott schreibt, „staatspolitischer Verantwortung“ und um „das Land vor dem Chaos zu bewahren“. Und jetzt?
Dieses „Und jetzt?“ bildet die Prämisse eines Buchs, das kleinteilig durchspielt, was kommen könnte. Im zweiten Teil des Buchs entwirft Semsrott eine „Anleitung zum Widerstand“ gegen eine potenzielle rechtsextreme Regierung: Widerstand in Ämtern, Gewerkschaften, Justiz, Unternehmen und Medien.

Große Macht auch als Juniorpartner

Wie sieht also das Szenario aus, das Semsrott entwirft? Was könnte eine AfD als Minderheitsregierung oder auch als Juniorpartner durchsetzen? Große umstürzende Gesetzesänderungen kaum, weil das Parlament der Gesetzgeber ist, nicht die Bundesregierung; erst recht keine Minderheitsregierung. Aber das sei auch gar nicht nötig, sagt Semsrott, denn es gebe „eine enorme Machtfülle unterhalb der Gesetzesebene“ und „sehr viele Möglichkeiten, Millionen Menschen in Deutschland das Leben zur Hölle zu machen“. Wie das?
Semsrott schreibt: „Hat die AfD ein Ministerium in der Hand, kann ihr Minister ohne Einmischung des Parlaments die praktische Ausgestaltung von Gesetzen bestimmen, Verordnungen und interne Weisungen erlassen und zentrale Regierungsposten besetzen.“ Entscheidend für das Ausmaß der Machtfülle sei es, welches Ministerium die Partei erhalte. Aus Semsrotts Sicht dürfte die Wahl der AfD leichtfallen: aufs Innenministerium. Denn damit verbunden seien die Polizei, die Ämter für Migration und Flüchtlinge, sogar der Verfassungsschutz. Und dann?

Zehn strategische Schritte zur Machtübernahme

Erstens, Personal austauschen: Politische Beamte können jederzeit ohne Angabe von Gründen ersetzt werden. Zweitens, Personal anweisen: Die Antidiskriminierungsstelle könnte künftig Deutschenfeindlichkeit verfolgen, der Verfassungsschutz vorrangig Linksextremismus und dafür das Personal vom „Phänomenbereich Rechtsextremismus“ abziehen; die Polizei könnte Disziplinarverfahren gegen Polizisten in rechtsextremen Chatgruppen einstellen. Drittens, Gelder umschichten: Beispielsweise könnten Gelder von Demokratieprojekten abgezogen und in einen neuen Fördertopf für Vereine „zur Bekämpfung irregulärer Migration“ gelegt werden. Insgesamt listet Semsrott zehn strategische Schritte auf.
Keiner dieser Schritte sei „der eine große Schritt“, der als finale rote Linie wahrgenommen würde. Um ein oben genanntes Beispiel aufzugreifen: Der Verfassungsschutz würde sich ja weiterhin um Rechtsextreme kümmern, nur eben personell ausgetrocknet.

Strategien aus der NS-Zeit

Hat Arne Semsrott damit eine Anleitung für eine rechtsextreme „Machtübernahme“ geschrieben? Nein, argumentiert er. Für sein Szenario habe er untersucht, wie rechtsextreme Parteien in anderen europäischen Ländern vorgegangen seien – genau das tue die AfD auch.
Wie plausibel ist also das Szenario, das Semsrott entwirft? Er habe nicht nur heutige Beispiele rechtspopulistischer und rechtsextremer Strategien in aller Welt analysiert, sondern auch Strategien aus der NS-Zeit, so der Autor. Denn: „Björn Höcke ist Geschichtslehrer, der schaut sich auch an, was die NSDAP gemacht hat.“
Zudem habe er 70 Interviews geführt, mit Menschen aus Verwaltungen, Justiz, Zivilgesellschaft und Medien. Semsrott, der das Recherche- und Transparenz-Portal FragDenStaat leitet, weiß zudem sehr detailliert, wie Verwaltungen funktionieren.

Ein stellenweise aktivistischer Tonfall

Der Tonfall des Buchs ist stellenweise aktivistisch, und manchmal wirkt unklar, was bereits geschehen oder fiktives Szenario ist. Auch wenn die Beispiele zwischen Landes- und Bundesebene wechseln, kann das verwirren, zumal das im Klein-klein der Verwaltungszuständigkeiten kein unwichtiges Detail ist.
Im Buch „Die verwundbare Demokratie. Strategien gegen die populistische Übernahme“ kommt der Jurist, Autor und Verfassungsblogger Maximilian Steinbeis gemeinsam mit einem ganzen Rechercheteam an vielen Stellen zu ähnlichen Schlüssen wie Semsrott.

Aufforderung zum frühzeitigen Widerstand

„Nie wieder war gestern“, betont Semsrott. Er fordert deshalb Menschen in Ämtern, Gewerkschaften, Justiz, Unternehmen und Medien auf, sich heute demokratisch zu vernetzen und zu überlegen, wie sie sich im Fall der Fälle verhalten.
Beamte seien durch ihren Eid aufs Grundgesetz verpflichtet, rechtswidrige Anordnungen zu verweigern – und sollten sich dafür frühzeitig Verbündete suchen. Gewerkschaften sollten die Möglichkeiten politischer Streiks austesten. Unternehmen sollten sich nach innen und außen klar gegen Extremismus positionieren und Aufträge durch eine rechtsextreme Regierung nicht annehmen.

Versäumnisse der Politik

Dass eine rechtsextreme „Machtübernahme“ in Semsrotts Szenario so simpel erscheint, liege auch an der Politik der vergangenen Jahre.
Dutzende Stellen in Ministerien schaffen und diese mit direktem Zugriff der eigenen Partei besetzen? Das habe der ehemalige Bundesinnenminister Horst Seehofer vorgeführt, als er 2018 sein Ministerium um den Bereich „Heimat“ erweiterte. Aktivisten ohne Straftat ins Gefängnis stecken? Das ermöglichen laut Semsrott die zuletzt in mehreren Bundesländern verschärften Polizeigesetze. Semsrott sagt: „Es wird, glaube ich, sehr klar, dass diese Machtfülle der Exekutive, die wir in den letzten Jahren immer größer haben werden sehen, dazu führt, dass, falls sie in die falschen Hände gerät, auch eine ganze Menge gefährliches Zeug damit gemacht werden kann.“
Sein Buch ist deshalb auch ein Appell an die Politik, sich zu mäßigen und Rechtsstaat und Demokratie abzusichern für den Fall einer „Machtübernahme“. Semsrott: „Es braucht nicht nur den Aufstand der Anständigen, es braucht den Aufstand der Politiker. Sie können dafür sorgen, dass demokratische Strukturen gestärkt werden.“
Semsrott kritisiert, dass auch nach den millionenfachen Demokratie-Demonstrationen Anfang 2024 kein Demokratiefördergesetz geschaffen wurde. Ganz untätig freilich ist die Politik nicht: Zuletzt haben sich Ampelregierung und Union darauf geeinigt, das Verfassungsgericht gegen politisch motivierte Beeinflussung zu stärken.
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