Uraufführung mit 80 Jahren Verspätung
1936, mit 20, schrieb Arthur Miller sein erstes Theaterstück - autobiografisch geprägt durch seine Erfahrungen zur Zeit der "Großen Depression". In "Schurkenfrei", nun in London uraufgeführt, geht es um die Qual der Wahl zwischen Selbstbehauptung und Systemtreue.
Proben: "Wieso 'Du auch'? Bist du der einzige, der Marx lesen darf?" – "Ben, ich wusste nicht, dass…"
New York in den dreißiger Jahren. Die Brüder Ben und Arnold Simon—beide politisch links stehende Studenten – geraten in Streit, im Haus ihrer Eltern. Und sie müssen sich entscheiden: Zu wem sollen sie halten – zu Marx oder zur Familie?
Anlass des Streits ist ein Arbeitskampf im schwächelnden Textilbetrieb des Vaters, der alle Beteiligten in Armut zu stürzen droht: die Belegschaft, die Streikenden und die Angehörigen des Firmenchefs und Oberhaupts der Familie Simon. Den zeithistorischen Rahmen des Geschehens liefert die durch den Börsencrash an der Wall Street 1929 ausgelöste "Große Depression".
Auf wessen Seite stellt man sich: auf die der Nächsten oder die der Streikenden? Was zählt mehr: das Individuum oder das Kollektiv? Und welches Wirtschaftsmodell ist besser: Kapitalismus oder Marxismus? Das sind hier die Fragen.
Durchgespielt werden sie im stark autobiografisch geprägten Dramendebüt des 20-jährigen Arthur Miller. Er schrieb es 1936 vor dem Hintergrund eben jener "Great Depression", die für Millers Generation zur Schlüsselerfahrung wurde. Auch die Millers hatten damals ihr gesamtes Vermögen verloren.
Miller selbst nannte das Stück das "autobiografischste seiner Dramen". Verfasst hatte er es an der Universität Michigan als Beitrag zu einem Schreibwettbewerb.
Die Studiengebühren fürs nächste Semester waren fällig, und von den bankrotten Eltern war keine Hilfe zu erwarten. Dafür winkten dem Sieger des Wettbewerbs 250 Dollar Preisgeld.
Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft
Miller gewann, aufgeführt aber wurde sein Stück damals nicht, wohl auch weil der Uni dazu die Mittel fehlten.
Sean Turner: "Ausgeschrieben war der renommierte Avery Hopwood Award der Universität. Miller hätte auch was anderes einreichen können, einen Roman oder eine Erzählung. Aber – so schreibt er in seiner Autobiografie: für ihn sei nur ein Stück in Frage gekommen. Gut, dass er's geschrieben hat. Sonst hätte es den Theatermann Miller vielleicht nie gegeben."
Regisseur Sean Turner hat den Text wiederentdeckt. Merkwürdig, dass sich außer ihm niemand sonst auf die Suche machte. Oder nichts fand. Turner wurde fündig: im Archiv der Unibibliothek in Michigan.
"Millers Agent hatte selbst nie was von dem Stück gehört. Und seine Nachlassverwalter meinten, sie hätten den Text nie gelesen. Ich wandte mich dann an Millers Alma Mater, wo man mir einige Zeit später das Originaltyposkript mit den handschriftlichen Anmerkungen überreichte."
"No Villain" – "Kein Schurke". Schon im Titel deutet sich an, worum es dem jungen Miller in dieser, wenn man so will, Keimzelle seines Oeuvre ging: um den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft und um die Qual der Wahl zwischen Selbstbehauptung und Systemtreue.
Auch wenn Ben sich am Ende auf die Seite seines jüngeren Bruders Arnold – alias Arthur Miller – schlägt und sich für Marx und die Streikenden und gegen die Familie entscheidet: deswegen ist er noch längst kein Bösewicht.
Premiere in einem berühmten Londoner Pub
Man hätte erwarten können, dass das National Theatre für diese Welturaufführung der passendere Rahmen wäre. Immerhin ist Miller dort der am zweithäufigsten inszenierte Dramatiker nach Shakespeare.
Aber: Turner wollte sich sein Fundstück von keinem Regiekollegen wegschnappen lassen. Und: für "The Old Red Lion" – einen der ältesten und traditionsreichsten Pubs Londons – spricht auch sehr viel.
Urkundlich erwähnt ist das Haus erstmals vor genau 600 Jahren. Und wer hier nicht alles schon am Tresen stand! Der Maler William Hogarth, Samuel Johnson, Charles Dickens, George Orwell und Englands Wegbereiter der amerikanischen Unabhängigkeit, Thomas Paine. Er schrieb hier 1791 sein berühmtes Pamphlet "The Rights of Man".
Kein Wunder also, dass an der Kneipenwand steht: "Hier sind Sie in guter Gesellschaft!" Und zur guten Gesellschaft gehört hier auch, was seit 30 Jahren im "Old Red Lion Theatre" geboten wird – im Stockwerk direkt über der Bar, auf einer Kleinbühne mit gerade mal 60 Sitzplätzen: anspruchsvolles Theater fernab von Kommerz und Starrummel.
Mit Miller steht jetzt auch ein Autor auf dem Spielplan, der mit den Werken der erwähnten Schreiberprominenz unter den Kneipengästen von einst bestens vertraut war, zumal mit dem, der auch hier seine Bierchen trank: Karl Marx.