Studium mit Lernbeeinträchtigung
Zulassung auch ohne Hochschulzugangsberechtigung: Inklusives Studium an der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg bei Bremen. © Katharina Mild
Inklusive Hochschule für Kreative
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Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung ein reguläres Studium ermöglichen - das ist Neuland in Deutschland. Die Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg bei Bremen ist die erste, die diesen Schritt geht. Dass es hier und da knirscht, gehört dazu.
20 Studierende bewegen sich im Tanzsaal der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg. Ihr Dozent Hans-Joachim-Reich gibt Anweisungen. Unter den jungen Tänzern sind auch Erik Bernsen und Amelie Gerdes. Beide haben Lernbeeinträchtigungen: Erik hat eine sogenannte globale psychomotorische Entwicklungsstörung. Beeinträchtigt hat ihn vor allem, dass er acht Jahre seines Lebens nicht hören und vier Jahre nicht sehen konnte. Amelie hat Trisomie 21.
„Es war schon immer mein Wunsch, was zu tun, was mit meinen Hobbys zu tun hat, zum Beispiel Tanzen und auch Theater. Das mache ich leidenschaftlich gern. Und irgendwann ging es dann los. Dann war ich auch beim Tag der offenen Tür an der HKS in Ottersberg, habe mir das alles angeguckt und habe dann ganz fest zu meiner Mama gesagt: 'Mama, ich will das machen, das ist mein Ding'“, sagt Amelie Gerdes.
Für reguläres Studium eingeschrieben
Auch Erik Bernsen hat schon einen konkreten Plan für seine berufliche Zukunft: Er möchte im Lübecker Puppenmuseum Gäste mit einer Handpuppe durch die Ausstellungen führen, von ihm selbst entwickelt.
„Mein größter Wunsch ist, so eine Art Puppenspieler zu werden, Leute wirklich für das Puppenspiel zu begeistern und zu zeigen, dass es viel mehr gibt als nur das Kasperletheater, dass es wirklich verschiedenste Arten des Puppentheaters gibt. Und dass manche wirklich eine Kunst haben, darin, das zu machen.“
Trotz ihrer kognitiven Beeinträchtigungen sind die beiden jungen Erwachsenen für das reguläre Studium „Tanz und Theater im Sozialen“ eingeschrieben.
Möglich macht das ein Modellprojekt mit Namen ARTplus, eine Initiative des Hamburger Verbands EUCREA. Der setzt sich für neue Möglichkeiten der beruflichen Qualifizierung für Kreative mit Behinderung ein. Er finanziert sich durch öffentliche Fördergelder und mehrere Stiftungen. Mehrere Hochschulen haben ihre künstlerischen Studiengänge bereits für Menschen mit Lernschwierigkeiten geöffnet - im Rahmen eines Gaststudiums.
Die Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg bei Bremen ist die erste, die einen Schritt weitergeht. Sie ermöglicht Menschen mit Behinderung ein reguläres Bachelor-Studium. Mit einer „Begabtenprüfung“ war die Zulassung für Erik Bernsen und Amelie Gerdes auch ohne Hochschulzugangsberechtigung möglich.
Studierende nehmen Rücksicht aufeinander
Inklusion in der Hochschule heißt: Die Studierenden nehmen Rücksicht aufeinander, fragen, ob Erik und Amelie Unterstützung benötigen, ob diese oder jene Bewegung machbar ist. Und auch wenn es zwischendurch Diskussionen gibt, schaffen sie es am Ende der Stunde, gemeinsam eine Performance auf die Beine zu stellen.
Was in den künstlerischen Seminaren schon gut klappt, ist in den wissenschaftlichen Kursen noch schwieriger. Amelie Gerdes berichtet, dass ihr vor allem die Fachbegriffe Probleme bereiten.
„Die verschiedenen Wörter zu verstehen. Die Dozenten haben ja eine sehr, sehr schwierige Sprache. Die muss man ja auch verstehen, als Studentin oder als Student. Und deswegen haben wir immer so eine Person nebendran, die das in einfache Sprache halt übersetzt und auch uns über E-Mail so ein Protokoll schickt, sodass wir das auch besser verstehen.“
Künstlerische Assistenzen unterstützen
Sie meint die „künstlerischen Assistenzen“: Studierende, die jene mit Lernschwierigkeiten unterstützen, bei Unklarheiten vermitteln und in jedem Seminar Protokolle anfertigen. So können die ARTplus-Studierenden noch einmal zuhause nacharbeiten. Hanna Frank studiert an der HKS und arbeitet im Nebenjob als künstlerische Assistenz. Dass ihre Hochschule sich für Inklusion öffnet findet sie richtig und wichtig - aber: Der Anfang war anstrengend, erzählt sie. Denn eine Vorbereitung gab es kaum. Sie wünscht sich mehr Ressourcen und Unterstützung von außen.
„Ich finde, dass wir das als verhältnismäßig recht kleine Hochschule eigentlich zu 100 Prozent nicht alleine stemmen können. Also ich würde mir wünschen, dass größere und vor allen Dingen viel mehr Institutionen noch in das Projekt mit einsteigen und einfach da unterstützen und – wenn alle an einem Strang ziehen – sehe ich da eine ganz große Chance, um wirklich unsere Gesellschaft inklusiver zu gestalten.“
Ehrlich miteinander sprechen
Inklusion bedeutet Herausforderung. Unter den Studierenden gibt es zwei Monate nach Semesterbeginn die ersten Krisensitzungen. Gemeinsam wird diskutiert, wie ein Studium aussehen kann, das allen gerecht wird, niemanden unterfordert, aber auch niemanden überfordert. Hans-Joachim Reich moderiert viele dieser Krisengespräche. Der Professor für Tanz und Bewegung räumt ein, dass das inklusive Studium noch in der Entwicklung ist. Dass es knirscht, sieht er als positives Zeichen.
Es sei wichtig, „den Mut zu haben, möglichst ehrlich miteinander zu sprechen, also nicht im vermeintlichen Schongang, weil ich nicht weiß, wie kommt es beim anderen an, sondern wirklich sich zu formulieren, wie geht es mir selbst gerade in der Gruppe, was brauche ich, um gut zu studieren können, und wie lässt sich das handhaben? Das ist ein großer Schritt, diese Berührungsängste abzubauen und es anzusprechen.“
Das Projekt ARTplus läuft erst einmal bis 2023. Wie es danach weitergeht und ob die Hochschule auch zukünftig Menschen mit Lernbeeinträchtigungen ein reguläres Studium ermöglichen kann, ist noch offen. Die aktuellen ARTplus-Studierenden Erik Bernsen und Amelie Gerdes sollen aber auf jeden Fall die Möglichkeit bekommen, ihr Studium hier in Ottersberg zu beenden.