Essays von Arundhati Roy

Komplizierte Wahrheiten

06:54 Minuten
Cover des Buchs "Mein aufrüherisches Herz" von Arundhati Roy. Eine Frau steht an einer Straßenecke, drei junge Männer auf einem Motorrad fahren vorbei.
© S. Fischer Verlag

Arundhati Roy

Übersetzt von Anette Grube, Jan Wilm, Marie-Luise Bezzenberger, Helmut Dierlamm, Matthias Fienbork, Wolfram Ströle und Elvira Willems

Mein aufrührerisches HerzFischer, Frankfurt am Main 2022

624 Seiten

32,00 Euro

Von Fabian Wolff · 10.12.2022
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Sie vereinfacht nicht, sie konfrontiert: Die indische Autorin Arundhati Roy beweist sich in ihrem neuen Werk als scharfsinnige, solidarische Denkerin. Doch ihre außereuropäische Perspektive hat es schwer auf dem deutschen Buchmarkt.
Im Februar 2001, also im ganz jungen und noch fast unschuldigen 21. Jahrhundert, wunderte sich Arundhati Roy in einer Rede über die aufkommende Berufsbezeichnung “writer-activist”, mit der auch sie beschrieben wurde.
Autorin, so stellte sie fest, war sie wegen ihres umjubelten ersten Romans „Der Gott der kleinen Dinge“, der 20 Jahre lang auch ihr einziger bleiben sollte. Als Aktivistin hingegen galt sie wegen einer Reihe politischer Essays, in denen sie die indische Wirtschafts- und Strukturpolitik scharf angriff.
Beinahe prophetisch sagte sie damals: “ich liebe die Frage ohne Antwort, die Geschichte ohne Auflösung, die weiche Scherbe eines unvollendeten Traums. Aber ich glaube, dass sich Intellektuelle und Künstler in Indien für eine Seite entscheiden müssen."

Moral und menschliches Leid

“Mein aufrührerisches Herz” ist eine Sammlung von Essays, in denen sich Roy in der Tat immer wieder für eine Seite entscheidet, nachdem sie sich selbst und die Welt in Interventionen und Analysen mit komplizierten Wahrheiten konfrontiert hat.
Die Texte durchspannen die Jahre 1998 bis 2018 – also den Zeitraum zwischen ihrem Debüt, das 1997 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, und dem Zweitwerk “Das Ministerium des äußersten Glücks“.
Die Essays sind für die indische Zeitschrift „Outlook“, westliche Medien und anlässlich von Konferenzen entstanden. Trotz dieser unterschiedlichen Plattformen und Kontexte bleibt Roys Tonfall konstant. Statt unverbindlicher Skepsis oder gefährlichem Kitsch sucht sie eine eigene Position, von der aus sie in der Lage ist, Fragen der Moral und menschlichen Leidens zu zentrieren, und trotzdem Pathos mit Sarkasmus zu begegnen.

Die politische Entwicklung Indiens

Konkret drehen sich die Texte um Geopolitik in den Terrorjahren und die politische Entwicklung in Indien, das Ende der 1990er noch für sich in Anspruch nehmen konnte, die größte Demokratie der Welt zu sein. Seitdem hat sich das Land zu einem vom Hindutva geprägten Proto-Faschismus entwickelt.
Die bereits 2019 erschienene Originalfassung des Buches macht diese Entwicklung auf fast tausend Seiten nachvollziehbar. Die deutsche Ausgabe, obwohl selbst über 600 Seiten stark, präsentiert ohne Erklärung lediglich eine Auswahl und verzichtet vor allem auf einige vermeintlich allzu innerindische Texte, darunter auch jener eingangs zitierte.
Das wird Roy und ihren Anliegen nicht gerecht. Es beweist aber einmal mehr die Schwierigkeit, gerade in Deutschland genuin außereuropäische Perspektiven stattfinden zu lassen.

Keine Erklärerin für den Westen

Denn Roy ist keine Lautsprecherin und auch keine Erklärerin für den Westen, ihr Ansinnen ist ein politisches Programm vor Ort. Diese Dimension taucht in der deutschen Fassung in den Hintergrund, beim Titel beginnend: “Mein aufrührerisches Herz” klingt nach Gefühlswiderstand. Doch die ursprüngliche “sedition” ist mehr als nur emotionaler Aufruhr: Es ist der Straftatbestand der Volksverhetzung, für den Roy 2010 fast verhaftet wurde, weil sie sich für die Unabhängigkeit Kashmirs einsetzt.
Roy zeigt auf, und das spricht zum Glück auch aus der nicht immer schlüssigen Auswahl der deutschen Fassung, wie globalpolitische Solidarität aussehen kann, die prinzipienfest, aber nicht doktrinär, die an Grundwerten wie Freiheit und Gerechtigkeit orientiert ist, ohne sich selbst Sand in die Augen zu streuen. Das gilt für Roys Haltung zur Situation im Nahen Osten ebenso wie zum  Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Kosmopolitisch denken und lesen

Frustrierend dabei ist allein, in welch streng eingegrenzten Diskursraum Roy in Deutschland damit stößt. Es ist ja obszön, überhaupt auf die globale Bedeutung der politischen Entwicklungen in einem ganzen Subkontinent hinweisen zu müssen.
Ohne an westliches Mitleid zu appellieren oder Spezifität zu opfern, beschreibt Roy in ihren Texten Indien als Teil eines globalen und globalisierten Trends hin zu Unfreiheit und Zerstörung.
Einem kosmopolitisch denkenden und lesenden Publikum wäre die volle Detailmenge dieser Beschreibung nicht nur zuzumuten, sondern zu wünschen gewesen. So kann die Frage entstehen, woher der ganze Aufruhr eigentlich rührt.
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