Das Gefüge zerfällt
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Klimawandel, intensive Landwirtschaft: Menschengemachte Veränderungen bringen das Zusammenspiel von Flora und Fauna durcheinander. Jede noch so unscheinbare Art hat eine Funktion im Gefüge der Natur. Verschwindet eine, hat das Folgen.
Am Rand von Bad Lauchstädt, an einem Oktobertag: Das Wetter ist ungemütlich, der Wind pfeift kräftig über die Felder.
"Wir haben hier fünf Landnutzungssysteme, die so ganz typisch sind für Mitteleuropa und ganz speziell für diese Region. Diese Landnutzungssysteme spiegeln so ein bisschen einen Intensitäts-Gradienten ab, ja. Wir haben also als intensivste Form der Landnutzung da einen konventionellen Ackerbau", erklärt Martin Schädler.
Freilandlabor von Bad Lauchstädt simuliert Klimawandel
Er steht inmitten von Parzellen. Manche sind gepflügt, auf anderen wachsen Gräser. Alle sind sie 16 mal 24 Meter groß, immer fünf in einer Reihe:
"Hier haben wir die konventionelle Fruchtfolge, die wir in dieser Gegend haben, den vollen Einsatz der üblichen Pestizide und Mineraldüngung und so weiter. Dann haben wir den ökologischen Ackerbau, also mit nur wenigen Pestiziden, nur mechanische Unkrautentfernung, eine angepasste Fruchtfolge mit teilweise anderen Fruchtarten da drin."
Jede Parzelle ist überdacht, wobei sich das Dach und auch die Seitenwände automatisch öffnen und schließen lassen. So können die Wissenschaftler das Klima manipulieren:
"Und dann haben wir noch drei Grünlandsysteme. Einmal ein sehr artenarmes Intensivgrünland, das ist also eine künstliche Einsaat, wird etwas gedüngt, wird häufig gemäht und dann haben wir zwei artenreiche Systeme, also bunte Wiesen, wie sich der normale Mensch auch eine Wiese vorstellt, die aus bis zu 60 Grünlandarten, die hier auch für die Region typisch sind, bestehen. Und die eine Variante wird extensiv gemäht, das heißt zweimal im Jahr und die andere Variante wird dreimal im Jahr extensiv durch Schafe beweidet."
Beziehungen im System Boden-Pflanze-Klima werden erforscht
Das Helmholzzentrum für Umweltforschung betreibt diese Freiland-Versuchsanordnung. Martin Schädler ist wissenschaftlicher Leiter der Anlage. Er und seine Kollegen untersuchen, wie sich die unterschiedlichen Ökosysteme unter Landnutzung und Klimaveränderung verhalten. Künftig werden hier in Sachsen- Anhalt im Frühjahr und im Herbst mehr Niederschläge fallen, im Sommer aber umso weniger. So sagen es die meisten Prognosen voraus. Es wird deutlich heißer und sehr trocken werden. Wie in diesem Sommer. Die Ernte war dementsprechend schlecht, auch hier:
"Obwohl es dieses Jahr wieder erstaunlich war, dass der Winterweizen unter Öko-Landbau kaum Einbußen hatte und unter konventionellen Bedingungen ziemlich starke. Das haben wir jetzt schon zum zweiten Mal, ich bin gespannt, wohin das führt."
Bisher gibt es nur einige Anhaltspunkte, warum der Weizen im Öko-Landbau der Trockenheit besser standgehalten hat, als auf einem intensiv bewirtschafteten konventionellen Feld:
"Es sind verschiedene Dinge, die wir uns da noch überlegen müssen, die da eine Rolle gespielt haben können. Einmal, dass vielleicht im Boden schon Veränderungen stattfinden, also wenn ich vermehrte organische Substanz im Boden habe oder auch eine erhöhte Biodiversität, dann kann das beides zur Trockenheitsresistenz führen."
Konventionelle Landwirtschaft: Boden verarmt, Pflanzen werden faul
Ein konventionell bewirtschafteter Acker weist eine wesentlich geringere Artenvielfalt auf als einer im Biolandbau. Hier leben erheblich mehr Arten von Bakterien, Pilzen und Insekten, insgesamt findet sich eine höhere Biomasse im Boden und direkt darüber:
"Es gibt also natürlich einmal die Wasserspeicherfähigkeit des Bodens, die wird deutlich erhöht durch organische Substanz. Es gibt aber auch Mikroorganismen, die der Pflanze helfen, der Dürre zu trotzen. Also verschiedene Bakterien beispielsweise, aber auch Pilze, die Mykorrhiza-Pilze, die mit der Pflanze eine Symbiose eingehen und Wasser ran holen für die Pflanze. Und die sind in einem extensiv gemanagten Boden viel stärker vertreten, als in einem intensiven."
Pestizide, wie sie im konventionellen Ackerbau in großem Maße eingesetzt werden, töten viele Lebewesen, die normalerweise im Boden existieren. Übrig bleiben die wenigen Arten, die das Gift vertragen. Auch der mineralische Dünger führt zu einer Verarmung der Bodenvielfalt, denn die Pflanzen werden faul, wie die Wissenschaftler sagen. Normalerweise halten sie sich viele unterschiedliche Organismen an den Wurzeln, die sorgen ihrerseits für Nährstoffe.
Bekommen die Pflanzen die Nährstoffe einfach durch Dünger zugeführt, dann versorgen sie diese Organismen nicht mehr. Und die sterben ab. Dadurch wiederum fallen andere Spezies aus, der Boden verarmt.
Gesunder Boden: Arten-Vielfalt und Zusammenspiel im Verborgenen
Nico Eisenhauer, vom Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung, IDIV untersucht seit Jahren, wie das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Arten funktioniert:
"Wir haben, wenn wir einen Quadratmeter Boden uns nur anschauen, dann haben wir schon hunderte Regenwürmer zum Beispiel, zum Beispiel Asseln, Spinnen. Wir haben hunderttausende bis Millionen von Nematoden, Mikroarthropoden, und wenn wir dann auf die Ebene der Einzeller kommen und Mikroorganismen, dann sind das Abermillionen und die Arten sind teilweise noch gar nicht bestimmt und beschrieben."
Das, was der Wissenschaftler vom IDIV in Leipzig hier beschreibt, ist ein gesunder Boden. Eine bunte Vielfalt von Bakterien und Pilzen, vielen Nematoden, also Fadenwürmern und winzigen krebsartigen Lebewesen. Sie bilden eine Gemeinschaft, tauschen Nahrung miteinander aus oder fressen sich gegenseitig, zersetzen abgestorbene Pflanzenreste, machen Pflanzen krank oder schützen sie.
Stufenförmige Effekte von oben nach unten
Alles hängt irgendwie zusammen. Was aber Artenarmut mit den Böden macht, wissen die Forscher erst ansatzweise. Das gilt auch für das Zusammenspiel der Arten über und im Boden:
"In einer Pilotstudie haben wir die Anwesenheit und die Vielfalt von unterschiedlichen Marienkäferarten manipuliert und haben uns dann kaskadierende Effekte angeschaut über Blattläuse, die von Marienkäfer gefressen werden, über die Pflanzen, die von den Blattläusen befallen werden, bis hin zu Bodennahrungsnetzen, indem wir uns Nematoden-Gemeinschaften in der Rhizosphäre, das heißt, im Boden um diese Pflanze herum angeschaut haben. Und wir konnten eben sehen, dass abhängig davon, wie viele Marienkäfer oben an den Blattläusen gefressen haben, hat das Auswirkungen auf die Gemeinschaften im Boden gehabt."
Solche Gemeinschaften bestimmen mit, ob der Boden liefert, was wir Menschen brauchen: Gesunde Nahrung und sauberes Grundwasser. Darüber hinaus beeinflusst Artenvielfalt auch die Kohlenstoffspeicherung im Boden, wie Untersuchungen von Wiesengemeinschaften gezeigt haben:
"Hochdiverse oder artenreiche Pflanzengemeinschaften hatten in diesem Experiment bedeutend mehr Kohlenstoff im Boden gespeichert und das ist der Kohlenstoff, den wir dann nicht mehr in der Atmosphäre haben."
Stark gedüngte Böden stoßen zudem noch Lachgas aus, ein hochwirksames Klimagas.
Intensiv bewirtschaftete Ökosysteme doppelt unter Druck
Martin Schädler ist in Bad Lauchstädt zu einer extensiv bewirtschafteten artenreichen Wiese gelaufen. Noch immer bläst der Wind. Trotz der Trockenheit sind hier grüne Pflanzen und einige Blüten zu sehen. Für die Wissenschaftler sind neben der produzierten Biomasse, also wie viel Gras und Heu die Wiese produziert, auch die anderen Funktionen interessant:
"Und der Zusammenhang zwischen Biodiversität und Ökosystemfunktion wird immer deutlicher, je mehr Funktionen man sich parallel anschaut. Schauen wir uns bloß eine Funktion an, beispielsweise Abbau organischer Substanz, dann sehen wir, dass nach einer gewissen Anzahl von Arten die Funktion erreicht ist. Und mehr Arten bringen dann auch nicht mehr. Nimmt man eine weitere Funktion dazu, Bestäubung beispielsweise, dann sehen wir, dass noch mehr Arten gebraucht werden, um beide Funktionen gleichzeitig aufrecht zu erhalten. Es gibt aber unendlich viele Ökosystem-Funktionen, das heißt, es gibt unter Umständen nicht eine überflüssige Art."
Das bedeutet aber auch, dass intensiv bewirtschaftete Böden und andere Ökosysteme nicht mehr in der Lage sind, ihre Funktionen in dem Maße zu erbringen, wie sie es könnten, wenn eine hohe Artenvielfalt herrschen würde. Hinzu kommt, dass sich die Systeme an den Klimawandel anpassen müssen. Gerade für eine erfolgreiche Anpassung wären so viele unterschiedliche Spezies wie möglich nötig.
Je höher die genetische Vielfalt, umso höher ist die Fähigkeit, sich auf verändernde Umweltbedingungen einzustellen. Das heißt: Die Systeme geraten doppelt unter Druck, einmal durch intensive Flächennutzung - Landwirtschaft, Straßen und Siedlungen - und durch den Klimawandel:
"Und die Arten sind unterschiedlich gut in der Lage zu reagieren auf den Klimawandel. Sprich, einfach durch ihre Ausbreitungsgeschwindigkeit oder einfach auch die örtlichen Populationen, wie diese überleben. Und das führt zu einer Entkopplung offensichtlich von diesen Artinteraktionen, einfach dadurch, dass diese Arten unterschiedlich reagieren."
Ostseehering produziert zu wenig Nachwuchs
Aufeinander angewiesen – das sind auch Meeresbewohner. Und die Klimaveränderungen zeigen, wie verletzlich das Gefüge ist. Das Wasser wird wärmer und Arten wandern zunehmend nach Norden, in kältere Regionen. Dort nehmen die Fischbestände eher zu, im Süden dagegen leeren sich die Meere merklich.
Die Korallenriffe, Hot-Spots der Artenvielfalt, sterben durch das wärmere Wasser ab, sie können nicht nach Norden wandern. Auch dem Hering in der Ostsee macht die Wärme zu schaffen. Christopher Zimmermann leitet das Thünen-Institut in Rostock. Er und seine Kollegen beobachten, wie groß die Fischbestände in der Ostsee sind und geben Empfehlungen für die Fangquoten. Und die müssen bei Heringen drastisch gesenkt werden, so Zimmermann:
"Wir stellen seit ungefähr 15 Jahren fest, dass der Heringsbestand in der westlichen Ostsee, der der Brotfisch unserer Mecklenburger und Vorpommerschen Fischerei ist, immer weniger Nachwuchs produziert. Und das reicht eigentlich, um vorsorgliche Fangmengen abzuleiten und der Politik zu empfehlen."
Gestörtes Timing im Ökosystem Greifswalder Bodden
Aus wissenschaftlicher Sicht, so Christopher Zimmermann, müsste man die Heringsfischerei in diesen Beständen eigentlich einstellen, damit sich die Art erholen kann. Dann hätten die Fischer aber überhaupt keine Arbeit mehr, daher hat man sich nun auf eine Reduktion der Fangmenge um etwas weniger als die Hälfte geeinigt. Für die Fischer ist das immer noch fatal:
"Als Forscher sind wir natürlich an den Ursachen interessiert. Und nachdem wir nach ein paar Jahren wussten, dass das nicht einfach nur natürliche Variabilität ist und es gibt mal starke und mal schwache Jahrgänge, haben wir unsere Bemühungen stark verstärkt und wissen seit Ende letzten Jahres ungefähr, dass die Temperaturerwärmung an bestimmten Stellen der westlichen Ostsee zu bestimmten Zeiten, die Abnahme der Rekrutierung, die Abnahme der Produktivität am besten erklärt."
Die Heringe richten den Zeitpunkt ihrer Wanderung zu den Laichplätzen nach der Temperatur des Wassers. Hat es eine bestimmte Temperatur erreicht, ziehen sie los Richtung Kinderstube. Dort kommen die laichreifen Tiere immer früher an:
"Das wesentliche Laichgebiet ist der Greifswalder Bodden, das ungefähr 500 Quadratkilometer große Meeresgebiet zwischen Rügen und dem vorpommerschen Festland. Und da reichen anderthalb, zwei Grad Temperaturerwärmung zu diesen bestimmten Zeiten, um den Hering früher einwandern zu lassen. Dann entwickeln sich die dort an Wasserpflanzen abgelaichten Eier deutlich schneller, bei höherer Temperatur. Das heißt, die Larven, die kleinen Heringe, die schlüpfen früher, die bringen dann noch ihren Dottersackvorrat mit, der dann bei höheren Temperaturen aber auch schneller aufgebraucht wird und am Ende haben wir hungrige Larven, die sofort innerhalb von 24 Stunden was zu fressen brauchen - ungefähr zwölf bis 15 Tage früher als das noch vor 30 Jahren der Fall war."
Das Biosystem im Greifswalder Bodden ist aber exakt aufeinander eingespielt. Und diese zeitliche Verschiebung hat deshalb für die Heringslarven fatale Folgen:
"Die brauchen dann Kleinkrebslarven, aber das Problem ist, dass die Kleinkrebslarven nicht auch mit der steigenden Temperatur früher produziert werden, sondern die werden von ihren Eltern nur produziert, wenn es genügend Nahrung gibt. Die Nahrung sind einzellige Algen und die werden lichtgesteuert produziert. Das heißt, die werden genau zum gleichen Zeitpunkt produziert wie auch schon vor 1000 Jahren. Aber die hungrigen Larven treten immer früher auf. Und in der Summe heißt das, dass immer mehr Larven verhungern, weil sie zu früh dran sind und dann entstehen drei, vier Jahre später auch weniger Heringe, die wir nutzen können."
Hohe Nährstoffeinträge durch die Landwirtschaft
Welche Auswirkungen das auf das gesamte Ökosystem Ostsee hat, weiß man noch nicht. Heringe sind beispielsweise eine der Hauptnahrungsquellen von Ostsee-Schweinswalen, die auf der internationalen Roten Liste als vom Aussterben bedrohte Population geführt sind. Von Gedankenspielen, die Heringslarven im Greifswalder Bodden zu füttern und so ihr Überleben zu sichern, hält Christopher Zimmermann nichts. Das wäre mit derartig hohem Aufwand verbunden, dass es wirtschaftlich nicht sinnvoll wäre. Aber auch ökologisch wäre eine solche Maßnahme riskant:
"Wir sind eigentlich, was solche Experimente angeht sehr vorsichtig und haben Hinweise darauf, dass die Überdüngung der Küstengewässer eine negative Rolle für die Heringsrekrutierung, für die Reproduktion spielt. Einfach, weil hohe Düngemittelgaben sehr früh in der Saison zur massenhaften Entwicklung von fädigen Algen führen, die die Eigelege, die Eiballen der Heringe dann überwuchern und zum Absterben führen. Und auf der anderen Seite auch dazu führen, dass mehr Stichlinge in diesem Gebiet leben können. Und Stichlinge sind wieder Heringslaichräuber. Also wir haben da diverse Wirkketten, die am Ende diese negative Entwicklung noch verstärken können."
Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich die Heringsbestände erholen könnten, wenn die Politik ihrem Rat folgt, die Fangquoten drastisch zu senken und:
"Wenigstens vor und während der Laichzeit die Düngemittel, die Nährstoffeinträge in die Küstengewässer so weit wie möglich zu reduzieren, damit man einfach die Option erhält, dass die wenigen Larven, die übrig bleiben dann auch zu großen Nutzfischen werden."
Kleinlebewesen - Inventur in der Kinzig
Durch dichtes Gestrüpp ist Andrea Sundermann die Böschung der Kinzig hinuntergestiegen. Der knapp 100 Kilometer lange Fluss verläuft in südwestlicher Richtung am Rande des Spessarts und mündet bei Hanau in den Main. Hier, in der Nähe von Gelnhausen hat das Senckenberg-Institut ein Forschungsobservatorium.
"Strukturell sieht das hier total schön aus, also ne? Wie man sich im Grunde genommen so einen Mittelgebirgsfluss vorstellt", sagt die Wissenschaftlerin.
Und tatsächlich bietet die Kinzig an vielen Stellen ein schönes Bild. Im Fluss leben Raub- und Friedfischarten, auch die erwachsene Äsche und Forellen. Mehr als noch vor ein paar Jahren. Dennoch: Der ökologische Zustand der Fischgemeinschaften ist nicht gut:
"Wir sehen dahinten allerdings noch eine Steinschüttung, also wo dann im Grunde genommen das Ufer gegen Abrutschen gesichert wird, weil oben drüber sind landwirtschaftliche Flächen, die dann so geschützt werden."
Andrea Sundermann interessieren hier nicht die großen Fische, sondern Kleinlebewesen, sogenannte benthische Invertebraten. Über viele Jahre nehmen die Forscher immer wieder Proben aus dem Gewässer, um zu dokumentieren, wie sich diese Arten entwickeln:
"Was wir machen ist, dass wir jetzt einfach mal schauen, wie man Makrozoobenthos, also diese Kleinlebewesen auf der Gewässersole, wie man die beproben würde und dazu gehe ich einfach mit dem Kescher in die Kinzig rein, stelle den Kescher auf den Grund, entgegen der Strömung und störe das Substrat, das vor dem Kescher liegt mit dem Fuß, trete da ein bisschen drin rum, wir sagen Kicksampling. Und die Organismen, die auf dem Sand, im Sand auf den Steinen oder unter den Steinen sitzen, die lassen sich dann los. Also wir sagen, die lassen sich dann driften. Und werden eben mit der Strömung in den Kescher mit rein gespült."
Sundermann hat eine wasserdichte Hose und feste Stiefel angezogen. Die Hose reicht ihr über die Hüfte, so kann sie trockenen Fußes in das Wasser steigen. Sie hat einen großen rechteckigen Kescher in der Hand, den sie auf dem Grund des Flusses ablegt:
"Ich mache das jetzt einfach mal hier vorne am Rand, in diesen kieseligen Materialien. Jetzt ist ein bisschen Kies mit reingerutscht, das macht aber nichts."
Auf den ersten Blick hat sie vor allem Steine und Kies gefangen.
"Also, wenn wir jetzt unser Material in eine Schale reintun, dann können wir ein bisschen besser gucken. Und wir sehen schon, dass da schon Tiere unterwegs sind. Wenn man jetzt reingucken würde, würde man sagen, ey, das wimmelt ja, relativ viele Individuen, aber die Artenvielfalt ist jetzt nicht so wahnsinnig hoch."
Rheinmücke, Uferbold und Steinfliege sucht man vergebens
Tatsächlich fällt auf, dass es praktisch nur eine Art gibt, Bachflohkrebse. Dazwischen findet Sundermann noch zwei Libellenlarven und die Larve einer Eintagsfliege:
"Also in so einem Mittelgebirgsfluss wie der Kinzig, wenn der intakt wäre, hätten wir deutlich mehr Arten. Wir hätten auch Arten, die flach sind, strömungsangepasst sind, die auf großen Steinen vorkommen. Haben wir hier nicht drin. Wir haben auch ganz wenige Köcherfliegen, also Köcherfliegenlarven."
Steinfliegenlarven findet sie gar nicht mehr in der Kinzig, auch viele Arten von Eintagsfliegen, wie die Rheinmücke gibt es nicht mehr. Und es findet sich auch keine einzige Muschel in der Schale. Obwohl der Fluss von außen völlig intakt und naturbelassen aussieht:
"Aber das ist einfach individuenreich aber artenarm. Sieht man auf den ersten Blick."
Das liegt vor allem am stickstoffhaltigen Dünger, der auf die Felder hier rund um die Kinzig ausgebracht wird und ins Flusswasser gelangt:
"Stickstoff kann als Ammonium ins Gewässer kommen. Und als Ammonium ist es toxisch, ist also ein klassisches Fischgift. Da kann eine direkte Wirkung da sein. Ammonium wird aber relativ schnell, wenn Sauerstoff im Gewässer ist, oxidiert zum Nitrat. Und Nitrat ist direkt überhaupt nicht toxisch. Aber Nitrat an sich führt wieder dazu, dass wir vermehrt Pflanzenwachstum haben. Dass das dann, wenn das Pflanzenmaterial dann irgendwann abgebaut wird, Sauerstoff braucht und dass, wenn zu viel Photosynthese betrieben wird, dass wir dann einen zu hohen pH-Wert haben. Und der zu hohe pH-Wert, der hat dann wieder eine direkte Wirkung bei den Organismen."
Auch hier entsteht ein Teufelskreis. Die Wasserqualität ist schlecht, deshalb verschwinden viele Arten. Ein intaktes Ökosystem aber könnte Verunreinigungen besser abbauen. Durch Dünger, Arzneimittel, Kosmetika und andere Schadstoffreste sind viele Gewässer stark geschädigt, die auf den ersten Blick gesund aussehen. Die Badequalität ist meist gut, die ökologische und chemische Wasserqualität des Oberflächenwassers ganz und gar nicht. Und der Nitratgehalt des Grundwassers ist in vielen Regionen zu hoch, sodass die EU Kommission Deutschland bereits verklagt hat. Die Politik verweist auf die Pflanzen- und Tierproduktion, die ihre Erträge steigern muss, um global mithalten zu können.
Agrar-und Umweltpolitik setzen falsche Anreize
Katharina Winter hat auf einem Bauernhof gelebt, kennt sich aus mit der Landwirtschaft. Inzwischen ist sie Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft in Sachsen-Anhalt.
Zwischen zwei Terminen hat sie Zeit für einen Parkspaziergang und ein Interview. Die Bundesregierung, sagt sie, habe nur die industrielle intensive Landwirtschaft im Blick. Die Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft, kurz ABL, versucht, ein Umsteuern in der Agrarpolitik einzuleiten:
"Die Strukturen sind zu mächtig, dass da nichts von durchzusetzen ist."
In der ABL sind kleine bäuerliche Betriebe organisiert. Ihnen gegenüber stehen die großen Betriebe und Agrarkonzerne, die teilweise börsennotiert sind. Sie erhalten viele Millionen Euro an Subventionen aus Brüssel. Wer wie viel bekommt, das berechnet sich vor allem aus der Größe. Je mehr bewirtschaftete Fläche, desto mehr Geld bekommt ein Betrieb. Dabei ist es weitgehend egal, ob und wie viel Dünger und Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden.
Wer mit kleinen Feldern dagegen für Vielfalt etwas tue, so Katharina Winter, wer auf den Einsatz von Chemikalien möglichst verzichte, unterschiedliche Früchte anbaut, der mache das heute auf eigene Rechnung und aus Überzeugung:
"Und dadurch, dass eben jeder Hektar, der dazukommt, eben diese Flächenprämie bringt, ist da der Anreiz auch groß, möglichst viel Fläche zu einem Betrieb zu schaffen. Also wenn man das anders will, dann müsste man was machen. Weil, wenn man das überlässt, dann wird es halt so, wie in der anderen Wirtschaft auch, dann wird alles größer."
Industriell geprägte Landwirtschaft mit hohen Erträgen. Gefördert durch Subventionspolitik. Allerdings ist der Preis dafür zu hoch, findet Katharina Winter:
"Wir wissen ja nun auch, dass die Landwirtschaft, wie wir sie jetzt haben, uns auch umbringt, also irgendwas müssen wir ändern. Wenn wir die höchste Effizient fordern, dann bleibt eben alles andere dahinter zurück. Man kann nicht die höchste Effizienz und Artenvielfalt haben, das sind zwei verschiedene Wege. Also wenn man das Effizienteste anbaut, mit dem höchsten Ertrag, was jetzt hier in Deutschland der Weizen ist, und sagt, das ist effektive Landwirtschaft, das kann die Menschheit ernähren, weil, da können wir so und so viel vom Hektar runter holen, dann wird halt keine andere Kultur angebaut und dann wird keine Art, die in diesen dichten Feldern nicht leben kann, wird erhalten sein."
Massiver Artenrückgang in der Agrarlandschaft
Katharina Winter, Vertreterin der kleinbäuerlichen Betriebe bekommt Unterstützung aus der Wissenschaft. Eine Arbeitsgruppe der deutschen Wissenschaftsakademien hat gerade eine Bestandsaufnahme der Biodiversität auf landwirtschaftlichen Flächen veröffentlicht. Sie zeigt, auch in Deutschland haben die Veränderungen dramatische Ausmaße angenommen. Viele Studien belegen einen massiven Artenverlust, oft im Ausmaß von 20 bis 40 Prozent über die letzten 200 Jahre. Der Rat der Forscher: ein schnelles Umsteuern in der Agrar- und Umweltpolitik.
Eine Sprecherin der Gruppe ist Kathrin Böhning-Gaese, Professorin am Senckenberg Institut in Frankfurt am Main. Sie untersucht die Biodiversität bei Vögeln in Mitteleuropa und stellt fest, dass auch sie durch immer größere Felder und weniger Insekten erheblich unter Druck geraten:
"Und damit haben alle Arten, die insektenfressenden Vögel zum Beispiel, weniger Nahrung zur Verfügung. Sie haben auch weniger Verstecke, weil es weniger Hecken gibt und keine Streuobstwiesen mehr. Und die Arten stehen damit doppelt unter Druck. Sie sind einmal durch den Landnutzungswandel, durch diese Intensivierung der Landnutzung gefährdet aber eben auch durch den Klimawandel."
Und so wird zum Beispiel der Anblick von Bodenbrütern wie Feldlerche, Rebhuhn und Kiebitz in Deutschland immer seltener.
Und ähnlich wie bei den Heringen ist bei den Zugvögeln das Timing durcheinandergeraten. Über viele Generationen haben sie sich eine Art innere Uhr zugelegt, wann sie in Afrika losfliegen müssen, um zum sogenannten Insektenpeak im Frühjahr zurück zu sein. Dieser Peak findet aber immer früher statt, die Bäume treiben früher aus, die Insekten vermehren sich früher und die Zugvögel kommen nicht mehr rechtzeitig hier an, um ihre Brut ausreichend mit Raupen füttern zu können. Verstärkt wird dieses Problem noch durch die Pestizide, die massenhaft Insekten – die Nahrung der Vögel, tötet.
Intensive Flächennutzung behindert Wanderung der Arten
Außerdem hat Forscherin Böhning-Gaese festgestellt, dass kälteliebende Arten – nicht nur Vögel sondern auch andere Tiere und Pflanzen - zunehmend weiter nach Norden wandern oder sich in höheren Berglagen finden, wo es kälter ist. Das ist erst einmal nicht dramatisch, in Kombination mit der intensiven Landnutzung kann es aber doch dramatische Folgen haben:
"Die Arten mussten schon immer mal nach Norden wandern, wenn es wärmer wurde und nach Süden wandern, wenn es kälter wurde. Das gab es in der Erdgeschichte schon immer. Aber da waren genug natürliche Lebensräume vorhanden, in denen sie wandern konnten. Wenn heute eine Art versucht, nach Norden sich auszubreiten und da ist überall Agrarlandschaft, wie kann die denn überhaupt nach Norden kommen. Wenn eine Art auf ein Naturschutzgebiet angewiesen ist und praktisch nur diese kleine Insel hat, in der sie vorkommt, wie kommt sie zu der nächsten Insel im Norden, wie kommt sie über diese Lücken hinweg. Und das zeigt, dass die heutige, stark vom Menschen veränderte Landschaft es den Tieren und Pflanzen schwieriger machen wird, sich anzupassen."
Unser Planet bleibt belebt, aber bleibt auch der Mensch?
Nicht weit von Kathrin Böhning-Gaese im Keller des Senckenberg-Instituts hat Professor Markus Pfenninger eine Kammer geöffnet. Hier werden Mücken gezüchtet - unter sich verändernden Bedingungen. Wenn die Wissenschaftler die Temperatur erhöht haben, konnten sie schon nach wenigen Generationen Veränderungen im Erbgut nachweisen. Die Experimente zeigen: Im Gegensatz zu Säugetieren, sind viele Insekten sehr gut für den Klimawandel gerüstet. In Kombination mit zu viel Chemie in der Landwirtschaft aber, verschwinden auch sie und bringen ganze Ökosysteme in Gefahr:
"Zu viel heißt, dass wir möglicherweise andere Ökosysteme bekommen werden, von denen wir jetzt noch nicht wissen, genau wissen können, wie sie aussehen werden. Was wir aber wissen, ist, dass sie wahrscheinlich unserer Lebensweise wie wir sie bisher gewohnt sind, nicht entgegenkommen werden."
Veränderungen der Ökosysteme hat es schon immer gegeben, Arten haben sich angepasst, manche sind verschwunden, neue hinzugekommen. Doch der Mensch hat die Natur zusätzlich unter Stress gesetzt:
"Naja, wir haben ein Interesse daran, dass die Bedingungen so bleiben, dass wir weiterhin auf dem Planeten leben können. Also es besteht kein Zweifel, dass weiterhin Leben auf dem Planeten existieren wird. Die Frage ist, ob wir dabei sind oder nicht."
Die unscheinbaren Arten benötigen Schutz
Die Ökosysteme, auf die wir angewiesen sind, bestehen aus einem sehr komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Arten. Da sind die großen Säugetiere, die heute meist im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, aber auch die vielen kleinen und unscheinbaren Arten brauchen einen wirksamen Schutz, um die Systeme als Ganzes zu erhalten, davon ist auch Martin Schädler in Bad Lauchstädt überzeugt:
"Was vielleicht neu ist und was man vielleicht neu denken könnte, ist, dass man den Lebensräumen eine gewisse Dynamik zugestehen muss. Das heißt, Arten passen sich an, auch an veränderte Lebensbedingungen, und das könne sie natürlich nur, wenn natürliche Prozesse und eine Regenerationsfähigkeit oder wie wir auch sagen eine Resilienz von Ökosystemen zugelassen wird."
Die Entwicklung ist umkehrbar
Für Martin Schädler steht dabei vor allem die Intensität der Nutzung im Vordergrund. Im Freilandlabor von Bad Lauchstädt will er herausfinden, wie man einen Acker so bewirtschaftet, dass der Boden nicht auslaugt, sondern fruchtbar bleibt und besser auf Klimaveränderungen reagieren kann. Artenschutz bedeutet für ihn auch, die Äcker und Wiesen im Land zu nutzen, es kommt aber darauf an, wie das geschieht.
"Das, was wir heute als selbstverständlich ansehen, so ein starker Pestizideinsatz, mineralische Düngung und so weiter, das existiert erst ein paar Jahrzehnte. Das ist nichts, was wirklich schon immer da war. Das Stichwort konventionelle Landwirtschaft täuscht da ein bisschen und wir sehen genau in diesem Zeitraum auch eine Degradierung dieser Ökosysteme oder der gesamten Agrar-Ökosysteme. Wir sehend das Insektensterben, wir sehen den dramatischen Rückgang von Brutvögeln beispielsweise. Und das ist alles eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte."
Und insofern, so Schädler, kann man es auch wieder rückgängig machen.