Klaus Ferentschik und Peter Gorsen: Friedrich Schröder-Sonnenstern und sein Kosmos
Parthas Verlag, Berlin 2013
336 Seiten, 24 Euro
Mondmoralische Praxis
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte die etablierte Kunstwelt die "Kunst von Geisteskranken", auch Art brut genannt. Einer ihrer prominentesten Vertreter war der deutsche Maler und Zeichner Friedrich Schröder-Sonnenstern.
Spinne auf Leben und Tod ohne Rücksicht! Das war die Lebensmaxime des 1892 in Ostpreußen geborenen Friedrich Schröder-Sonnenstern und verbarg sich hinter seinem Pseudonym SALUTOR. Für sein Umfeld wurde dieses Leitmotiv unter anderem deshalb relevant, weil es keine eindeutige Antwort darauf fand, ob diese Spinnerei in der Tat eine selbsterwählte war. 26-jährig wurde bei dem Einzelgänger, der schon als "dämlicher Außenseiter" aufwuchs und den sein Lehrer als sittlich verkommen, trotzig und hinterlistig beschrieb, "unheilbare Seelenzerstörung" diagnostiziert. In der Folge stellte man ihn – da für sein Handeln nicht verantwortlich – unter Vormundschaft. Mehr als ein halbes Jahrhundert später attestierte ihm der Arzt einer Berliner Nervenheilanstalt dagegen geistige Gesundheit. Auf diese Rückkehr in die Mündigkeit reagierte der inzwischen 82-Jährige mit Abwehr: "Nein, lieber nicht, jetzt gelte ich schon seit über 50 Jahren für verrückt und ... damit kann ich gut umgehen."
Zur künstlerischen Arbeit gelangt Schröder-Sonnenstern mit wenigen Ausnahmen erst in der zweiten Lebenshälfte. Diesen späten Start gleicht er durch enorme Produktivität aus, die rasch dazu führt, dass er Helfer hinzuzieht und Kopien bereits bestehender Werke anfertigt, bei denen lediglich die farbliche Ausführung variiert und die er schlussendlich nurmehr signiert. Ausgelöst durch die unablässige Nachfrage nach den naiv-mystischen und grotesk-pornografischen Buntstiftblättern, führen beide Aspekte zu einer hohen Fälschungsrate und zur Beschädigung seines Rufs. Dabei, so sagte der zunehmend dem Alkohol zugetane Künstler salopp, gäbe es ein unfehlbares Echtheitsmerkmal: die Spritzer von Kautabak auf dem Papier.
Deformierte Wesen in verschlüsselten Bildwelten
"Trilogie der Wahrheitsucherei, Mondmoralische Praxis oder Volksbeglückungs-Wunderland" heißen seine zeichenhaft-verschlüsselten Bildwelten voll sonderbar deformierter, anthropomorpher und häufig fäkal-affiner Wesen, die dem Künstler in der Boulevardpresse den Spitznahmen "Arschmaler Sonnenstich" einhandelten. Für ihn selbst sind die Bilder lediglich Illustrationen der großen Sonnensternphilosophie, die er seitenweise niederkritzelt und die weitgehend unveröffentlicht blieb.
Diese wenigen Einblicke in das eigensinnige Naturell Friedrich Schröder-Sonnensterns mögen bereits erklären, warum der Pataphysiker Klaus Ferentschick, also ein Wissenschaftler für imaginäre Lösungen, und der Mentalitätshistoriker Peter Gorsen die Person weit mehr als ihr Werk ins Zentrum ihrer jüngst erschienenen Monographie rücken. Entsprechend präsentieren sich dem Leser die vergleichsweise wenigen Werkabbildungen vor diesem persönlichen Hintergrund und nicht so sehr in einem künstlerischen oder kunsthistorischen Zusammenhang.
Der umfangreichen Biografie folgt zwar eine ikonologische Untersuchung. Doch auch sie hat das Anliegen, die fantastische Bildwelt aus einer psychologischen Warte zu deuten und das Bildpersonal in bester psychoanalytischer Manier zwar als verschlüsselte, aber aussagekräftige Bedeutungsträger zu analysieren. Dabei gerät die zuweilen kryptische Sprache hier und da eher zu einer Manifestation ihres Untersuchungsgegenstands als zu dessen Erklärung.
Unbestritten ist Schröder-Sonnenstern ein Paradebeispiel der sogenannten Outsider-Kunst, die sich unter anderem durch Autodidaktik und die Unabhängigkeit vom künstlerischen Kontext definiert und in diesem Fall durch eine extreme psychische Disposition ergänzt wird. Damit folgt das Buch einer Kategorisierung, die sich gerade in Anbetracht einer derart vom Markt diktierten Künstlervita einer genaueren Beleuchtung angeboten hätte.