Streit um geplanten Standort für Stasi-Akten
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Der Bundestag hat beschlossen, dass die Stasi-Akten ins Bundesarchiv sollen. Nun geht es um die Standorte der Akten in den Bundesländern. In Mecklenburg-Vorpommern soll Rostock das Rennen machen, was so manche aber für einen gravierenden Fehler halten.
Zu Besuch im Rostocker Gebäude der "Maritimen Societät". Herr Wessel folgt dem Schild "Beratung Stasi-Akten" und steigt auf knarrenden Holztreppen ins zweite Geschoss.
So lange Corona-Schutzvorschriften sie nicht daran hindern, schickt die Rostocker Außenstelle der Stasiunterlagenbehörde einmal im Monat zwei Mitarbeiter in die Innenstadt. Dort sind sie für Ratsuchende leichter erreichbar als an ihrem Dienstsitz in Waldeck.
"Ich will Ihnen etwas zeigen. Ich bin seit über 50 Jahren im Seehafen Rostock tätig." Der 68-Jährige möchte einem Verdacht nachgehen, zu DDR-Zeiten bespitzelt worden zu sein. Die Mitarbeiter hören ihm geduldig zu und erklären dann, wo und wie der Mann Akteneinsicht beantragen kann.
An dieser Art von persönlicher Beratung ändere sich ebenso wenig wie an dem grundsätzlichen Recht Betroffener auf Akteneinsicht, auch wenn die Bundesbehörde für die Unterlagen der Staatssicherheit bald im Bundesarchiv aufgehen werde, sagt Anne Drescher.
"Das heißt, dass die Akten dann natürlich unter dem Türschild des Bundesarchivs verwahrt werden. Aber der Zugang zu den Akten, das wird alles so erhalten bleiben."
"Stasi-Akten gehören in ein Bundesarchiv"
Anne Drescher muss es wissen, ist sie doch als "Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur in Mecklenburg-Vorpommern" auch zuständig für die Stasiunterlagen, die seinerzeit in den drei DDR-Nordbezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg angelegt worden waren. Folglich unterhält die Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen (BStU) im Land Mecklenburg-Vorpommern drei Archiv-Außenstellen: in Rostock-Waldeck, in Görslow bei Schwerin und in Neubrandenburg.
Dass mehr als 30 Jahre nach dem Ende der DDR auch die DDR-Geheimdienstakten in die normale Archivlandschaft der Bundesrepublik überführt werden, findet die frühere Bürgerrechtlerin Anne Drescher richtig. Zum einen würden die teils vom Zerfall bedrohten Stasi-Akten künftig archivsicher in eigens neu gebauten Depots untergebracht. Zum anderen werde es einfacher sein, sich bei der Erforschung des Staates DDR oder bei der Klärung von Einzelschicksalen nicht mehr nur auf die Rolle der Staatssicherheit zu konzentrieren.
Denn: "In einem Bundesarchiv, in dem auch Verwaltungsakten liegen, in dem sich die Akten der Parteien und Massenorganisationen befinden wie auch Polizei- und Gerichtsakten, genau da gehören auch die Stasi-Akten hin: die Akten des Geheimdienstes", so Drescher.
Sonderlösung für MfS-Dokumente
In Berlin werde das ja hervorragend umgesetzt. Dort werde im Bezirk Lichtenberg ein großes Archiv geschaffen, in dem alle diese Akten der DDR-Überlieferung zusammengeführt werden. "Das wird sehr befürwortet und gelobt von allen Seiten. Und was in Berlin gilt, da verstehe ich nicht, warum das nicht auch im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern gelten sollte."
Tatsächlich baut das Land Mecklenburg-Vorpommern derzeit in Schwerin ein riesiges Zentralarchiv für historische Sammlungen wie auch für Akten aller Art mit DDR-Bezug. Nur für seine Dokumente des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wird es wieder eine Sonderlösung geben, und zwar in Rostock.
Gesetz fehlt noch
Rückblende: Rostocker Rathaus im Februar 2020. "Ja, und wann bekommen wir die Behörde, die Bundesbehörde nach Rostock?", sagte damals der Rostocker Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen.
Volker Höffer, den Leiter der BStU-Außenstelle Rostock antwortet: "Ja, das ist eine Frage, die musst du Roland Jahn stellen. Also ich habe dir mal was mitgebracht. Das ist im Grunde eine Argumentationshilfe beziehungsweise eine Zusammenstellung der Argumente für den Standort Rostock."
Madsen empfängt Volker Höffer. Beide Männer wissen, dass der Bundestag im Herbst 2019 das Aufgehen der Stasiunterlagenbehörde im Bundesarchiv beschlossen hat. Was fehlt, ist ein Gesetz, das die künftigen Aufgaben und Strukturen regelt. Der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Roland Jahn, sei noch dabei, sich für jeweils einen zentralen Archivaußenstandort pro Bundesland zu entscheiden, erläutert Volker Höffer dem aus Dänemark stammenden Oberbürgermeister Madsen.
Rostock als perfekter Ort?
Sie wissen, dass Schwerin gute Karten hat. Doch die Hafen- und Universitätsstadt Rostock habe bessere.
"Und wenn ich das richtig weiß, hast du ja von der Bürgerschaft den Auftrag bekommen, da entsprechend unterstützend reinzugehen", so Höffer.
"Ich habe mich natürlich ausführlich damit befasst und einen Brief geschrieben mit der Bitte darum, dass die Behörde an den bestmöglich geeigneten Standort – nämlich nach Rostock – kommt", entgegnet Madsen. Und fügt hinzu, er müsse ehrlicherweise sagen: Bevor er Höffer und dessen Behörde zum ersten Mal besucht habe, habe er selbstverständlich eine Vorstellung davon gehabt, was eine Stasi-Unterlagenbehörde ist, was generell da geschehen ist.
"Aber man muss dort hin und das hören, ansehen, anfassen, riechen, aufnehmen, um es wirklich zu verstehen." Das sei so wichtig. Und daraus, dass diese Stelle immer eine zentrale Bedeutung gehabt habe, sehe er Rostock geradezu als perfekten Ort. "Nicht nur, weil ich hier Oberbürgermeister bin, sondern mit dem Wissen, dass es auch hier einer der größten Behörde war wegen der zu See fahrenden Leute."
Eine Trophäe der Revolution
Mittlerweile fand die erste Lesung im Bundestag statt, in dieser Woche gefolgt von einer Anhörung im Kulturausschuss. Stets dabei: Bundesbehördenleiter Roland Jahn, der uns per Telefon bestätigt: Erstmals werde in einem Gesetz festgeschrieben, dass die Stasiunterlagen in den ostdeutschen Ländern verankert sind; und dass die Orte festgelegt werden, in denen jeweils pro Bundesland die Archivstandorte zusammengelegt werden.
"Das wird für Mecklenburg-Vorpommern Rostock sein, weil da gute Voraussetzungen sind, die Arbeit am historischen Ort in der ehemaligen Bezirksverwaltung der Stasi in Rostock so zu gestalten, dass man den Symbolcharakter sozusagen als Trophäe der Revolution gut darstellen kann. In Rostock hatte eine Besetzung stattgefunden gleich in den Dezembertagen 1989." Das lasse sich dort gut vermitteln.
Wegen konterrevolutionärer Umtriebe erschossen
Roland Jahns Sympathie für den Standort Rostock war früh erkennbar. Nur für die Hansestadt ließ er eine Machbarkeitsstudie anfertigen, und die überzeugt ihn.
Es gebe dort eine Gedenkstätte, die durch das Land betrieben wird. Und es gebe die Universität, sodass verschiedene Akteure zusammenarbeiten können. "Auch im Koalitionsvertrag des Landes Mecklenburg-Vorpommern wurde formuliert, dass dort ein Arno-Esch-Zentrum gegründet werden soll, wo Archiv, Gedenkstätte und Forschung gut zusammenarbeiten können."
Arno Esch war ein radikalliberaler Jurastudent an der Universität Rostock, der Anfang der 50er-Jahre von der Staatssicherheit verhaftet und später in Moskau wegen konterrevolutionärer Umtriebe zum Tode verurteilt und erschossen wurde.
Nach der Landtagswahl 2016 bekannten sich SPD und CDU in ihrem Koalitionsvertrag zur Gründung eines Arno-Esch-Zentrums in Rostock. Dort solle Forschung und Bildungsarbeit zum Thema DDR-Unrecht betrieben werden, doch konkrete Pläne? Fehlanzeige. Eine Finanzierungszusage mochte das SPD-geführte Kultusministerium bislang auch nicht abgeben. Vielleicht spekuliert die Landesregierung darauf, dass der Bund neben dem angekündigten Neubau eines Archivdepots dieses Zentrum gleich mitfinanziert.
Nicht alle Dokumente unter einem Dach
"Ich favorisiere ja nicht unbedingt den Standort Schwerin", sagt derweil die in Schwerin sitzende Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Anne Drescher. Natürlich könne auch Rostock der zentrale Archivstandort für die Stasi-Akten im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern werden.
Doch die Überlieferungen der Parteien, Gerichte, Polizei, Bezirks- und Kreisverwaltungen in den drei DDR-Nordbezirken werden nicht dorthin gehen, sondern in das Schweriner Archivzentrum in dem neuen, 100 Meter langen Betonriegelbau. Damit aber würden in Mecklenburg-Vorpommern leider doch nicht – wie geplant – sämtliche zur DDR-Zeit gehörende Dokumente unter ein gemeinsames Dach kommen.
Wartezeiten werden nicht verkürzt
Aus archivarischer Sicht eine Fehlentscheidung, findet Anne Drescher. Denn die Zusammenführung aller DDR-Überlieferungen an einem Archivstandort würde helfen, die teils jahrelangen Wartezeiten für die Antragsteller deutlich zu verkürzen.
Denn mit geschulten Mitarbeitern an einem Archiv könne man schauen, so Anne Drescher: "Welche Findhilfsmittel sind geeignet? In welchem Bereich des Archivs müssen wir schauen? Brauchen wir Haftunterlagen? Brauchen wir Unterlagen von der Jugendhilfe beispielsweise? Müssen wir schauen, wie der Geheimdienst die Familie überwacht hat? Schauen wir in Polizeiunterlagen, Gerichtsunterlagen?"
Das alles in einem Archiv versammelt, könnte eine komplette Lebensgeschichte abbilden. "Und das wäre aus archivarischer und aus fachlicher Sicht natürlich absolut logisch, dass dann an einem Ort zusammenzuführen und nicht ein Sonderarchiv in Rostock zu bauen."