Åsa Wikforss: "Hörensagen. Wahrheitsfindung in einer faktenfeindlichen Welt"
Aus dem Schwedischen von Hanna Granz und Susanne Dahmann
HarperCollins, Hamburg 2021
304 Seiten, 18 Euro
Wie hältst Du es mit der Wirklichkeit?
05:20 Minuten
Die schwedische Philosophin Åsa Wikforss beschreibt in ihrem Buch „Hörensagen“ die Herausforderungen, in einer zunehmend faktenfeindlichen Welt weiterhin auf der Möglichkeit der Wahrheitsfindung zu bestehen.
Wie lässt sich in einer faktenfeindlichen Welt bestehen, in der - anders als in früheren Zeiten - der Rückzug ins Eremiten- und Privatgelehrten-Dasein keine wirkliche Option darstellt? Åsa Wikforss, Professorin für Theoretische Philosophie an der Universität von Stockholm, hält sich in ihrem Buch "Hörensagen" nicht lang mit jenem gängigen Lamento auf, das sich allzu häufig im wiederholten Beschreiben des ohnehin Bekannten erschöpft.
Ja, Trumps Sprecherin hatte den Begriff der "alternativen Fakten" in die Welt gebracht, ihr Herr und Meister log und verfälschte Realität, sobald er den Mund aufmachte - und von Wladimir Putin bis hinunter zu den unbekanntesten Twitter- und Facebook-Trollen wird bis zum heutigen Tag bewiesen, dass, frei nach Orwell, zwei mal zwei keineswegs vier sein muss. So weit, so schlecht.
Überzeugung, Auffassung oder Beurteilung?
Åsa Wikforss ist eher an den Denkstrukturen der Konsumenten, also von uns, interessiert. Was, so fragt sie und antwortet anhand konkreter Fallbeispiele, unterscheidet etwa Überzeugung von Auffassung oder Beurteilung? Mitnichten ist dies ein linguistisches Glasperlenspiel, sondern der Versuch, sich mittels vorheriger konziser Begriffsklärung vor der Überwältigung durch Halbwahrheiten zu wappnen.
Denn: "Wissen ist nicht dasselbe wie Überzeugungen, so stark diese auch sein mögen. Die Überzeugung muss auf irgendeiner Form von guten Gründen oder Evidenz basieren. Wer richtig rät, hat noch lange kein Wissen. Dass eine Behauptung objektiv wahr ist, bedeutet, dass ihre Wahrheit nicht von unseren Überzeugungen abhängt."
Was aber, wenn wir zwar penibel Quellenkritik betreiben, uns vor Scharlatanen, Fake News und rhetorischen Übertreibungen so gut wie möglich zu schützen versuchen - unsere Wahrnehmung von Fakten aber dennoch gerahmt bleibt von unseren Überzeugungen, Vorlieben und Phobien? Darauf hat auch Åsa Wikforss, deren Buch in Schweden kostenlos an alle Abschlussklassen verteilt wird, letztlich keine Antwort.
Oder vielleicht doch: Indem wir Teile unseres Unbewussten auf just diese Weise analysieren und verbalisieren und dabei die eigenen blinden Flecken (und nicht allein diejenigen des politischen Gegners) zu entdecken beginnen, ergibt sich bereits die Chance, klarer und fairer zu gewichten und dem Kuddelmuddel aus Gefühligkeit und "mal so eben Angedachten" zu entkommen.
Kritik der Postmoderne
Vermutlich wird sich die Mehrheit der Leserschaft auf dieses Rezept - das übrigens nicht vorgibt, die Patentlösung zu präsentieren - mehr oder minder mühelos einigen können. Bei Wikforss´ Skepsis gegenüber gewissen Dogmen der akademischen Linken dürfte das freilich schon anders sein.
Wenngleich sie hier wohl mitunter ein wenig überzeichnet oder verkürzt, diskutierbar sind ihre Nachfragen auf jeden Fall. Wenn nämlich postmoderne Denker wie Foucault, Derrida oder Lyotard behaupteten, es gäbe keine objektive Wahrheit und alles sei nur eine Frage der Perspektive - weshalb sollte dann Donald Trumps "Perspektive" falsch gewesen sein?
Der postmoderne Ansatz, so erfrischend und emanzipatorisch er einst auch gewesen sein mag, ist nun in den Händen von Zynikern und Rechtsextremisten. Wobei - diese zusätzliche Spitze kann sich die Autorin nicht verkneifen - der Postmodernismus in der Philosophie ohnehin nie eine zentrale Rolle gespielt habe, da man sich dort weiterhin vor allem mit analytischer, politischer, Sprach- und Erkenntnistheorie beschäftige.
Umso erfolgreicher sei, mit fragwürdigen Folgen, der postmoderne Slang in die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften eingewandert. Selbst Mutter zweier Töchter, misstraut sie deshalb auch jener in die Schulen hineingetragenen "konstruktivistischen Pädagogik", die davon ausgeht, dass Faktenwissen unbedingt von "Verständnis, Dialog, Diskussion" eingehegt sein muss.
Sympathisch die Intention, fatal die Folgen
So nachvollziehbar und sympathisch die Intention, so fatal die Folgen. In Frankreich, wo einst eine Kommission unter der Teilnahme von Jacques Derrida den Impuls für die neuen Lehrmethoden gegeben hatte, ist die überprüfbare Leistungfähigkeit der Schüler ebenso gesunken wie in Schweden, wo man ähnlich verfuhr. Um nämlich nicht vor jedem Faktenwissen automatisch in Habacht-Stellung zu gehen, braucht es Einordnungskompetenz, und diese wiederum speist sich aus - Faktenwissen.
Ein radikal schülerzentriertes Lernen mit einer Vielzahl autonomer Praktika helfe also, entgegen dem progressiven Grundimpuls, mitnichten den Schülern aus migrantischen und/oder bildungsfernen Schichten, sondern lasse sie noch mehr allein. Profitieren, so die Autorin, würden von jenem expertenskeptischen "Do it yourself" lediglich Kinder und Jugendliche, die bereits aus wohlhabenden Bücher-Haushalten stammen, ganz zu schweigen von jenen rhetorisch übergriffigen Jung-Fanatikern, die seit jeher glauben, die Welt existiere einzig und allein in ihrer Sicht auf diese.
Möge dieses in ruhigem Ton geschriebene und dabei stringent argumentierende Buch auch in Deutschland eine Diskussion entfachen.