Arnold Bodes Erben
Die erste documenta in Kassel war zunächst nur als Einzelmaßnahme gedacht. Sie sollte das Rahmenprogramm zur Bundesgartenschau bilden. Doch das, was Arnold Bode 1955 in der vom Krieg zerstörten Stadt ins Leben rief, markierte den Neuanfang der durch das Nazi-Regime diskreditierten Szene und legte den Grundstein für einen weltweiten Erfolg.
Harald Kimpel: "Man kann es gar nicht erklären. Das ist ein schieres Wunder, was da in Kassel 1955, in dieser desolaten komplizierten Stadt passiert ist."
"Urknall, wenn Sie das sagen, ist das eine sehr schöne Vokabel, wobei der Knall eigentlich als ein einmaliges Ereignis gedacht war und keine Ausweitung im Sinne hatte, sondern Arnold Bode dachte zunächst mal an eine Einzelmaßnahme, an eine Ausstellung von ganz bescheidenen Ausmaßen, nämlich eher als Rahmenveranstaltung zu der sehr viel höherwertig, publikumsträchtig, bedeutender gedachten Bundesgartenschau."
Harald Kimpel sitzt in einem winzigen Büro. Das Kulturamt im Kasseler Rathaus ist von oben bis unten mit Büchern und Zetteln vollgestopft. Harald Kimpel hat Mythos und Wirklichkeit der documenta gründlich studiert, aber für persönliche Erinnerungen an die erste documenta ist er entschieden zu jung.
Bei Heiner Georgsdorf ist das ganz anders. Der Kunstpädagoge war ein Schüler des documenta-Gründers Arnold Bode.
"Es war eben ein Glücksfall, dass sein Kollege und Freund, Hermann Matern, damals eine Ausstellung über die moderne Kunst in Kassel haben wollte, und Bode hat das eben als die große Chance gesehen, in einer Zeit, wo alles daran dachte, die Spuren des Krieges zu beseitigen, und jeder versuchte eben seine Wohnung so im Kleinen so hübsch wie möglich wieder herzurichten – mit dem, was es damals gab, und das war nicht allzu viel. Es gab zwar schon in Deutschland in der Nachkriegszeit einiges zu sehen, was in den dreizehn und zwölf Jahren zuvor nicht zu sehen war, aber in dieser Wucht und in dieser Menge war es die erste große Chance, sich wieder mit der verfemten Kunst, der entarteten Kunst, vertraut zu machen. Es war ein großer Durst auch danach, ein großer Hunger nach diesen Bildern, die man zum Teil schon kannte, aber wenn man sie kannte, meistens aus schlechten Schwarzweiß-Reproduktionen. Es war so eine Ahnung, dass da etwas Großartiges auf einen zukommen könnte."
Auch Heinz Hunstein kann sich an den Anfang noch gut erinnern. Er sitzt in seinem Wohnzimmer, wo schon viele Künstler und Kuratoren gesessen haben. 1955 war er knapp 30 Jahre alt. Die documenta-Macher kamen alle in die Praxis seiner kunstbegeisterten Mutter, die in Kassel Zahnärztin war.
"Durch das Dritte Reich war das ja ein Bomben-Nachholbedarf, den man dann befrieden konnte. Mein Vater hat ein bisschen gemalt, als Junge, er war mit einem Maler befreundet. Hier war ewig was so mit vielen Bildern, die hingen da in der Wohnung, und dadurch war man dann schon so ein bisschen vorbereitet, in Sachen Kunst sich mal Gedanken zu machen. Und das war schon toll."
Wenn ein Politiker im Dritten Reich ein Atelier besuchte, kam er gern in Uniform. Der Künstler stand im weißen Kittel daneben, wie ein Chefarzt bei der Chefvisite. Arzt und Soldat waren ein Synonym für die heroische Kunst eines gesunden Volkskörpers. Als der Nationalsozialismus vorbei war, wurden auf der documenta Bilder und Skulpturen gezeigt, die in Deutschland in diesem Umfang zum letzten Mal 1937 zu sehen waren.
Die Ausstellung "Entartete Kunst" war eine bösartige Inszenierung, zu der über drei Millionen Menschen kamen. Dagegen nahmen sich die 130.000 documenta-Besucher eher bescheiden aus, sagt der Bremer Kunsthistoriker Michael Glasmeier.
"Ich vergleiche die Ausstellung immer mit der Ausstellung 'Entartete Kunst', weil beide eigentlich das gleiche Programm hatten nur in unterschiedlichen Ausrichtungen. Aber was bei Bode absolut fehlte, ist beispielsweise der Dadaismus oder Surrealismus und solche Positionen, die ja damals schon sehr weit verbreitet waren, sondern er orientiert sich wirklich an den Abstrakten an der Kandinsky-Nachfolge und nicht quasi an den Anarchisten in der Kunst, die es eben in den 20er und 30er Jahren auch gab."
Bei Heinz Hunstein liegt im Flur unter der Treppe ein Stück Bohrer, den der Künstler Walter de Maria während der documenta Sechs verwendet hatte, um seinen Erdkilometer in den Friedrichsplatz zu bohren. Ein spektakuläres Kunstwerk, mit einer unvergleichlichen Aura: Man kann es nicht sehen, man kann es nicht wegtragen und es ist garantiert vollkommen nutzlos. Für solche Aktionskunst hatte Arnold Bode keinen Sinn, seine Wertschätzung galt der abstrakten Kunst und den abstrakten Künstlern, die er nach Kräften unterstützte.
Hunstein: "Arnold Bode war wirklich ein besessener Arbeiter, der dauernd dran gedreht und vorwärts getrieben hat und hat immer gern sich mit Leuten umgeben hat, wo er das Gefühl hatte, dass man ihn unterstützt. Das war für ihn ganz wichtig. Er wollte das also innerhalb seines Freundeskreises immer auf eine möglichst breite Ebene stellen. Und das hat mich sehr beeindruckt auch in meiner Haltung, in meinem späteren Leben in Sachen Kultur, wenn man mit Künstlern umgeht, muss man sich erst einmal selbst vergessen und sich ganz der Sache hingeben. Nicht einfach so mitlaufen, sondern eine Leidenschaftlichkeit bringen, die dann andere auch begeistern kann."
Nicht nur Heinz Hunstein verehrt Arnold Bode, auch sein Schüler Heiner Georgsdorf.
"Er hatte karierte Jacken. Er war sehr elegant. Seine Frau, die Marlou, die erzählte immer, dass er auch schon zum Frühstück im Hemd mit Schlips und mit Sakko kam. Und dass er immer sehr großen Wert darauf legte, auf äußeres gepflegtes Erscheinen. Aber in dem Anzug steckte eben ein Zauberer. Arnold Bode war aus meiner Sicht ein Menschenfänger. Wie er das eigentlich machte, kann man gar nicht mehr so nachvollziehen. Man muss eigentlich diese unmittelbare Gegenwart erlebt haben. Das fand ich eigentlich immer sehr bewundernswert, dass er nicht da von sich erzählte und von den großartigen Dingen, die er jetzt vorhatte, sondern dass er immer von wir sprach. Er hatte eben ein wir, was kein Pluralis Majestatis war, sondern was uns alle mit einbezog. Und jeder hatte das Gefühl, es kommt auf mich drauf an, also ich muss jetzt mitmachen, ich muss das jetzt unterstützen, ich will das auch. Und er ging einfach davon aus, dass jeder so denken musste wie er, weil es ging ja um die gemeinsame Sache, es ging um die Kunst und die sollte uns alle verbinden."
1953 hatte Arnold Bode in Mailand eine Picasso-Ausstellung gesehen. Die Bilder hingen in einer Schlossruine. Es gab weiß geschlämmte Wände und eine temporäre Ausstellungsarchitektur. Eine Ästhetik, die später auch in Kassel zu finden war. Es wird erzählt, Arnold Bode sei mit Studenten durch die kriegszerstörte Stadt gegangen.
Das Fridericianum war der erste öffentliche Museumsbau auf dem europäischen Kontinent. Nach dem Krieg war das klassizistische Gebäude ausgebrannt. Es standen nur noch die Außenmauern, eine Fassade ohne Inhalt. Plötzlich war sich Bode ganz sicher: Die Ruine des Fridericianums war der richtige Ort, um zeitgenössische Kunst zu zeigen.
Gleich am Eingang trafen die Besucher auf eine Galerie mit Porträts der ausgestellten Künstler. Markante Gesichter, die Heiner Georgsdorf nicht vergessen kann.
"Das war wie eine Schranke, wie ein Lettner in einer mittelalterlichen Kirche. Man musste hindurch, man wurde sozusagen gereinigt, und das waren die Porträts der Künstler der documenta-Werke. Es war so eine Art aufzeigen, das sind jetzt keine Menschen, von denen ihr jetzt Werke seht, die euch verarschen wollen, sondern schaut sie euch an, was das für Menschen sind. Das waren wunderbare Gesichter, die man sah, wunderbare Persönlichkeiten. Man hat begriffen, denen kann man vertrauen."
Erst danach kamen die Besucher in die eigentliche Ausstellung.
Georgsdorf: "Weiß geschlämmte Wände, die kannte ich bloß aus dem Hühnerstall meines Großvaters, wo das gegen Ungeziefer gemacht worden war, dass man da Kalk nahm, in einer Zeit, als es die ersten Nylonhemden gab, da war dieser Kunststoff noch etwas Faszinierendes. Und eines meiner größten Erlebnisse, die ich heute noch erinnere, ist eben dieser Skulpturensaal, der wie ein Sanktuarium aufgebaut war, wie ein Kirchenschiff, in dem man auf das Allerheiligste zuging und dieses Allerheiligste war damals das Königspaar von Henry Moore."
"Es war im Sommer, die Fenster standen offen. Davor waren die deckenhohen Plastikvorhänge, milchigen Plastikvorhänge, angebracht, die sich aber im Zuge der Luft, die durch die offnen Fenster hereinkam, aufbauschten. Und da kam eine Bewegung rein, und diese Bewegung teilte sich für mich so auf die Figuren mit. Plötzlich bekam dieser ganze Saal etwas ganz Lebendiges. Es gab nichts Vergleichbares in meinem Leben bis dahin."
Arnold Bode schuf Räume mit einer unverwechselbaren Aura. Roger M. Buergel, Leiter der diesjährigen documenta, lobt sein Konzept, das radikal den Kunstwerken dient und die Kunstvermittlung in den Mittelpunkt stellt.
"Ich glaube, dass Ausstellungsarchitektur eines der Stiefkinder der modernen Zeit ist, weil es tatsächlich keine andere Diskussion gibt als die über die äußere Hülle von Museen, also dann Frank Gehry immer allen voran, drin sehen die Dinge halt alle gleich aus. Ich glaube aber, dass gerade also auch für den Umgang zwischen Kunst und Betrachter, und auch für das Moment des Intersubjektiven, was ja so eine große Rolle gespielt hat bei der ersten documenta, ist Ausstellungsarchitektur ein ganz, ganz wichtiges Thema, und es ist auch etwas, wo wir sehr viel Energie und Gehirnschmalz hinein investieren."
Der Kunsthistoriker Michael Glasmeier hat im vergangenen Jahr im Kasseler Fridericianum die Jubiläumsausstellung "50 Jahre documenta" gezeigt. Er sieht Bodes Ausstellungskonzept vor allem historisch, das vom Zeitgefühl der 50er Jahre lebt.
"Er hat die Ruine auf der einen Seite so in Richtung Bauhaus aufgemotzt, also unverputzte Ziegel und dann diese Plastikvorhänge und so weiter, das ist meines Erachtens irgendwie eine Mischung aus einer merkwürdigen Form, aus einer überbordenden Form, die ja auch sich in den Tapetenmustern und so weiter widerspiegelte, dieses merkwürdige Farbenfrohe, dieses merkwürdige nicht zur Ruhe kommen wollen, was die 50er Jahre ja auszeichnet. Auf der anderen Seite hat er aber meines Erachtens mit dieser Überinszenierung so etwas wie einen barocken Faden wieder aufgenommen. Das Ganze sieht letztendlich aus wie so ein Kunst- und Wunderkammerbild, was ich auch wiederum nicht unsympathisch finde."
Diese Ästhetik der Armut war anrührend und avantgardistisch zugleich. Vor der Ruine des Fridericianums wurden Kübel mit Palmen aufgestellt. So kam etwas südliche Noblesse in die vom Krieg zerstörte Stadt.
Natürlich weiß man, wie am 15. Juni 1955 die Eröffnung der ersten documenta verlief. Es war ein Freitag, und der damalige Bundespräsident Theodor Heuss hielt eine Rede. Heuss war Kunsthistoriker und hatte sich für das Zustandekommen der Ausstellung persönlich stark gemacht. Zur Eröffnung kamen Minister und Botschafter aus den westeuropäischen Ländern und natürlich die Künstler. Ein Streichquartett spielte Benjamin Britten.
Hinter dem Fridericianum liegt das documenta-Archiv. Es ist in einem preußischen Schulgebäude untergebracht. Hier müssten sich alle Belege und Dokumente finden, doch Leiterin Karin Stengel schüttelt den Kopf. Die documenta Eins ist für die Forschung ein großes Problem.
"Keiner hat systematisch gesammelt, keiner hat fotografiert, es gibt keine Filme aus dieser Zeit, ich habe wirklich auch versucht, Privatfilme zu bekommen, wir haben bisher nichts gefunden. Wenn Sie unser Aktenarchiv, wo der ganze Schriftwechsel und die Konzeptionen nachzuvollziehen sind, anschauen, haben wir gerade sechs Schachteln zur documenta Eins, und bei der documenta Elf, da werden das wahrscheinlich 200 Schachteln sein. Und im Zeitalter der E-Mails sollte ja eigentlich weniger Papier vorhanden sein, aber das ist nicht so."
1955 hatte keiner mit dem weltweiten Erfolg der documenta gerechnet, allerdings hatte Arnold Bode den Fotografen Günther Becker beauftragt, alle Ausstellungsräume und die Kunstwerke zu fotografieren.
"Deshalb haben wir wunderbare Fotos. Allerdings sind das ganz bestimmte Winkel, und wir können die documenta vielleicht bis zu 60 Prozent nachweisen, wie sie ausgesehen hat. Aber es gibt keinen hundertprozentigen Nachweis, wie sie wirklich war."
Auf den Fotos ist viel zu sehen. Die Bilder hingen nicht an der Wand, sondern waren an Stangen befestigt und standen wie Skulpturen im Raum, so als wollte Bode sagen, dass die alten Gemäuer für die Belange der neuen Zeit nicht mehr tragfähig sind. Es war ein Konzept, das schon Anfang der 40er Jahre für eine Ausstellung im New Yorker Guggenheim-Museum entwickelt worden war. 670 Kunstwerke wurden auf der ersten documenta gezeigt. 139 kamen frisch aus den Ateliers.
"Wenn man überlegt, dass er einen Picasso einen Fritz Winter gegenüber hängt, dann ist da wirklich auch eine Tat dahinter, eine initiatorische Tat, wo deutsche Kunst wieder in das europäische Kunstgeschehen eingereiht werden sollte."
Die Bilder wurden mit zeitgenössischen Skulpturen konfrontiert. Bodes Präsentation sollte alle Sinne aktivieren, sagt Heiner Georgsdorf.
"Bei den Ausstellungen gab es immer eine Tendenz, das war eben, die aktuelle Kunst zu zeigen, die aber abzufedern oder zu fundieren, zu grundieren mit dem, was zuvor in der Moderne passiert war, wobei das sehr selektiv praktiziert worden ist. Es kam den documenta-Leuten nie darauf an, ein Spektrum zu zeigen, alles zu zeigen, was eben irgendwie in der letzten Zeit, in den letzten Jahren gemacht worden war, sondern sie haben sich schon ganz gezielt die Tendenzen und die Künstler herausgesucht, die für sie wichtig waren. Und für ihn war aber gleichzeitig auch etwas anderes wichtig, das war die Präsentation der Kunst, weil er eben nicht die Kunstwerke einfach nur sammeln wollte und dann an die Wände hängen wollte, sondern für ihn war es wichtig, dass das Kunstwerk seinen Rahmen bekam, seinen Raum bekam, man kann fast sagen: seinen Tempel bekam, seinen Andachtsraum bekam."
Arnold Bode wollte den Blick auf die moderne Kunst neu justieren, seine Ausstellung sollte den verloren gegangenen Anschluss an die europäische Avantgarde ermöglichen. Sein Ziel war, der Nachkriegsgeneration Kunstwerke zu zeigen, die von den Nationalsozialisten aus den Museen entfernt worden waren.
Es ging um die Rehabilitierung der abstrakten Kunst und der ihrer Künstler, die sich als Avantgarde und Sachwalter der Freiheit verstanden. Mit dem Kunsthistoriker Werner Haftmann hatte Bode ein Konzept entwickelt, das den Besuchern mit einer radikalen Ästhetik entgegentrat. Für Harald Kimpel bildeten Bode und Haftmann das ideale Team, um die Botschaft der freien Kunst unters Volk zu bringen.
"Diese Inszenierungstheorie, also das kreative Umgehen von Kunst und Raum, das war Arnold Bodes Sache, während Werner Haftmann für die große Aufgabe, die Kunst des 20. Jahrhunderts mal Revue passieren zu lassen, dann die Theorie entwickelt hat. Werner Haftmann, der ein Jahr zuvor, nämlich 1954, sein großes Werk 'Malerei im 20. Jahrhundert' herausgegeben hatte und für Bode der naheliegende Partner war, damit er die Theorie liefert, für das was er, Bode, dann gestalterisch mit den Kunstwerken entwickelt."
Dabei ging es nicht nur um eine Kunstausstellung. Die erste documenta hatte einen klaren moralischen Anspruch, denn Haftmann und Bode wollten den geistig-moralischen Anspruch der abstrakten Moderne sichtbar machen.
Kimpel: "Das materiell vom Künstler Gemachte ist zunächst mal gar nichts, sondern es muss wie eine Partitur zum Leben gebracht werden durch Inszenierung. Und diese Inszenierung geschieht mit visuellen Mitteln. Es muss an das vom Künstler erstellte Kunstwerk eine zweite Ordnung gebracht werden, und diese zweite Ordnung ist das, was er Inszenierung genannt hat, damit das Kunstwerk überhaupt gesellschaftlich wirksam werden kann."
Das einzelne Kunstwerk war für die Ausstellungsmacher nur Teil eines größeren Zusammenhangs. Diese Vorstellung lag im Trend der Zeit. Kunsthistoriker wie Gustav René Hocke suchten in den Kunstwerken aller Epochen allgemein gültige Formen der Kunst. Mit seinen Manierismusstudien wollte Hocke den Beweis antreten, dass es archetypische Grundkonstanten gibt. Er verstand seine Studien als einen Beitrag zur "Abendländischen Menschenkunde". Nach dem Inferno des Zweiten Weltkriegs interessierte Hocke das Schicksal des Europäers.
Arnold Bode dachte ganz ähnlich. Er hatte eine "Gesellschaft für abendländische Kunst" gegründet, und auf der documenta konfrontierte er die abstrakte Kunst der Moderne mit der archaischen Kunst Afrikas. Und, sagt Heiner Georgsdorf, er verehrte Rembrandt, der im Kasseler Museum so prominent vertreten ist.
"Er liebte Rembrandt über alle Maßen, er liebte die Kunst Afrikas, nicht aus ethnographischem Interesse heraus, sondern eben weil er dort große Künstler am Werke sah, die schon vor hunderten von Jahren Werke, vergleichbar mit den Renaissance-Künstlern, geschaffen haben. Also da hatte er einen universellen Kunstbergriff, das hat uns auch geprägt als Studenten, wir waren also offen für alles, und diese Trennung oder dieser Gegensatz zwischen alt und modern, der immer wieder hochgespielt wird, den kannten wir nicht. Für uns war alles, was mit Kunst zu tun hatte, gleichermaßen wichtig, ob es nun aus Fernost kam oder eben aus Europa, aus der Gotik oder aus dem 20.Jahrhundert."
Eine globale Kunstauffassung, die Roger M. Buergel im Ansatz richtig findet, und die er auf seine Weise auch umsetzen will. Er wird auf seiner documenta erstmals "Alte Meister" zeigen. Entwicklungslinien sollen so sichtbar werden.
"Haftmann und Bode haben auch immer noch das Bedürfnis verspürt, moderne Kunst zu legitimieren, und dazu ist eben einfach dann auf das Kunstmachen als eine anthropologische Konstante über alle Kulturen hinweg, über alle Zeiten hinweg hingewiesen worden. Universalistisch und in diesem Sinne modern war die documenta von Anfang an. Universalistisch meinte damals italienisch, französisch, deutsch. Das ist heute ein bisschen komplizierter. Aber trotzdem ist diese Idee richtig, also sich zu fragen, ob es nicht über alle Differenzen hinweg etwas gibt, das Menschen verbindet, und wenn es jetzt nur der gute Wille ist, miteinander zu tun zu haben."
Gibt es verbindliche Regeln der Kunst? Die Frage wurde in Kassel schon oft gestellt, und Roger M. Buergel wird sie auf der diesjährigen documenta noch einmal stellen.
"Bei ästhetischen Formen haben wir es mit neutralen Figuren zu tun, die aber jeweils scharf gemacht werden können in unterschiedlichen lokalen Kontexten. Und das erlaubt uns dann einfach Beziehungen herzustellen, weil man einfach sieht, und das sieht man durchs Reisen, dass eine Theatergruppe in Wladiwostok zu ähnlichen formalen Ergebnissen kommt wie eine Theatergruppe in São Paulo. Und da fängt man halt an eben nachzudenken und fragt sich, ist das jetzt Zufall oder gibt’s da etwas? Also gibt es da einen Kanon, auf den die sich beziehen, vielleicht auch ohne das auch zu wissen? Da ist aber auch wichtig zu betonen, dass wir das wahrscheinlich auch nicht entscheiden können. Wir können es nur nutzbar machen, einfach weil dann auch ein Betrachter oder Betrachterin plötzlich zu einer Vergleichbarkeit kommt, und das finde ich halt interessant."
1955 war das bevorzugte Medium die abstrakte Kunst, die Arnold Bode als ein Fanal der Freiheit verstand. Historisch war es auch der Versuch, die Kunst von den Niederungen der Politik fernzuhalten, sagt Harald Kimpel.
"Die abstrakte Kunst konnte ja für Westdeutschland im hohen Maße politisch genutzt werden, als Beleg dafür, dass man den Faschismus, der ja mit realistischen oder mit naturalistischen Mitteln gearbeitet hat, überwunden hat. Man bedient sich nicht mehr Kunstformen, die in irgendeiner Weise politisch instrumentalisiert werden können, sondern man begreift, begriff damals die abstrakte Kunst als den ultimativen Ausdruck von Freiheit. Von Freiheit, wie er in der Nachkriegszeit für die westdeutsche Gesellschaft wiedergewonnen wurde. Und diese Freiheit drückt sich in der abstrakten Kunst aus und drückt sich somit auch aus in einer Ausstellung, die diese abstrakte Kunst zeigt."
Auf der ersten documenta gab es keine realistische Kunst, weil sie nach Ansicht Arnold Bodes der realen Welt zu distanzlos entgegentrat.
Glasmeier: "Wenn ich versuche, mir da einen Reim drauf zu machen, ist ja die abstrakte Kunst einmal zu sehen als eine Gegenrichtung zu jeglicher Form von Realismus. Realismus war immer auch politisch, und dieses Politische sollte eigentlich aus der Ausstellung ferngehalten werden, obwohl die Ausstellung selber ein Politikum war, sollte das Politische rausgehalten werden. Letztendlich ist es eine rein bürgerliche Ausstellung geworden."
Michael Glasmeier benennt die politischen Kraftfelder, in denen die erste documenta stand.
"Also das waren Heroen, die Abstrakten. Unverstanden vom Volk, von den Linken verfeindet und von den Konservativen verfeindet. Was kann es besseres geben? Ich meine, da ist man in einer richtig schönen Märtyrer-Situation."
Während die abstrakten Künstler von ihrem Olymp auf Schuld und Trümmer schauten, beklagten konservative Geister mit ihrem Wortführer Hans Sedlmayr den "Verlust der Mitte". Das gleichnamige Buch war kurz nach dem Krieg erschienen und sammelte alle Argumente, die sich gegen die abstrakte Moderne finden ließen.
"Der Sedlmayr war ein Nazi, das dürfen wir nicht vergessen, zumindest Sympathisant, und dass ausgerechnet er vom "Verlust der Mitte" redet, und die Künstler müssen sich dann hinterher vor diesem Sedlmayr verteidigen, dass ist alles ein sehr, sehr merkwürdiges Spiel. Und gleichzeitig schießt dann noch die Linke aus der gleichen Richtung. Was der Stalinismus mit der russischen Avantgarde gemacht hat, ist ja bekannt. Und dieses Zusammenfließen, was immer wieder stattgefunden hat, von Konservatismus und Linken, gerade was Kunst angeht, das ist eine Sache, die meines Erachtens auch noch nicht richtig diskutiert worden ist."
Die beständige Kritik an den documenta-Ausstellungen findet in diesem Konflikt eine ihrer tiefsten Wurzeln.
"Diese Konservativen, die waren damals da, letztendlich war ja noch bei dem Bohrloch auf der documenta 6, da war ja noch eine unglaubliche Aufregung, von Walter de Maria dieses bunte Bohrloch, um die Kunst, und was soll das und so weiter und so fort. Und die Konservativen waren immer an vorderster Front, nur schämt man sich heute dieser Geschichten. Wenn Sie im documenta-Archiv nachlesen, wird Ihnen absolut schlecht. Es waren immer noch die alten Pfeifen dabei, ihr Süppchen zu kochen und das ist das große Problem."
Die erste documenta fand in einem politisch schwierigen Umfeld statt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Kassel im Zonenrandgebiet. Ein paar Kilometer östlich verlief die innerdeutsche Grenze. Hier spürte die Bevölkerung den "Verlust der Mitte" ganz unmittelbar. Doch gerade deshalb gab es entsprechende Ressentiments. Die erste documenta, sagt Heiner Georgsdorf, hatte bei der Kasseler Bevölkerung einen schweren Stand.
"Was die Resonanz der Bevölkerung anbetrifft, fang ich bei meiner Klasse an. Ich glaube, ich war der Einzige, vielleicht gab es noch einen zweiten Mitschüler, der in der documenta war. Die documenta, das war schon etwas Merkwürdiges für die Kasselaner, bis hin zu meinem Kunsterzieher, der also furchtbar schimpfte auf die documenta, der konnte da nicht viel mit anfangen. Und dieser Widerstand oder dieses zögernde Verhalten gegenüber der documenta setzt sich glaube ich bis heute hin fort. Aber ich denke, es ist jetzt kein aktiver und militanter Widerstand mehr, sondern ein Abwarten, und gleichzeitig paart sich das auch mit einem Stolz darauf, dass es die documenta gibt, auch bei Leuten, die mit ihrem ganzen Inhalt nichts anzufangen verstehen, sind trotzdem sicher dafür, dass Kassel die documenta-Stadt ist."
Auch Roger M. Buergel behält bei seiner documenta die einheimische Bevölkerung im Blick, denn Kassel soll auf gar keinen Fall zur bloßen Kulisse für ein weltweites Kunstspektakel werden.
""Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen würde als Kasselaner, wenn alle fünf Jahre dieser Tsunami kommt und man selber da als Versuchskaninchen da immer für irgendwelche Sozialexperimente herhalten muss. Also ich habe eigentlich nicht den Eindruck, dass es da bei der Bevölkerung eine Feindlichkeit gibt. Es gibt eine gesunde Skepsis, und ich glaube aber, dass auch inzwischen längst klar ist, aber das ist auch wieder documenta-Tradition, dass Kassel tatsächlich ein Spielort ist und dass Kassel auch ein Thema sein kann. Dass es jetzt ja nicht darum geht, da irgendwie so ein rebellisches Dorf zu missionieren, sondern dass ganz klar ist, dass das eine Ausstellung ist, die für ein großes Publikum gemacht wird, also für Mittelschichten letztendlich und für deren Orientierungssystem."
Und so will die diesjährige documenta – wie schon in den 50er Jahren – erneut beides sein: Ein Ereignis für die nordhessische Bevölkerung und eine Kunstausstellung mit überregionaler Strahlkraft.
Anfang der 70er Jahre hatte die Realismusdebatte auch Kassel eingeholt. Mit der documenta Fünf stellte Harald Szeemann Bodes Konzept radikal infrage. Die ersten Nachkriegsjahre waren nunmehr Geschichte, und eine neue Ära begann, sagt Heiner Georgsdorf.
"Für Arnold Bode war Kunst, das Kunstwerk etwas Schützenswertes, und deshalb hat er auch große Probleme auch gehabt, als 1972 eine Kunst hereinbrach, die sich für das Triviale interessierte und das Triviale fast ungefiltert in die documenta hinein ließ, das war sehr schwer zu verkraften. Bis 1968 ging es einfach immer darum, dem Kunstwerk einen adäquaten Raum zu bieten, und Bode hatte eben einen heroischen Kunstbegriff."
Bodes heroischer Kunstbegriff konnte die Tradition der realistischen Kunst nur unvollkommen ersetzen. Trotzdem ist Bodes documenta das Datum für den Neubeginn.
"Er ist einfach der Erfinder, er hat sie immer gewollt, und alle anderen Aspekte, dass es eben eine Maßnahme im Kalten Krieg war, eine kulturpolitische Maßnahme im Kalten Krieg, das sind Aspekte, die auch möglicherweise mit einfließen und die auch Bode die Chance gaben, die documenta dann zu realisieren. Aber wenn er nicht da gewesen wäre, hätte diese documenta nicht stattgefunden, für mich gäbe es keine documenta ohne Arnold Bode."
Heiner Georgsdorf staunt noch immer, zumal die documenta seit einem halben Jahrhundert ein von der Kunstwelt akzeptiertes Leitmedium ist. Das wird auch diesmal so sein, wenn Roger M. Buergel seine documenta zeigt, die sich Arnold Bode noch immer verpflichtet fühlt.
"Urknall, wenn Sie das sagen, ist das eine sehr schöne Vokabel, wobei der Knall eigentlich als ein einmaliges Ereignis gedacht war und keine Ausweitung im Sinne hatte, sondern Arnold Bode dachte zunächst mal an eine Einzelmaßnahme, an eine Ausstellung von ganz bescheidenen Ausmaßen, nämlich eher als Rahmenveranstaltung zu der sehr viel höherwertig, publikumsträchtig, bedeutender gedachten Bundesgartenschau."
Harald Kimpel sitzt in einem winzigen Büro. Das Kulturamt im Kasseler Rathaus ist von oben bis unten mit Büchern und Zetteln vollgestopft. Harald Kimpel hat Mythos und Wirklichkeit der documenta gründlich studiert, aber für persönliche Erinnerungen an die erste documenta ist er entschieden zu jung.
Bei Heiner Georgsdorf ist das ganz anders. Der Kunstpädagoge war ein Schüler des documenta-Gründers Arnold Bode.
"Es war eben ein Glücksfall, dass sein Kollege und Freund, Hermann Matern, damals eine Ausstellung über die moderne Kunst in Kassel haben wollte, und Bode hat das eben als die große Chance gesehen, in einer Zeit, wo alles daran dachte, die Spuren des Krieges zu beseitigen, und jeder versuchte eben seine Wohnung so im Kleinen so hübsch wie möglich wieder herzurichten – mit dem, was es damals gab, und das war nicht allzu viel. Es gab zwar schon in Deutschland in der Nachkriegszeit einiges zu sehen, was in den dreizehn und zwölf Jahren zuvor nicht zu sehen war, aber in dieser Wucht und in dieser Menge war es die erste große Chance, sich wieder mit der verfemten Kunst, der entarteten Kunst, vertraut zu machen. Es war ein großer Durst auch danach, ein großer Hunger nach diesen Bildern, die man zum Teil schon kannte, aber wenn man sie kannte, meistens aus schlechten Schwarzweiß-Reproduktionen. Es war so eine Ahnung, dass da etwas Großartiges auf einen zukommen könnte."
Auch Heinz Hunstein kann sich an den Anfang noch gut erinnern. Er sitzt in seinem Wohnzimmer, wo schon viele Künstler und Kuratoren gesessen haben. 1955 war er knapp 30 Jahre alt. Die documenta-Macher kamen alle in die Praxis seiner kunstbegeisterten Mutter, die in Kassel Zahnärztin war.
"Durch das Dritte Reich war das ja ein Bomben-Nachholbedarf, den man dann befrieden konnte. Mein Vater hat ein bisschen gemalt, als Junge, er war mit einem Maler befreundet. Hier war ewig was so mit vielen Bildern, die hingen da in der Wohnung, und dadurch war man dann schon so ein bisschen vorbereitet, in Sachen Kunst sich mal Gedanken zu machen. Und das war schon toll."
Wenn ein Politiker im Dritten Reich ein Atelier besuchte, kam er gern in Uniform. Der Künstler stand im weißen Kittel daneben, wie ein Chefarzt bei der Chefvisite. Arzt und Soldat waren ein Synonym für die heroische Kunst eines gesunden Volkskörpers. Als der Nationalsozialismus vorbei war, wurden auf der documenta Bilder und Skulpturen gezeigt, die in Deutschland in diesem Umfang zum letzten Mal 1937 zu sehen waren.
Die Ausstellung "Entartete Kunst" war eine bösartige Inszenierung, zu der über drei Millionen Menschen kamen. Dagegen nahmen sich die 130.000 documenta-Besucher eher bescheiden aus, sagt der Bremer Kunsthistoriker Michael Glasmeier.
"Ich vergleiche die Ausstellung immer mit der Ausstellung 'Entartete Kunst', weil beide eigentlich das gleiche Programm hatten nur in unterschiedlichen Ausrichtungen. Aber was bei Bode absolut fehlte, ist beispielsweise der Dadaismus oder Surrealismus und solche Positionen, die ja damals schon sehr weit verbreitet waren, sondern er orientiert sich wirklich an den Abstrakten an der Kandinsky-Nachfolge und nicht quasi an den Anarchisten in der Kunst, die es eben in den 20er und 30er Jahren auch gab."
Bei Heinz Hunstein liegt im Flur unter der Treppe ein Stück Bohrer, den der Künstler Walter de Maria während der documenta Sechs verwendet hatte, um seinen Erdkilometer in den Friedrichsplatz zu bohren. Ein spektakuläres Kunstwerk, mit einer unvergleichlichen Aura: Man kann es nicht sehen, man kann es nicht wegtragen und es ist garantiert vollkommen nutzlos. Für solche Aktionskunst hatte Arnold Bode keinen Sinn, seine Wertschätzung galt der abstrakten Kunst und den abstrakten Künstlern, die er nach Kräften unterstützte.
Hunstein: "Arnold Bode war wirklich ein besessener Arbeiter, der dauernd dran gedreht und vorwärts getrieben hat und hat immer gern sich mit Leuten umgeben hat, wo er das Gefühl hatte, dass man ihn unterstützt. Das war für ihn ganz wichtig. Er wollte das also innerhalb seines Freundeskreises immer auf eine möglichst breite Ebene stellen. Und das hat mich sehr beeindruckt auch in meiner Haltung, in meinem späteren Leben in Sachen Kultur, wenn man mit Künstlern umgeht, muss man sich erst einmal selbst vergessen und sich ganz der Sache hingeben. Nicht einfach so mitlaufen, sondern eine Leidenschaftlichkeit bringen, die dann andere auch begeistern kann."
Nicht nur Heinz Hunstein verehrt Arnold Bode, auch sein Schüler Heiner Georgsdorf.
"Er hatte karierte Jacken. Er war sehr elegant. Seine Frau, die Marlou, die erzählte immer, dass er auch schon zum Frühstück im Hemd mit Schlips und mit Sakko kam. Und dass er immer sehr großen Wert darauf legte, auf äußeres gepflegtes Erscheinen. Aber in dem Anzug steckte eben ein Zauberer. Arnold Bode war aus meiner Sicht ein Menschenfänger. Wie er das eigentlich machte, kann man gar nicht mehr so nachvollziehen. Man muss eigentlich diese unmittelbare Gegenwart erlebt haben. Das fand ich eigentlich immer sehr bewundernswert, dass er nicht da von sich erzählte und von den großartigen Dingen, die er jetzt vorhatte, sondern dass er immer von wir sprach. Er hatte eben ein wir, was kein Pluralis Majestatis war, sondern was uns alle mit einbezog. Und jeder hatte das Gefühl, es kommt auf mich drauf an, also ich muss jetzt mitmachen, ich muss das jetzt unterstützen, ich will das auch. Und er ging einfach davon aus, dass jeder so denken musste wie er, weil es ging ja um die gemeinsame Sache, es ging um die Kunst und die sollte uns alle verbinden."
1953 hatte Arnold Bode in Mailand eine Picasso-Ausstellung gesehen. Die Bilder hingen in einer Schlossruine. Es gab weiß geschlämmte Wände und eine temporäre Ausstellungsarchitektur. Eine Ästhetik, die später auch in Kassel zu finden war. Es wird erzählt, Arnold Bode sei mit Studenten durch die kriegszerstörte Stadt gegangen.
Das Fridericianum war der erste öffentliche Museumsbau auf dem europäischen Kontinent. Nach dem Krieg war das klassizistische Gebäude ausgebrannt. Es standen nur noch die Außenmauern, eine Fassade ohne Inhalt. Plötzlich war sich Bode ganz sicher: Die Ruine des Fridericianums war der richtige Ort, um zeitgenössische Kunst zu zeigen.
Gleich am Eingang trafen die Besucher auf eine Galerie mit Porträts der ausgestellten Künstler. Markante Gesichter, die Heiner Georgsdorf nicht vergessen kann.
"Das war wie eine Schranke, wie ein Lettner in einer mittelalterlichen Kirche. Man musste hindurch, man wurde sozusagen gereinigt, und das waren die Porträts der Künstler der documenta-Werke. Es war so eine Art aufzeigen, das sind jetzt keine Menschen, von denen ihr jetzt Werke seht, die euch verarschen wollen, sondern schaut sie euch an, was das für Menschen sind. Das waren wunderbare Gesichter, die man sah, wunderbare Persönlichkeiten. Man hat begriffen, denen kann man vertrauen."
Erst danach kamen die Besucher in die eigentliche Ausstellung.
Georgsdorf: "Weiß geschlämmte Wände, die kannte ich bloß aus dem Hühnerstall meines Großvaters, wo das gegen Ungeziefer gemacht worden war, dass man da Kalk nahm, in einer Zeit, als es die ersten Nylonhemden gab, da war dieser Kunststoff noch etwas Faszinierendes. Und eines meiner größten Erlebnisse, die ich heute noch erinnere, ist eben dieser Skulpturensaal, der wie ein Sanktuarium aufgebaut war, wie ein Kirchenschiff, in dem man auf das Allerheiligste zuging und dieses Allerheiligste war damals das Königspaar von Henry Moore."
"Es war im Sommer, die Fenster standen offen. Davor waren die deckenhohen Plastikvorhänge, milchigen Plastikvorhänge, angebracht, die sich aber im Zuge der Luft, die durch die offnen Fenster hereinkam, aufbauschten. Und da kam eine Bewegung rein, und diese Bewegung teilte sich für mich so auf die Figuren mit. Plötzlich bekam dieser ganze Saal etwas ganz Lebendiges. Es gab nichts Vergleichbares in meinem Leben bis dahin."
Arnold Bode schuf Räume mit einer unverwechselbaren Aura. Roger M. Buergel, Leiter der diesjährigen documenta, lobt sein Konzept, das radikal den Kunstwerken dient und die Kunstvermittlung in den Mittelpunkt stellt.
"Ich glaube, dass Ausstellungsarchitektur eines der Stiefkinder der modernen Zeit ist, weil es tatsächlich keine andere Diskussion gibt als die über die äußere Hülle von Museen, also dann Frank Gehry immer allen voran, drin sehen die Dinge halt alle gleich aus. Ich glaube aber, dass gerade also auch für den Umgang zwischen Kunst und Betrachter, und auch für das Moment des Intersubjektiven, was ja so eine große Rolle gespielt hat bei der ersten documenta, ist Ausstellungsarchitektur ein ganz, ganz wichtiges Thema, und es ist auch etwas, wo wir sehr viel Energie und Gehirnschmalz hinein investieren."
Der Kunsthistoriker Michael Glasmeier hat im vergangenen Jahr im Kasseler Fridericianum die Jubiläumsausstellung "50 Jahre documenta" gezeigt. Er sieht Bodes Ausstellungskonzept vor allem historisch, das vom Zeitgefühl der 50er Jahre lebt.
"Er hat die Ruine auf der einen Seite so in Richtung Bauhaus aufgemotzt, also unverputzte Ziegel und dann diese Plastikvorhänge und so weiter, das ist meines Erachtens irgendwie eine Mischung aus einer merkwürdigen Form, aus einer überbordenden Form, die ja auch sich in den Tapetenmustern und so weiter widerspiegelte, dieses merkwürdige Farbenfrohe, dieses merkwürdige nicht zur Ruhe kommen wollen, was die 50er Jahre ja auszeichnet. Auf der anderen Seite hat er aber meines Erachtens mit dieser Überinszenierung so etwas wie einen barocken Faden wieder aufgenommen. Das Ganze sieht letztendlich aus wie so ein Kunst- und Wunderkammerbild, was ich auch wiederum nicht unsympathisch finde."
Diese Ästhetik der Armut war anrührend und avantgardistisch zugleich. Vor der Ruine des Fridericianums wurden Kübel mit Palmen aufgestellt. So kam etwas südliche Noblesse in die vom Krieg zerstörte Stadt.
Natürlich weiß man, wie am 15. Juni 1955 die Eröffnung der ersten documenta verlief. Es war ein Freitag, und der damalige Bundespräsident Theodor Heuss hielt eine Rede. Heuss war Kunsthistoriker und hatte sich für das Zustandekommen der Ausstellung persönlich stark gemacht. Zur Eröffnung kamen Minister und Botschafter aus den westeuropäischen Ländern und natürlich die Künstler. Ein Streichquartett spielte Benjamin Britten.
Hinter dem Fridericianum liegt das documenta-Archiv. Es ist in einem preußischen Schulgebäude untergebracht. Hier müssten sich alle Belege und Dokumente finden, doch Leiterin Karin Stengel schüttelt den Kopf. Die documenta Eins ist für die Forschung ein großes Problem.
"Keiner hat systematisch gesammelt, keiner hat fotografiert, es gibt keine Filme aus dieser Zeit, ich habe wirklich auch versucht, Privatfilme zu bekommen, wir haben bisher nichts gefunden. Wenn Sie unser Aktenarchiv, wo der ganze Schriftwechsel und die Konzeptionen nachzuvollziehen sind, anschauen, haben wir gerade sechs Schachteln zur documenta Eins, und bei der documenta Elf, da werden das wahrscheinlich 200 Schachteln sein. Und im Zeitalter der E-Mails sollte ja eigentlich weniger Papier vorhanden sein, aber das ist nicht so."
1955 hatte keiner mit dem weltweiten Erfolg der documenta gerechnet, allerdings hatte Arnold Bode den Fotografen Günther Becker beauftragt, alle Ausstellungsräume und die Kunstwerke zu fotografieren.
"Deshalb haben wir wunderbare Fotos. Allerdings sind das ganz bestimmte Winkel, und wir können die documenta vielleicht bis zu 60 Prozent nachweisen, wie sie ausgesehen hat. Aber es gibt keinen hundertprozentigen Nachweis, wie sie wirklich war."
Auf den Fotos ist viel zu sehen. Die Bilder hingen nicht an der Wand, sondern waren an Stangen befestigt und standen wie Skulpturen im Raum, so als wollte Bode sagen, dass die alten Gemäuer für die Belange der neuen Zeit nicht mehr tragfähig sind. Es war ein Konzept, das schon Anfang der 40er Jahre für eine Ausstellung im New Yorker Guggenheim-Museum entwickelt worden war. 670 Kunstwerke wurden auf der ersten documenta gezeigt. 139 kamen frisch aus den Ateliers.
"Wenn man überlegt, dass er einen Picasso einen Fritz Winter gegenüber hängt, dann ist da wirklich auch eine Tat dahinter, eine initiatorische Tat, wo deutsche Kunst wieder in das europäische Kunstgeschehen eingereiht werden sollte."
Die Bilder wurden mit zeitgenössischen Skulpturen konfrontiert. Bodes Präsentation sollte alle Sinne aktivieren, sagt Heiner Georgsdorf.
"Bei den Ausstellungen gab es immer eine Tendenz, das war eben, die aktuelle Kunst zu zeigen, die aber abzufedern oder zu fundieren, zu grundieren mit dem, was zuvor in der Moderne passiert war, wobei das sehr selektiv praktiziert worden ist. Es kam den documenta-Leuten nie darauf an, ein Spektrum zu zeigen, alles zu zeigen, was eben irgendwie in der letzten Zeit, in den letzten Jahren gemacht worden war, sondern sie haben sich schon ganz gezielt die Tendenzen und die Künstler herausgesucht, die für sie wichtig waren. Und für ihn war aber gleichzeitig auch etwas anderes wichtig, das war die Präsentation der Kunst, weil er eben nicht die Kunstwerke einfach nur sammeln wollte und dann an die Wände hängen wollte, sondern für ihn war es wichtig, dass das Kunstwerk seinen Rahmen bekam, seinen Raum bekam, man kann fast sagen: seinen Tempel bekam, seinen Andachtsraum bekam."
Arnold Bode wollte den Blick auf die moderne Kunst neu justieren, seine Ausstellung sollte den verloren gegangenen Anschluss an die europäische Avantgarde ermöglichen. Sein Ziel war, der Nachkriegsgeneration Kunstwerke zu zeigen, die von den Nationalsozialisten aus den Museen entfernt worden waren.
Es ging um die Rehabilitierung der abstrakten Kunst und der ihrer Künstler, die sich als Avantgarde und Sachwalter der Freiheit verstanden. Mit dem Kunsthistoriker Werner Haftmann hatte Bode ein Konzept entwickelt, das den Besuchern mit einer radikalen Ästhetik entgegentrat. Für Harald Kimpel bildeten Bode und Haftmann das ideale Team, um die Botschaft der freien Kunst unters Volk zu bringen.
"Diese Inszenierungstheorie, also das kreative Umgehen von Kunst und Raum, das war Arnold Bodes Sache, während Werner Haftmann für die große Aufgabe, die Kunst des 20. Jahrhunderts mal Revue passieren zu lassen, dann die Theorie entwickelt hat. Werner Haftmann, der ein Jahr zuvor, nämlich 1954, sein großes Werk 'Malerei im 20. Jahrhundert' herausgegeben hatte und für Bode der naheliegende Partner war, damit er die Theorie liefert, für das was er, Bode, dann gestalterisch mit den Kunstwerken entwickelt."
Dabei ging es nicht nur um eine Kunstausstellung. Die erste documenta hatte einen klaren moralischen Anspruch, denn Haftmann und Bode wollten den geistig-moralischen Anspruch der abstrakten Moderne sichtbar machen.
Kimpel: "Das materiell vom Künstler Gemachte ist zunächst mal gar nichts, sondern es muss wie eine Partitur zum Leben gebracht werden durch Inszenierung. Und diese Inszenierung geschieht mit visuellen Mitteln. Es muss an das vom Künstler erstellte Kunstwerk eine zweite Ordnung gebracht werden, und diese zweite Ordnung ist das, was er Inszenierung genannt hat, damit das Kunstwerk überhaupt gesellschaftlich wirksam werden kann."
Das einzelne Kunstwerk war für die Ausstellungsmacher nur Teil eines größeren Zusammenhangs. Diese Vorstellung lag im Trend der Zeit. Kunsthistoriker wie Gustav René Hocke suchten in den Kunstwerken aller Epochen allgemein gültige Formen der Kunst. Mit seinen Manierismusstudien wollte Hocke den Beweis antreten, dass es archetypische Grundkonstanten gibt. Er verstand seine Studien als einen Beitrag zur "Abendländischen Menschenkunde". Nach dem Inferno des Zweiten Weltkriegs interessierte Hocke das Schicksal des Europäers.
Arnold Bode dachte ganz ähnlich. Er hatte eine "Gesellschaft für abendländische Kunst" gegründet, und auf der documenta konfrontierte er die abstrakte Kunst der Moderne mit der archaischen Kunst Afrikas. Und, sagt Heiner Georgsdorf, er verehrte Rembrandt, der im Kasseler Museum so prominent vertreten ist.
"Er liebte Rembrandt über alle Maßen, er liebte die Kunst Afrikas, nicht aus ethnographischem Interesse heraus, sondern eben weil er dort große Künstler am Werke sah, die schon vor hunderten von Jahren Werke, vergleichbar mit den Renaissance-Künstlern, geschaffen haben. Also da hatte er einen universellen Kunstbergriff, das hat uns auch geprägt als Studenten, wir waren also offen für alles, und diese Trennung oder dieser Gegensatz zwischen alt und modern, der immer wieder hochgespielt wird, den kannten wir nicht. Für uns war alles, was mit Kunst zu tun hatte, gleichermaßen wichtig, ob es nun aus Fernost kam oder eben aus Europa, aus der Gotik oder aus dem 20.Jahrhundert."
Eine globale Kunstauffassung, die Roger M. Buergel im Ansatz richtig findet, und die er auf seine Weise auch umsetzen will. Er wird auf seiner documenta erstmals "Alte Meister" zeigen. Entwicklungslinien sollen so sichtbar werden.
"Haftmann und Bode haben auch immer noch das Bedürfnis verspürt, moderne Kunst zu legitimieren, und dazu ist eben einfach dann auf das Kunstmachen als eine anthropologische Konstante über alle Kulturen hinweg, über alle Zeiten hinweg hingewiesen worden. Universalistisch und in diesem Sinne modern war die documenta von Anfang an. Universalistisch meinte damals italienisch, französisch, deutsch. Das ist heute ein bisschen komplizierter. Aber trotzdem ist diese Idee richtig, also sich zu fragen, ob es nicht über alle Differenzen hinweg etwas gibt, das Menschen verbindet, und wenn es jetzt nur der gute Wille ist, miteinander zu tun zu haben."
Gibt es verbindliche Regeln der Kunst? Die Frage wurde in Kassel schon oft gestellt, und Roger M. Buergel wird sie auf der diesjährigen documenta noch einmal stellen.
"Bei ästhetischen Formen haben wir es mit neutralen Figuren zu tun, die aber jeweils scharf gemacht werden können in unterschiedlichen lokalen Kontexten. Und das erlaubt uns dann einfach Beziehungen herzustellen, weil man einfach sieht, und das sieht man durchs Reisen, dass eine Theatergruppe in Wladiwostok zu ähnlichen formalen Ergebnissen kommt wie eine Theatergruppe in São Paulo. Und da fängt man halt an eben nachzudenken und fragt sich, ist das jetzt Zufall oder gibt’s da etwas? Also gibt es da einen Kanon, auf den die sich beziehen, vielleicht auch ohne das auch zu wissen? Da ist aber auch wichtig zu betonen, dass wir das wahrscheinlich auch nicht entscheiden können. Wir können es nur nutzbar machen, einfach weil dann auch ein Betrachter oder Betrachterin plötzlich zu einer Vergleichbarkeit kommt, und das finde ich halt interessant."
1955 war das bevorzugte Medium die abstrakte Kunst, die Arnold Bode als ein Fanal der Freiheit verstand. Historisch war es auch der Versuch, die Kunst von den Niederungen der Politik fernzuhalten, sagt Harald Kimpel.
"Die abstrakte Kunst konnte ja für Westdeutschland im hohen Maße politisch genutzt werden, als Beleg dafür, dass man den Faschismus, der ja mit realistischen oder mit naturalistischen Mitteln gearbeitet hat, überwunden hat. Man bedient sich nicht mehr Kunstformen, die in irgendeiner Weise politisch instrumentalisiert werden können, sondern man begreift, begriff damals die abstrakte Kunst als den ultimativen Ausdruck von Freiheit. Von Freiheit, wie er in der Nachkriegszeit für die westdeutsche Gesellschaft wiedergewonnen wurde. Und diese Freiheit drückt sich in der abstrakten Kunst aus und drückt sich somit auch aus in einer Ausstellung, die diese abstrakte Kunst zeigt."
Auf der ersten documenta gab es keine realistische Kunst, weil sie nach Ansicht Arnold Bodes der realen Welt zu distanzlos entgegentrat.
Glasmeier: "Wenn ich versuche, mir da einen Reim drauf zu machen, ist ja die abstrakte Kunst einmal zu sehen als eine Gegenrichtung zu jeglicher Form von Realismus. Realismus war immer auch politisch, und dieses Politische sollte eigentlich aus der Ausstellung ferngehalten werden, obwohl die Ausstellung selber ein Politikum war, sollte das Politische rausgehalten werden. Letztendlich ist es eine rein bürgerliche Ausstellung geworden."
Michael Glasmeier benennt die politischen Kraftfelder, in denen die erste documenta stand.
"Also das waren Heroen, die Abstrakten. Unverstanden vom Volk, von den Linken verfeindet und von den Konservativen verfeindet. Was kann es besseres geben? Ich meine, da ist man in einer richtig schönen Märtyrer-Situation."
Während die abstrakten Künstler von ihrem Olymp auf Schuld und Trümmer schauten, beklagten konservative Geister mit ihrem Wortführer Hans Sedlmayr den "Verlust der Mitte". Das gleichnamige Buch war kurz nach dem Krieg erschienen und sammelte alle Argumente, die sich gegen die abstrakte Moderne finden ließen.
"Der Sedlmayr war ein Nazi, das dürfen wir nicht vergessen, zumindest Sympathisant, und dass ausgerechnet er vom "Verlust der Mitte" redet, und die Künstler müssen sich dann hinterher vor diesem Sedlmayr verteidigen, dass ist alles ein sehr, sehr merkwürdiges Spiel. Und gleichzeitig schießt dann noch die Linke aus der gleichen Richtung. Was der Stalinismus mit der russischen Avantgarde gemacht hat, ist ja bekannt. Und dieses Zusammenfließen, was immer wieder stattgefunden hat, von Konservatismus und Linken, gerade was Kunst angeht, das ist eine Sache, die meines Erachtens auch noch nicht richtig diskutiert worden ist."
Die beständige Kritik an den documenta-Ausstellungen findet in diesem Konflikt eine ihrer tiefsten Wurzeln.
"Diese Konservativen, die waren damals da, letztendlich war ja noch bei dem Bohrloch auf der documenta 6, da war ja noch eine unglaubliche Aufregung, von Walter de Maria dieses bunte Bohrloch, um die Kunst, und was soll das und so weiter und so fort. Und die Konservativen waren immer an vorderster Front, nur schämt man sich heute dieser Geschichten. Wenn Sie im documenta-Archiv nachlesen, wird Ihnen absolut schlecht. Es waren immer noch die alten Pfeifen dabei, ihr Süppchen zu kochen und das ist das große Problem."
Die erste documenta fand in einem politisch schwierigen Umfeld statt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Kassel im Zonenrandgebiet. Ein paar Kilometer östlich verlief die innerdeutsche Grenze. Hier spürte die Bevölkerung den "Verlust der Mitte" ganz unmittelbar. Doch gerade deshalb gab es entsprechende Ressentiments. Die erste documenta, sagt Heiner Georgsdorf, hatte bei der Kasseler Bevölkerung einen schweren Stand.
"Was die Resonanz der Bevölkerung anbetrifft, fang ich bei meiner Klasse an. Ich glaube, ich war der Einzige, vielleicht gab es noch einen zweiten Mitschüler, der in der documenta war. Die documenta, das war schon etwas Merkwürdiges für die Kasselaner, bis hin zu meinem Kunsterzieher, der also furchtbar schimpfte auf die documenta, der konnte da nicht viel mit anfangen. Und dieser Widerstand oder dieses zögernde Verhalten gegenüber der documenta setzt sich glaube ich bis heute hin fort. Aber ich denke, es ist jetzt kein aktiver und militanter Widerstand mehr, sondern ein Abwarten, und gleichzeitig paart sich das auch mit einem Stolz darauf, dass es die documenta gibt, auch bei Leuten, die mit ihrem ganzen Inhalt nichts anzufangen verstehen, sind trotzdem sicher dafür, dass Kassel die documenta-Stadt ist."
Auch Roger M. Buergel behält bei seiner documenta die einheimische Bevölkerung im Blick, denn Kassel soll auf gar keinen Fall zur bloßen Kulisse für ein weltweites Kunstspektakel werden.
""Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen würde als Kasselaner, wenn alle fünf Jahre dieser Tsunami kommt und man selber da als Versuchskaninchen da immer für irgendwelche Sozialexperimente herhalten muss. Also ich habe eigentlich nicht den Eindruck, dass es da bei der Bevölkerung eine Feindlichkeit gibt. Es gibt eine gesunde Skepsis, und ich glaube aber, dass auch inzwischen längst klar ist, aber das ist auch wieder documenta-Tradition, dass Kassel tatsächlich ein Spielort ist und dass Kassel auch ein Thema sein kann. Dass es jetzt ja nicht darum geht, da irgendwie so ein rebellisches Dorf zu missionieren, sondern dass ganz klar ist, dass das eine Ausstellung ist, die für ein großes Publikum gemacht wird, also für Mittelschichten letztendlich und für deren Orientierungssystem."
Und so will die diesjährige documenta – wie schon in den 50er Jahren – erneut beides sein: Ein Ereignis für die nordhessische Bevölkerung und eine Kunstausstellung mit überregionaler Strahlkraft.
Anfang der 70er Jahre hatte die Realismusdebatte auch Kassel eingeholt. Mit der documenta Fünf stellte Harald Szeemann Bodes Konzept radikal infrage. Die ersten Nachkriegsjahre waren nunmehr Geschichte, und eine neue Ära begann, sagt Heiner Georgsdorf.
"Für Arnold Bode war Kunst, das Kunstwerk etwas Schützenswertes, und deshalb hat er auch große Probleme auch gehabt, als 1972 eine Kunst hereinbrach, die sich für das Triviale interessierte und das Triviale fast ungefiltert in die documenta hinein ließ, das war sehr schwer zu verkraften. Bis 1968 ging es einfach immer darum, dem Kunstwerk einen adäquaten Raum zu bieten, und Bode hatte eben einen heroischen Kunstbegriff."
Bodes heroischer Kunstbegriff konnte die Tradition der realistischen Kunst nur unvollkommen ersetzen. Trotzdem ist Bodes documenta das Datum für den Neubeginn.
"Er ist einfach der Erfinder, er hat sie immer gewollt, und alle anderen Aspekte, dass es eben eine Maßnahme im Kalten Krieg war, eine kulturpolitische Maßnahme im Kalten Krieg, das sind Aspekte, die auch möglicherweise mit einfließen und die auch Bode die Chance gaben, die documenta dann zu realisieren. Aber wenn er nicht da gewesen wäre, hätte diese documenta nicht stattgefunden, für mich gäbe es keine documenta ohne Arnold Bode."
Heiner Georgsdorf staunt noch immer, zumal die documenta seit einem halben Jahrhundert ein von der Kunstwelt akzeptiertes Leitmedium ist. Das wird auch diesmal so sein, wenn Roger M. Buergel seine documenta zeigt, die sich Arnold Bode noch immer verpflichtet fühlt.