Arno Geiger, Unter der Drachenwand
Hanser Verlag, 2018, 480 Seiten, 26 Euro
"Jede Figur hat das Recht auf Atem und Pulsschlag"
In seinem neuen Roman "Unter der Drachenwand" hat Arno Geiger mit Veit Kolbe wieder einen Anti-Helden geschaffen. Im Gespräch erzählt der österreichische Autor, wie viel Anti-Held in ihm selbst steckt und wie ihn sein Vater und Großvater geprägt haben.
Am Anfang stand ein Zufallsfund: eine alte Korrespondenz - Kinderbriefe, Elternbriefe, Behördenbriefe - in der es um Kinderlandverschickung nach Schwarzindien am Mondsee ging. Für Arno Geiger war das eine wichtige Inspirationsquelle für seinen neuen Roman "Unter der Drachenwand".
Veit Kolbe verbringt ein paar Monate am Mondsee, unter der Drachenwand, und trifft hier zwei junge Frauen. Doch Veit ist Soldat auf Urlaub, in Russland verwundet. Was Margot und Margarete mit ihm teilen, ist seine Hoffnung, dass irgendwann wieder das Leben beginnt. Es ist 1944, der Weltkrieg verloren, doch wie lang dauert er noch?
In Lesart erzählt Geiger, wie ihn die Kriegs- und Nachkriegserfahrungen seines Großvaters und Vaters geprägt haben, was ihn an Anti-Helden reizt und wie lange er an dem Buch gearbeitet hat und welche Rolle das Kinderlager "Schwarzindien" für ihn spielt.
Das Interview im Wortlaut:
Andrea Gerk: Am Mondsee im Jahr 1944 spielt der neue Roman des österreichischen Schriftstellers Arno Geiger. Darin geht es um einen jungen Soldaten, Veit Kolbe, der für einige Monate Fronturlaub hat, weil er sich verwundet hat. Er trifft dort zwei junge Frauen, Margot und Margarete, aber auch andere Figuren erzählen immer wieder in diesem Roman – ein Nachbar, der von Brasilien träumt, die Zimmerwirtin oder Oskar Meyer, der um das Überleben seiner verfolgten Familie kämpft. Arno Geiger ist uns jetzt aus einem Studio in Wien zugeschaltet, guten Morgen, Herr Geiger!
Arno Geiger: Guten Morgen, Frau Gerk!
Gerk: Ihre Romane, Herr Geiger, die sind ja bevölkert geradezu von Antihelden, wenn man da an "Der alte König in seinem Exil" denkt, wo Sie von Ihrem demenzkranken Vater erzählen, oder auch ein Selbstporträt mit Flusspferd, wo es um so einen jungen desorientierten Studenten geht. Jetzt steht wieder so ein junger Mann im Mittelpunkt – wer ist dieser Veit Kolbe, können Sie uns den man vorstellen?
Geiger: Ja, Veit Kolbe hat Abitur gemacht und dann seinen Militärdienst im letzten Friedensjahr geleistet, im Grunde ein eingefleischter Zivilist, und er kommt für die nächsten fünf Jahre aus dieser Uniform nicht mehr heraus. Er hätte studieren wollen, und er empfindet das als unglaubliche Beschädigung, dass man ihm diese Jahre genommen hat. Dann schleudert ihn der Krieg zur Seite, er ist mittelschwer verwundet, hält zu Hause die Phrasen seines Vaters nicht aus und verzieht sich zu einem Onkel an den Mondsee. Zu Beginn des Romans ist er wirklich schwer beschädigt, erschöpft, total ausgelaugt.
"Wir sind alle verdrahtet mit dieser Zeit"
Gerk: Und er kommt ja dann am Mondsee wieder so ein bisschen zu sich. Ich musste, als ich Ihren Roman las, dran denken, dass ja auch Kollegen von Ihnen, wie Ralf Rothmann oder Jan Koneffke sich in den letzten Jahren mit dieser Zeit, mit der Kriegserfahrung ihrer Eltern- oder Großelterngeneration auseinandergesetzt haben. Was hat Sie denn in diese Zeit hineingezogen?
Geiger: Gut, wir sind eigentlich alle kraft unserer Geburt verdrahtet mit dieser Zeit. Also ich bin Jahrgang 68 und klar ist das immer präsent, ist auch wichtig, dass es immer präsent ist. Das ist auch Teil unserer Geschichte, unserer biografischen Tiefe, aber gleichzeitig bin ich nicht involviert, bin nicht wirklich betroffen. Ich hatte vor vielen, vielen Jahren so einen Zufallsfund, die Korrespondenz eines Lagers, Kinderlandverschickung, Schwarzindien am Mondsee – die Kinderbriefe, Elternbriefe, Behördenbriefe –, und das hat alles in Gang gesetzt, also ein Zufall. Das ist mir zugefallen, und die Qualität eines Stoffes bemisst sich vielleicht daran, wie sehr etwas in Gang setzt, emotional vor allem – gedanklich, aber auch die Vorstellungskraft. Das war Wumms.
Gerk: Es gibt ja auch diese Theorie von so genetisch vererbten Traumata, dass eben auch das, was die Väter und Großväter im Zweiten Weltkrieg erlebt haben, sich noch fortsetzt. Spüren Sie davon auch etwas?
Geiger: Ich habe lange gebraucht, mir das zuzugeben, woher meine Ängstlichkeit kommt. Ich bin sehr vorsichtig, auf Sicherheit bedacht. Das weiß man ja aus "Der alte König in seinem Exil" – die, die es gelesen haben, dass mein Vater aus Wolfurt eigentlich nie mehr weggegangen ist, also er hatte einfach dieses Weltvertrauen nicht. Nur ich glaube, dieses Vorsichtige habe ich von meinem Vater geerbt, der ja selber Jugendlicher war. Das hätte mich nicht interessiert, das muss ich ganz ehrlich sagen, über einen Jugendlichen als Protagonisten zu schreiben. Die Jugendlichen sind immer nur Opfer und nicht verantwortlich. Und da wäre mir die Fragestellung zu wenig.
"Ich möchte ein dreidimensionales Bild von der Welt"
Gerk: Jetzt ist dieser Veit ja nicht der alleinige Erzähler des Romans, es gibt dann … nach etwas mehr als 50 Seiten ist plötzlich eine andere Stimme da, und das ist gar nicht direkt sofort erkennbar, sondern danach wechseln plötzlich die Erzähler, es gibt Briefe, die da eingearbeitet sind. Hatten Sie die Erkenntnis, dass man so eine Zeit, die so kompliziert ist und so vielschichtig wie diese Figuren, die Sie da erzählen, das eben auch nur so multiperspektivisch erfassen kann?
Geiger: Ach, ich möchte immer ein dreidimensionales Bild von der Welt bekommen, und der Blick aus nur einem Fenster, den finde ich nicht so spannend wie den Blick aus sehr unterschiedlichen Fenstern. Und dann kommen so perspektivische Brechungen auch, manches relativiert das andere. Es gibt zu meiner Überraschung sehr wenige Gesellschaftsromane über die Zeit des Dritten Reiches. Meistens ist ein Aspekt herausgegriffen, ein kleiner, ab so ein komplexes gesellschaftliches Bild jetzt hier im Hinterland, ganz durchschnittliche Menschen, wo jetzt nicht Schafe und Böcke streng geschieden sind, ist keine Täter-Opfer-Konstellation. Das hat mich interessiert.
Gerk: Es sind ja auch so ein paar formale Eigentümlichkeiten im Text, da sind immer wieder so diagonale Schrägstriche, dass man erst denkt, aha, das ist wie bei einem Gedicht vielleicht, oder ist das ein Absatz, der nicht eingezogen wurde. Was für eine Funktion haben die?
Geiger: Ach, Sie treffen das sehr gut. Ja, das ist ein bisschen wie bei einem Gedicht, es ist mehr als Punkt und weniger als ein Absatz. Ich wollte ein zusätzliches formales Gestaltungselement, an das man sich ja nach zwei, drei Seiten dann, denke ich, rasch gewöhnt hat. Irgendwie auch in dem Wunsch zunächst einmal, dass ich so diese ganz konventionelle Romanform wenigstens in einem Detail breche, um zu signalisieren, für mich ist das mehr als einfach nur ein Roman.
Gerk: Sie haben auch, das darf man, glaube ich, verraten - in einer kurzen Nachbemerkung am Ende des Romans finden sich noch biografische Angaben zu einigen der Romanfiguren. Gab es denn Vorbilder in der Realität für die Figuren?
Briefe und Tagebücher waren das Fundament
Geiger: Ich würde es so sagen: Der Roman ist ein erfundenes Haus mit echten Türen und Fenstern, ja, teils, teils. Also ich hatte wie gesagt diese Korrespondenz des Lagers Schwarzindien, da war manches angedeutet, angelegt an Figuren, und es gibt Vorbilder, aber letztlich glaube ich, dass ich als Schriftsteller mir jeden Stoff immer aneignen muss – insofern als ich ihn mir neu erfinden muss. Aber ich finde, jede Romanfigur hat das Recht auf Atem und Pulsschlag und auf ein Leben, auch auf ein Leben danach.
Gerk: Aber ich nehme an, Sie haben schon viel mit historischen Dokumenten gearbeitet und viel recherchiert, oder? Weil das ist ja doch irgendwie eine sehr ferne Zeit jetzt, wir sind ja ein Jahrgang, für eine Generation wie uns, da muss man sich ja erst mal da so reinarbeiten.
Geiger: Ja, ich hab das zehn Jahre vorbereitet, den Roman. Das Lager Schwarzindien kommt ja schon in "Es geht uns gut" vor, für das ich damals den Deutschen Buchpreis bekommen habe, 2005. Aber das habe ich so lange mit mir herumgetragen und mich versucht anzunähern an das Konzept, an die Figuren, und habe eigentlich fast keine Sachbücher gelesen. Das interessiert mich nicht, wie das von heute aus gesehen wird, sondern ich wollte erzählen, was nur ein Roman erzählen kann, wie könnte sich das angefühlt haben im fünften, sechsten Kriegsjahr zu leben, also buchstäblich unter der Drachenwand, und habe O-Töne gelesen, Briefe, Tagebücher, Tausende Seiten. Das ist die Basis, das hat das Fundament geschaffen. Und dann tritt der Schriftsteller vor, und gelingen oder scheitern tut es dann dort, wo es eigentlich nicht mehr recherchierbar ist, in diesem emotionalen Raum, den ich aufreiße.
Gerk: Und die Hauptfigur, Veit, ist ja auch ein Schriftsteller, ein Erzähler, das hält ihn ja auch irgendwie am Leben oder stabilisiert ihn zumindest. Warum ist das so häufig so, dass das Erzählen oder das Formulieren etwas Heilsames hat?
Geiger: Weil es etwas Verlangsamendes hat. Also beim Schreiben denke ich über die Welt nach, über mich selber, wo stehe ich, was ist mir widerfahren. Der Krieg hat eine unglaublich mobile Gesellschaft erzeugt, also alle Familien waren auseinandergerissen, und damals war das auch eine ganz natürliche Form der Kommunikation, das Schreiben. Und es hat so was Momenthaftes. Ich wollte den Roman ja nicht retrospektiv erzählen, aus der Sicht von heute, sondern ich wollte in die Figuren hineingehen, so als Kosmonaut des Innenraums, wie Burt Chester es nennt, und wollte das formal irgendwie lösen und habe mich dazu entschieden, dieses unmittelbare Erzählen den Figuren zuzuspielen, dass sie das erzählen, im Moment, wie es ihnen geht, wie sie das erleben.
Gerk: Und dann den Leser mitnehmen in diese Innenwelt, das ist Ihnen sehr gut gelungen, Arno Geiger. Vielen Dank für dieses Gespräch! Und der Roman "Unter der Drachenwand" ist bei Hanser erschienen, und eine ausführliche Kritik dieses Buches können Sie morgen hier im Programm von Deutschlandfunk Kultur hören in der Frühsendung "Studio 9".
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.