Johannes Koll: Arthur Seyß-Inquart und die Deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden (1940-1945)
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar, Frühjahr 2015
691 Seiten, 59,90 Euro
Ein rätselhafter Schreibtischtäter
Der Österreicher Arthur Seyß-Inquart war ein überzeugter Nationalsozialist und effizienter Schreibtischtäter. Über den "Reichskommissar für die Niederlande", der 1946 hingerichtet wurde, hat Johannes Koll eine differenzierte Studie verfasst.
Während die nationalsozialistische Rassenlehre im Osten ein rücksichtsloses Vorgehen rechtfertigte, stellte sie die Besatzungspolitik in Ländern wie Norwegen und den Niederlanden vor ein Dilemma. Dort sahen sich die Deutschen mit dem Widerstand von Völkern konfrontiert, die sich dem NS-Reich eigentlich mit ähnlicher Begeisterung hätten anschließen müssen wie zuvor die Österreicher.
Deshalb lag es im Jahre 1940 nahe, mit Arthur Seyß-Inquart, 1892 in Mähren geboren, einen Mann zum Reichskommissar für die Niederlande einzusetzen, der jenen Anschluss seiner österreichischen Heimat maßgeblich mitorganisiert und sich die Wertschätzung Adolf Hitlers erworben hatte.
Er sei, so beschreibt ihn Johannes Koll, weder ein "Exzeßtäter" gewesen, noch habe er zu den "willigen Konformisten" gehört, die sich dem NS-Regime aus reinem Opportunismus angedient hätten.
"Bei Seyß-Inquart handelte es sich vielmehr um einen gebildeten, intelligenten, ideologisch vollkommen überzeugten Nationalsozialisten, der für Deutschland, die Niederlande und das restliche Kontinentaleuropa in einer nach 'völkischen' Gesichtspunkten aufgebauten 'Neuen Ordnung' das einzige zukunftsfähige Ordnungsmodell für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zwischen Kommunismus und Kapitalismus sehen wollte." (Seite 628)
Skrupellos und geschickt
Dieser Mann, 1946 als Kriegsverbrecher hingerichtet, zähle zu jenen effizienten Schreibtischtätern, ohne deren Vermittlung zwischen höchster NS-Führung und der mittleren Verwaltungsebene das Dritte Reich nicht hätte funktionieren können.
"Letztlich verweist eine Figur wie Seyß-Inquart darauf, dass ein hochkomplexes politisches System wie das NS-Regime in nicht zu unterschätzendem Maße von individuellen Funktionsträgern mitgeprägt wurde, und zwar nicht nur von Angehörigen von Reichs-, Partei-, SS- und Wehrmachtsführung, sondern auch von 'Zwischengewalten'." (Seite 16)
Als Vertreter solcher Zwischengewalten bewies er, der kein "alter Kämpfer" war und keine Hausmacht in der NS-Bewegung besaß, bemerkenswertes Geschick und auch Skrupellosigkeit.
Trat Arthur Seyß-Inquart zunächst als Verkörperung einer Politik der ausgestreckten Hand auf, mit der man die Niederländer für die nationalsozialistische Idee hatte gewinnen wollen, so betrieb er zeitgleich die Aushebelung niederländischen Rechts und die Deportation aller Juden.
Streiks und Widerstand wurden unter seiner Ägide mit drakonischen Maßnahmen und Kollektivstrafen bekämpft; eine halbe Million Niederländerinnen und Niederländer als Zwangsarbeiter nach Deutschland geschickt.
Detailliert und differenziert zeigt Johannes Kolls Studie, wie die postulierte "Lebenskameradschaft aller Völker germanischen Blutes" in ein Terrorregime mündete, in dem selbst gegen unwillige Kameraden der Hunger als Waffe und Strafmaßnahme eingesetzt wurde. Man gewinnt tiefe Einblicke in das Funktionieren des Machtapparates und seiner Funktionäre. Und dennoch bleibt ihr Protagonist rätselhaft.
"Entscheidend für Seyß-Inquarts Verständnis nationalsozialistischer Politik waren nicht politische Kategorien wie 'Staat' und 'Regierungsform', sondern ethnische Vorstellungen von 'Volk'' und 'Rasse'." (Seite 197)
Persönliche Aufzeichnung Mangelware
Da dieser Mann schon von seinen Zeitgenossen als eine schwer zu durchschauende Persönlichkeit wahrgenommen worden sei und persönliche Aufzeichnungen offenbar Mangelware sind, wird nicht klar, wie diese Vorstellungen solche Macht über ihn gewinnen und behalten konnten.
Hätte das Erscheinungsbild der obersten NS-Führung, die er persönlich kannte, ihn nicht zweifeln lassen, hätte der Widerstand der Niederländer ihn nicht eines Besseren belehren müssen? In einem Brief an Heinrich Himmler habe Seyß-Inquart einmal vom "Glücksgefühl, ein Werkzeug des Führers" sein zu dürfen, geschrieben, verrät der Historiker Johannes Koll.
Das war weniger das Lippenbekenntnis eines Opportunisten als das Credo eines Menschen, der sein gesamtes Denken und seine Überzeugungen auf Gedeih und Verderb in den Dienst einer Macht gestellt hatte, welche ihm eine Karriere ermöglichte, die in einem Rechtsstaat unmöglich gewesen wäre.