Arthur Koestler: "Mit dem Rücken zur Wand. Israel im Sommer 1948. Ein Augenzeugenbericht"
Deutsche Übersetzung und Nachwort von Karin Moskon-Raschick
Mit einem Geleitwort von Gil Yaron
Elsinor-Verlag 2020, 176 Seiten, 25 Euro
Der schwierge Aufbau des Staates Israel
09:38 Minuten
Erst drei Wochen alt ist der Staat Israel, als Arthur Koestler im Juni 1948 als Korrespondent ins Land kommt. Seine jetzt auf Deutsch erschienenen Tagebuchaufzeichnungen schildern lebendig die schwierigen und entscheidenden Momente des jungen Staates.
"Nach einem holprigen Flug von Zypern aus, (...) erscheint eine gelbe Linie, wie mit einem Stift gezeichnet, zwischen Wasser und Horizont: die Küste Israels. Sie dehnt sich rasch aus und verwandelt sich in die goldenen Dünen der Bucht von Akko, die Pinienhänge des Karmel und, darüber gesprenkelt wie ein Hautausschlag, die Vororte von Haifa; die Ölraffinerien und dahinter zwei riesige Treibstofftanks, wie monströse Amphoren aus Zement."
Es ist der 4. Juni 1948. Der Schriftsteller und Journalist Arthur Koestler landet auf dem Flughafen Haifa. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Mamaine Paget, die später seine zweite Frau werden sollte. Die Visa der beiden für die Einreise in den drei Wochen jungen, neu gegründeten Staat Israel sind mit den Nummern 5 und 7 bezeichnet.
"Aber noch befindet sich alles im Zustand eines unberührten Wirrwarrs, wie am ersten Tage der Schöpfung, bevor Himmel und Erde geschieden wurden, und Beamte der Einwanderungsbehörde schweben wie auf Wolken durch das Chaos und spendieren den Passagieren Zigaretten und Brandy."
Nur wenige Stunden nach der Unabhängigkeit schon im Krieg
Der in Budapest und in Wien aufgewachsene und seit 1940 in England lebende Schriftsteller Arthur Koestler kommt nach Israel, um für den Manchester Guardian, den Figaro und die New York Herald Tribune zu berichten. Sein Thema: der – wie er ihn nennt – "Heilige Krieg" einer Koalition von sechs arabischen Staaten gegen den neugeborenen jüdischen Staat. Ägypten, Libanon, Syrien, Jordanien, Irak und Saudi-Arabien hatten Israel nur wenige Stunden nach der Erklärung seiner Unabhängigkeit am 14. Mai den Krieg erklärt.
Koestler wird aber zugleich Augenzeuge eines Staates im Aufbau. Die Gegend und die Menschen waren ihm vertraut. Denn schon 1926 war er als 20-Jähriger für einige Monate nach Palästina gekommen, hatte das Leben im Kollektiv im Kibbuz Hefziba im Norden des Landes gekostet und sich in Haifa, Tel Aviv und Jerusalem eine Weile mit Hilfsjobs und kleinen journalistischen Aufträgen über Wasser gehalten.
Anfang 1927 dann ging er nach Berlin, wo er kurz das Büro der revisionistisch-zionistischen Partei von Zeev Jabotinsky leitete. Ende 1927 schickte ihn der Ullstein-Verlag als Nahost-Korrespondent nach Jerusalem. Er blieb zwei Jahre.
Als Koestler also im Juni 1948 in Haifa landete, war es für ihn einerseits ein Wiedersehen mit einer vertrauten Landschaft und vertrauten Menschen. Andererseits aber scheinen ihm der neugeborene Staat und die neue Wirklichkeit, die er begründete, einen "traumartigen Charakter" zu haben.
"Was wir hier erleben, ist eine Art Umkehrung dessen, was in Pompeji geschah. In Pompeji wurden Schuljungen, die gerade mit ihren Murmeln spielten, urplötzlich von der Lava erstickt, und sie erstarrten zu Monumenten. (…) In diesem Land jedoch spürt jeder, dass er soeben etwas erlebt, das umgekehrt verläuft wie in Pompeji. Alle empfinden ganz deutlich, dass sie mitten in einem Lavastrom der Geschichte stecken, in dem alles, was jetzt geschieht, für die Ewigkeit bewahrt wird. Selbst die Schuljungen, die mit ihren Murmeln spielen, spüren, wie ihnen die Geister der Makkabäer über die Schulter schauen."
Keine Rückzugsmöglichkeiten für die Soldaten
Koestler beobachtet diesen Lavastrom der Geschichte von Anfang Juni bis Mitte Oktober 1948. Er beschreibt den Kampf um den Kibbuz Degania und erzählt von den beiden aus Polen eingewanderten Kibbuz-Kämpfern Shalom Hochbaum und Yehuda Sprung, die nie zuvor in einem militärischen Gefecht gewesen waren, denen es aber gelang, vier von acht syrischen Panzern "aus nächster Nähe mit primitiven, selbst gemachten Sprengstoffen und ohne jede Kampferfahrung außer Gefecht zu setzen". Hochbaum und Sprung verkörpern für Koestler auf idealtypische Weise den neuen israelischen Kampfgeist.
"Die Juden (…) verfügten nur über einen leicht zu überwachenden Küstenstreifen von knapp 160 Kilometern und über drei oder vier streng kontrollierte Flughäfen. Und schließlich bot die winzige Fläche Israels – weniger als 160 Kilometer in der Länge und zwischen 25 und 32 Kilometer in der Breite – den Juden keine Gelegenheit zur Verteidigung in der Tiefe und keine Möglichkeit zum Rückzug. Sie mussten mit dem Rücken zur Wand kämpfen – und genau deshalb haben sie den Krieg gewonnen."
Hier trifft Koestler einen neuralgischen Punkt: Die israelischen Soldaten haben – anders als die Soldaten der arabischen Koalition – keine Räume, in die hinein sie ausweichen können. Nicht geografisch, nicht politisch, aber auch nicht mental. Sie kämpfen mit dem Rücken zum Meer, mit dem Rücken zum britischen Mandat, mit dem Rücken zur Schoah. Beseelt und beflügelt von der Ausrufung ihres eigenen souveränen Staates am 14. Mai 1948 durch David Ben-Gurion.
Hier trifft Koestler einen neuralgischen Punkt: Die israelischen Soldaten haben – anders als die Soldaten der arabischen Koalition – keine Räume, in die hinein sie ausweichen können. Nicht geografisch, nicht politisch, aber auch nicht mental. Sie kämpfen mit dem Rücken zum Meer, mit dem Rücken zum britischen Mandat, mit dem Rücken zur Schoah. Beseelt und beflügelt von der Ausrufung ihres eigenen souveränen Staates am 14. Mai 1948 durch David Ben-Gurion.
Als Israel nur wenige Stunden später der Krieg erklärt wird, existiert die israelische Armee formal noch gar nicht. Erst zwölf Tage später wird sie gegründet und formiert sich aus der paramilitärischen Haganah und den militanten Gruppierungen von Irgun und Lehi.
"Die Soldaten (…) kämpfen wie die Teufel (…). Sie sind nicht abgestumpft wie die Soldaten regulärer Armeen, deren Nörgeleien als Ausdruck von Selbstachtung und Zeichen von Zuverlässigkeit gelten. Und wenn es so etwas wie einen gerechten Krieg überhaupt geben kann, dann ist dieser Krieg Israels ein gerechter Krieg."
Koestler ist kein unparteiischer Augenzeuge. Er ist Zionist. Jedenfalls in dieser Phase seines Lebens.
Ein Talent, sich zwischen die Stühle zu setzen
Das hier vom Elsinor-Verlag herausgegebene Buch "Mit dem Rücken zur Wand. Israel im Sommer 1948" ist die deutsche Übersetzung des Mittelteils von "Promise and Fulfillment", "Versprechen und Erfüllung", einem Buch, für das sich 1949 in England kein Verlag fand und das schließlich in den USA erschien.
Was nun auf Deutsch vorliegt, sind Koestlers Tagebuchaufzeichnungen seines viereinhalbmonatigen Besuchs in Israel.
Heute, 71 Jahre nach der Veröffentlichung des englischen Originals, wird das Existenzrecht Israels in Deutschland, Europa und Nordamerika nicht nur von Menschen infrage gestellt, die sich dem extremen rechten und linken Meinungsspektrum zurechnen, sondern immer häufiger ziehen auch liberal und progressiv Denkende die Legitimität des Staates Israel infrage. Sie vergleichen Israel mit dem Apartheidstaat Südafrika oder kategorisieren die Gründung des Staates Israel als "koloniales Projekt" und transportieren damit die implizite Botschaft, Israel sei per se ein Fehler.
In diesen weit von den Verhältnissen vor Ort entfernten Debattenkontext stellt der Elsinor-Verlag nun Koestlers lebendige und engagierte Beobachtungen eines sich im Kampf neu herausbildenden Staates und einer neuen nationalen Identität.
Koestlers Blick auf die ersten Lebensmonate des Staates Israel ist eigensinnig und so gar nicht opportun. Er war begabt darin, sich zwischen die Stühle zu setzen.
Aber genau in diesem Koestler'schen Dazwischen schärft sich der Wahrnehmungssinn des Lesers.