Artensterben vor der Haustür

Aus Münchens Altstadt verschwinden die Spatzen

Zwei Spatzen sitzen bei winterlichen Temperaturen auf einem Ast ohne Blätter.
Bedrohte Spatzen: Das Artensterben betrifft nicht nur ferne Orte und skurrile Tiere, merkwürdige Pflanzen und fantastische Landschaften in fernen Ländern. © picture alliance / dpa / Monika Skolimowska
Ein Einwurf von Caroline Ring |
Klein, lustig, nervig: Der Haussperling, auch Spatz genannt, begleitet uns seit Tausenden von Jahren. Doch er steht deutschlandweit auf der Vorwarnliste für bedrohte Arten. Die Natur vor unserer Haustür ist in Gefahr, mahnt die Biologin Caroline Ring.
Da sind zum Beispiel die Spatzen. Haussperlinge, diese lustigen, kleinen, nervigen Allerweltsvögel, die im Café die Krümel wegpicken und deren Tschilpen man gleich im Ohr hat, wenn man nur an sie denkt. Hand aufs Herz: Wann haben Sie es zuletzt gehört?
Die Spatzen, die man für so allgegenwärtig hält, sind das schon lange nicht mehr. In Berlin, wo ich selbst lebe, geht es ihnen zwar noch gut, da gibt es viele. Deshalb konnte ich kaum glauben, was ich in München erlebt habe: Dort ist die Altstadt quasi spatzenfrei. Es gibt sie einfach nicht mehr. In Hamburg sind ihre Zahlen in den vergangenen Jahrzehnten massiv eingebrochen.
Deutschlandweit stehen Haussperlinge, diese früheren Allerweltsvögel, auf der Vorwarnliste für bedrohte Arten. Das heißt: Wenn sie weiter so schnell ihre Brutplätze verlieren, wie es aktuell passiert, dann sind sie irgendwann gefährdet. Und noch später komplett verschwunden. Und das betrifft, wohlgemerkt, den Haussperling, eine der Vogelarten, die bisher am allerbesten mit uns Menschen zusammenleben konnte.

Sechstes großes Massensterben

In der Agrarlandschaft sind bei uns die Bestände der Vögel in den vergangenen 25 Jahren um etwa ein Drittel zurückgegangen. Die Masse an Insekten, die heute in Deutschland leben, ist nur noch ein Viertel so groß, wie sie vor rund 30 Jahren noch war.
Weltweit nimmt die Zahl bedrohter Arten rasant zu, steigt die Zahl ausgestorbener Arten ungebremst. Die US-Journalistin Elizabeth Kolbert hat vor einigen Jahren ein Buch über den Zustand der globalen Biodiversität geschrieben, der Titel: „Das sechste Sterben“. Denn wir befinden uns mittendrin, im sechsten großen Massenaussterben, das der Planet Erde seit seiner Existenz erlebt. Das letzte Massenaussterben betraf die Dinosaurier, es wurde von einem Meteoriteneinschlag ausgelöst. Lebensräume, Ökosysteme wurden damals komplett umgekrempelt und die Dinosaurier, die Millionen von Jahren den Planeten beherrscht hatten, verschwanden fast spurlos.

Natur muss im Gleichgewicht sein  

Diesmal braucht es keine Gefahr aus dem Weltall für die Umwälzung. Wir Menschen sind der Meteorit. Wir zerstören Lebensräume von Tieren, roden Wälder und ganze Landschaften, wir pumpen Gift und Abfälle ins Wasser, als wären sie damit für immer verschwunden und handeln, als könnten wir immer so weitermachen.
Biodiversität? In der Krise? Artensterben in den Tropen, der Tiefsee? Die sind doch beide weit weg. Was geht mich das an? Viel! Denn diese Krise betrifft nicht nur ferne Orte und skurrile Tiere, merkwürdige Pflanzen und fantastische Landschaften in fernen Ländern. Nein, es geht auch um die Natur vor unserer Haustür. Und die mag uns allgegenwärtig und langweilig vorkommen, doch sie ist es bei weitem nicht.
Wenn also selbst die Spatzen weniger werden, die uns seit Tausenden von Jahren treu und zäh begleiten - wie steht es dann um die Lebensqualität für uns Menschen selbst? Die Natur vor unserer Haustür ist bei weitem nicht so stabil und robust, wie man es denken mag.

Biodiversität sichert unser Wohlergehen

Biodiversität ist das Netzwerk von Leben, das uns umgibt. Die verschiedenen Arten von Tieren und Pflanzen, Lebensräumen und Ökosystemen: Sie bilden ein Gleichgewicht, balancieren einander aus. Verschwinden Elemente aus dem Netzwerk, gerät es ins Wanken – oder sogar zur Gefahr. Die Tigermücke zum Beispiel, die bis vor wenigen Jahren nur in viel wärmeren Regionen vorkam, verbreitet sich nun auch bei uns. Sie kann schwere Krankheiten wie Cholera oder Dengue übertragen. Insekten verschwinden, ja. Aber an ihre Stelle können für uns schädliche Arten wie die Tigermücke treten. 
Eine vielfältige Natur sichert uns ein gutes Leben. Grüne Vorgärten, in denen Büsche und Bäume wachsen, kühlen die Umgebung von Häusern weit mehr, als es Steingärten je könnten. Insekten, Vögel und andere wilde Tiere leisten uns Dienste, die mehrere Milliarden Euro wert sind. Dass wir von einer vielfältigen Natur umgeben sind, ist nicht selbstverständlich. Aber unser eigenes Leben, unser Wohlergehen hängt davon ab.

Caroline Ring ist Biologin und Publizistin. Sie schreibt vor allem über Themen, die Evolutionsbiologie, Ökologie und Biodiversität betreffen. Ihre Artikel erscheinen unter anderem im "Tagesspiegel", bei "P.M." und auf "Spektrum.de". 2022 veröffentlichte sie ihr zweites Sachbuch „Wanderer zwischen den Welten. Was Vögel in Städten erzählen“ (Berlin Verlag).

Porträt in der Natur von der Biologin und Publizistin Caroline Ring
© Ingo Römling

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