Isidoro Abramowicz, Jakub Stefek, Chor der Synagoge Pestalozzistraße: "Arno Nadel - Schire Simroh. Liturgische Gesänge"
Universitätsverlag Potsdam 2021
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Arno Nadel
Musik, die einfach verschwunden war: Kantor Isidoro Abramowicz bei einem Gebet. © picture alliance / dpa / Sören Stache
Aus dem Vergessen zurück geholt
11:10 Minuten
Das ehemals viel beachtete Werk: vernichtet, verschollen, vergessen. Der in Auschwitz ermordete Künstler Arno Nadel war Komponist, Dichter, Forscher und Sammler. Der Berliner Kantor Isidoro Abramowicz hat ihn wiederentdeckt.
Klangkaskaden in einem Orgelvorspiel zu den jüdischen Hohen Feiertagen: Sie bauen sich dramatisch auf, dann münden sie wieder in filigrane Melodien. Komponiert hat sie der Musiker Arno Nadel. Sein künstlerisches Schaffen war keineswegs nur auf Musik beschränkt und ist nach dem Zweiten Weltkrieg fast vollständig in Vergessenheit geraten.
"Arno Nadel ist tatsächlich eine Entdeckung, aus dem Grund, dass seine Musik einfach verschwunden war. Nach dem Krieg hat man nichts davon gewusst oder gehört. Und selber habe ich das erst vor zwei Jahren entdeckt. Das ist wirklich eine musikalische Sprache, die so viel anzubieten hat."
Von seiner Entdeckung war Kantor Isidoro Abramowicz von der Berliner Synagoge Pestalozzistraße so begeistert, dass er beschloss, die Musik Arno Nadels einem breiteren Publikum zu Gehör zu bringen. Gemeinsam mit dem Chor der Synagoge und dem polnischen Organisten Jakub Stefek nahmen sie die CD "Schire Simroh. Liturgische Gesänge" auf.
"Das ist alles, was man bis jetzt an liturgischer Musik von Nadel finden kann."
Dabei hat Arno Nadel ursprünglich ein sehr reiches künstlerisches Werk hinterlassen. Der an der Weimarer Musikhochschule unterrichtende Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov hat das Werk Arno Nadels erforscht und eine erste biographische Miniatur des Künstlers erstellt.
Viele musikalische Traditionen vereint
"Es ist gar nicht so einfach, von diesem Menschen zu erzählen, weil er so vielseitig war und gewissermaßen in vielen verschiedenen Welten gleichzeitig lebte."
Arno Nadel wird am 3. Oktober 1878 in Wilna geboren, das damals Teil des russischen Zarenreichs ist und heute unter dem Namen Vilnius die Hauptstadt Litauens. Seine Familie ist jüdisch-traditionell, er wächst mit orthodoxen Riten auf und hat auch Zugang zur chassidischen Musikkultur, sagt Jascha Nemtsov:
"Mit zwölf Jahren wurde er nach Königsberg geschickt, was vermutlich mit den schwierigen materiellen Bedingungen der Familie zu tun hatte. Er hat dann in Königsberg in einer völlig anderen Umgebung ... Königsberg war ja deutsch, Wilna war im russischen Reich, Nadel ist aber im jiddischen Sprachmilieu aufgewachsen, hat die deutsche Kultur aber verehrt, bewundert. Er beschreibt auf sehr rührende Weise seine Begegnung mit der deutschen Sprache, die ihm eine Sprache aus dem Paradies erschien."
Von Königsberg nach Berlin
In Königsberg lernt er bei dem legendären Kantor Eduard Birnbaum – der, wie Jascha Nemtsov sagt, der "wahrscheinlich bedeutendste jüdische Musikgelehrte zu seiner Zeit" ist und der eine gigantische Sammlung jüdischer Musik angelegt hat. Auch Nadel wird einige Jahre später in Berlin als Sammler liturgischer Musik, aber auch als Komponist einen bedeutenden Beitrag zur jüdischen Musikgeschichte leisten.
Mit 17 kommt Arno Nadel nach Berlin und macht sich bald einen Namen in der musikalischen Welt: "Er wirkte hier in Berlin an verschiedenen Synagogen als Chorleiter, er wirkte aber auch als Organist, er beteiligte sich am jüdischen Musikleben als Pianist und auch zunehmend als Komponist. Er hat nicht nur Originalwerke geschrieben, sondern auch unzählige Bearbeitungen von jüdischen Volksliedern."
"In seiner Arbeit zeigt sich, dass Arno Nadel ein sehr guter Organist war und dass er ein tiefes Verständnis des Musikinstruments hatte. Er benutzt verschiedene Klangspektren: Da heißt, er war nicht nur ein guter Komponist, sondern hatte auch ein besonderes Interesse an der Orgel."
Die Orgel kantoral denken
Jakub Stefek unterrichtet an der Akademie der Künste im polnischen Stettin und hat die neue Nadel-CD als Organist begleitet. Er und Kantor Abramowicz sehen in Arno Nadel einen Modernisierer der Synagogenmusik.
"Arno Nadel bringt die Idee der Orgel in der Synagogenmusik voran – vor ihm haben Komponisten die Orgel häufig nur benutzt, um den Chor zu unterstützen. Arno Nadel schreibt einen eigenen Orgel-Part und führt so einen zweiten Chor ein: Einer besteht aus Singstimmen, der andere aus der Orgel."
"Arno Nadel konnte die östliche Musik perfekt. Hat dann die westliche Musik auch fantastisch gelernt und er hat sich mit den traditionellen Motiven der jüdischen Liturgie beschäftigt. Was er gemacht hat ist, diese Motive zu nehmen und zu kombinieren, immer natürlich kantoral gedacht, nur als er die Begleitung geschrieben hat für Orgel, hat er natürlich neue Harmonien hingebracht, er hat ein bisschen, könnte man fast sagen, 'jazzy' gespielt."
Die Beschäftigung mit der jüdischen Musik sieht sein Biograf Jascha Nemtsov als Hauptwerk des vielseitig begabten Künstlers: Vor allem seine Zusammenstellung eines Kompendiums jüdischer liturgischer Musik in sieben Bänden, an dem er seit den 1920er-Jahren arbeitete. Aber dieses musikalische Gebiet war nur ein Teil seines Wirkens:
"Er entwickelte sich auch zu einem Dichter und Philosophen. Seine Dichtung ist sehr philosophisch geprägt und dabei nicht nur von der jüdischen Philosophie oder der deutschen idealistischen Philosophie, sondern zum Teil auch aus den fernöstlichen philosophischen Quellen, er hat sich sehr stark auch für diesen Teil des philosophischen Denkens interessiert und verfasste nicht nur ganze Sammlungen von Gedichten, sondern auch Theaterstücke."
Theaterstücke, die nicht in der Schublade landen, sondern ein großes Publikum finden. Das meiste seiner Literatur ist heute nur über den Antiquariatshandel zu erhalten. Eine Sammlung von Arno Nadels Liebeslyrik im expressionistischen Stil findet sich im Netz.
Der Künstler, sagt sein Biograph Jascha Nemtsov, brachte in seinem Werk westliche und östliche Kunstformen miteinander in Verbindung.
Seit Mitte der 1920er Jahre arbeitet Arno Nadel im Auftrag der jüdischen Gemeinde an einer Sammlung von Synagogenmusik, dem sogenannten Kompendium "Hallelujah". Darin auch eigene Kompositionen.
"Das war kein publiziertes Werk, das waren sieben gebundene Bände mit Manuskripten, mit Abschriften. Und das wurde zu seinem Hauptwerk."
Arno Nadel schließt das Kompendium "Hallelujah" wenige Tage vor der Pogrom-Nacht im November 1938 ab. Wenig später wird er als einer von 30.000 deutschen Juden im KZ Sachsenhausen inhaftiert und gefoltert.
"Er versuchte auszuwandern. Es war aber dann zu spät. Er hat wirklich lange auf eine Art Stabilität - wie ja auch viele andere Juden - gehofft, er hat dann aber angefangen, verschiedene Auswanderungsmöglichkeiten auszuloten, als es schon zu spät war. Seine Tochter und der Schweigersohn sind noch entkommen."
Seine Bemühungen ins Exil zu gelangen sind vergeblich. Am 12. März 1943 werden Arno und Anna Nadel vom Bahnhof Moabit nach Auschwitz deportiert und ermordet. Vieles von seinem künstlerischen Werk, das er der Malerin Käthe Kollwitz anvertraut hat, geht im Krieg verloren. Die Spur des Kompendiums "Hallelujah" verliert sich nach dem Krieg in den USA. Das Tagebuch über die Erlebnisse in der NS-Zeit ist noch unveröffentlicht.
Umso wichtiger, dass jetzt die liturgischen Gesänge verfügbar sind. Kantor Isidoro Abramowicz: "Wir freuen uns natürlich, das aufzuführen in den nächsten Monaten, wir hoffen, dass wir das auch überall zeigen können, nicht nur mit der CD, sondern auch live in Konzerten."